Wende oder Ende
Buchkritik
Die Menschheit steht vor großen umweltpolitischen Herausforderungen. Gelingt es, gegen den Widerstand mächtiger Akteure eine effiziente Energiepolitik zu etablieren, die auf regenerative Energiequellen setzt? Vier Neuerscheinungen zeigen das Spektrum der Meinungen zwischen „Nie wieder“ und „Weiter so“.
Mit den Worten „Nie wieder!“ beginnt das Vorwort der April-Ausgabe 2006 „Tschernobyl – Vermächtnis und Verpflichtung“ der Zeitschrift osteuropa zum 20. Jahrestag der Reaktorkatastrophe in der Nacht vom 26. auf den 27. April 1986. Für die Bevölkerung der radioaktiv kontaminierten Regionen in Russland, Weißrussland und der Ukraine bedeutete die Parole „Nie Wieder!“ jedoch nicht nur die Verpflichtung zur Vermeidung eines weiteren derartigen Desasters, sondern auch ein absolutes Gebot für ihren Alltag: „Nie wieder diese Wiese betreten, nie wieder diesen Wald durchstreifen, nie wieder diesen Acker bestellen zu dürfen“ – auf einer Fläche von 150 000 km2, in der zum Zeitpunkt der Katastrophe über sieben Millionen Menschen ihr Zuhause hatten. Neben einem Rückblick auf das Ereignis und den Umgang mit den Auswirkungen des GAUs skizziert der Band die aktuelle Debatte über die weitere Nutzung der Atomenergie sowie mögliche energiepolitische Alternativen.
Wer sich etwa über den gegenwärtig diskutierten Ausbau der Kernenergie aus vermeintlichen Klimaschutzgründen interessiert, dem sind vor allem die beiden Artikel von Lutz Mez „Auslaufmodell? Die Zukunft der Atomenergie in der EU“ und Felix Christian Matthes „Atomenergie und Klimawandel – Eine Risikoabwägung“ zu empfehlen. Lutz Mez (FU Berlin) stellt die These einer vermeintlichen Renaissance der Atomkraft auf den Prüfstand, die gegenwärtig vor allem von Vertretern der Atomwirtschaft aufgestellt wird. Mez zufolge müssen die offiziellen Zahlen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), nach denen sich weltweit 25 Kraftwerke „im Bau“ befinden (Stand: März 2006), relativiert werden. Denn allein neun der genannten Projekte haben diesen Status schon seit mindestens 19 Jahren. Auf die USA und Westeuropa entfiel 2005 nur ein einziges Bauvorhaben. Die Befürchtungen, eine Stilllegung von AKWs in Deutschland könnte mit importierter Atomenergie aus Osteuropa ausgeglichen werden, teilt Mez nicht. Ganz im Gegenteil sei aufgrund verschiedener ökonomischer wie sicherheitstechnischer Probleme in Osteuropa „eher mit einem Rückgang der Atomstromproduktion zu rechnen“.
Mit dem Argument, der Ausbau der Atomenergie stelle gleichsam eine Klimaschutzmaßnahme dar, setzt sich Felix Christian Matthes (Öko-Institut, Berlin) auseinander. Für einen solchen Ausbau, so Matthes, seien große Kraftwerkseinheiten in Verbindung mit zentralen Netzstrukturen nötig, was zu einer geringen Flexibilität der Stromerzeugung führe. Angesichts des notwendigen Ausbaus der erneuerbaren Energien, der mit einer höheren Flexibilität und Dezentralisierung bei der Erzeugung einhergehe, seien hier Konflikte unausweichlich. Für die Minderung des Treibhausgasausstoßes aber ist laut Matthes die Umwandlung der Energiewirtschaft hin zu einem dezentralen System, das einerseits auf einen Brennstoffwechsel, andererseits auf mehr Effizienz setzen müsse, unabdingbar. Zudem weise „keine andere Minderungsoption solche Risiken für Gesundheit, Ökosysteme, soziale und wirtschaftliche Systeme auf, wie sie für die Atomenergie unterstellt werden müssen“.
Themen wie Ressourcenproduktivität und Energiepolitik stehen auch im Fokus der aktuellen Ausgabe des „Jahrbuch Ökologie“. In ihrem Beitrag „Das Stichwort der Zukunft: Ressourcenproduktivität“ beschäftigen sich Christa Liedtke und Claudia Kaiser mit dem Problem des steigenden Rohstoffbedarfs bei gleichzeitiger Begrenztheit der Ressourcen und ungerechter Verteilung. So stellen die Industrieländer einen Anteil von 20 Prozent an der Weltbevölkerung, verbrauchen allerdings 80 Prozent der global genutzten Ressourcen. Plädiert wird von den beiden Autorinnen für „eine breit akzeptierte Ressourcenethik, die maßvollen und nicht Massenkonsum begründet“.
Wie bereits heute die Umstellung ganzer Dörfer auf regenerative Energiequellen möglich ist, erläutert Perter Schmuck am Beispiel von Jühnde in Niedersachsen. Dieses Bioenergiedorf wird mit Biomasse in kombinierter Strom- und Wärmeproduktion (KWK) versorgt. Neben der Einspeisung der Elektrizität in das Stromnetz wird die produzierte Wärme in ein Nahwärmenetz geleitet, an das rund 70 Prozent aller Haushalte angeschlossen sind.
Eine breite Diskussion über anstehende energiepolitische Entscheidungen zu befördern, ist laut Vorwort das Ziel des von Jürgen Petermann herausgegebenen und vom Energiekonzern RWE gesponserten Buches „Sichere Energie im 21. Jahrhundert“. Der Band versammelt insgesamt 39 Artikel von Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten und Lobbyisten, die unterschiedliche energiepolitische Standpunkte vertreten. Dass die bislang eher restriktive Rolle der Energiewirtschaft für den notwendigen ökologischen Wandel weitgehend ausgeklammert wird, überrascht angesichts der Unterstützung von RWE nicht – von allen Energieversorgern der größte Kohlendioxid-Emittent der EU1. Nur Gerd Rosenkranz von der Deutschen Umwelthilfe macht das in seinem Beitrag „Die Fronten im Energiestreit – Trägheit der Systeme“ in wenigen Sätzen zum Thema, und der Text „Feldzug gegen die Verschwendung“ von Matthias Urbach (taz) streift kurz die Rolle der Energieversorgungsunternehmen bei der Ausgestaltung des Emissionshandels.
Zwar gehen die Autoren ausführlich auf klimatische Veränderungen durch verstärkten Treibhausgasausstoß ein. Verantwortlich hierfür sind laut Jürgen Petermann „die Bewohner der westlichen Welt“ (S. 15). Konkrete Analysen zu den energiepolitischen Verantwortlichkeiten bleiben aus. Aber wer könnte denn zuständig sein für den Betrieb veralteter Braunkohlekraftwerke und AKWs? Wer bezuschusst energieverschwenderische Nachtspeicherheizungen mit besonders günstigen Stromtarifen? Wer setzt auch bei Neuinvestitionen vor allem auf den besonders CO2-haltigen Energieträger Kohle? Die Antwort lautet: zum Beispiel RWE – der Sponsor dieses Buches. Das soll nicht bedeuten, dass die Autorengruppe mit Kohlelobbyisten nur so gespickt wäre. Der Großteil der Beiträge ist fachlich über jeden Zweifel erhaben, und auch stärker ökologisch orientierte Autoren fehlen nicht. Ins Auge fällt dann aber etwa ein Beitrag von Wolfgang Reichel, bis vor wenigen Monaten noch Vorstandsmitglied des Gesamtverbands des deutschen Steinkohlenbergbaus (GVSt). Der Verband besteht im Wesentlichen aus dem Mischkonzern RAG – Anteilseigner mit knapp über 30 Prozent: RWE. Von Reichel stammt der Artikel „Kohle auch in Zukunft unverzichtbar“, in dem er diesen Energieträger völlig undifferenziert lobt. Unter anderem preist er „aus Umweltsicht“ die „spezifischen Stärken“ der Kohle gegenüber den Regenerativen (S. 158) – die landschaftszerstörerische Realität des Braunkohletagebaus sieht anders aus.
Ist Wolfgang Reichel dem „business as usual“ verpflichtet, so ist es das erklärte Ziel des renommierten US-Ökologen Lester R. Brown, diesen – wie er es nennt – „Plan A“ durch eine neue Strategie abzulösen. „Plan B 2.0 – Mobilmachung zur Rettung der Zivilisation“ lautet der deutsche Titel von Browns im Vorjahr auf Englisch erschienenen Plädoyer. Kernstück von Browns „ökologischer Revolution“ ist eine Reform der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im ökologischen Sinne. Zur „Rettung der Zivilisation“ schweben Brown eine Art ökologische Steuerreform, der Abbau von Subventionen für ökologisch schädliche Produkte, ein Engagement der Verbraucher anhand von Ökosiegeln oder auch ordnungspolitische Instrumente wie Verbote vor.
Allerdings sind doch erhebliche Zweifel an der Praktikabilität seiner Vorstellungen angebracht. So endet das Buch mit einem Aufruf, für entsprechende umweltpolitische Reformen an die Politik zu appellieren. Appelle jedoch, das zeigt die Praxis, sind in der Regel ungeeignet, um umfassende politische Veränderungen herbeizuführen. Bei den Akteuren, die durchaus gut daran verdienen, Umweltzerstörung, Klimawandel oder Hungersnöte zumindest billigend in Kauf zu nehmen, handelt es sich in der Regel um transnationale Konzerne. Sie verfügen über Konfliktfähigkeit, sind also in der Lage, Gesellschaften oder Staaten wichtige Ressourcen, etwa Investitionen und Arbeitsplätze, zu entziehen.2 Sie können Finanzmärkte destabilisieren oder Medienkampagnen für ihre Interessen starten. Hinzu kommt eine oftmals enge Verflechtung mit der Politik. So mancher der Politiker, an die Brown appellieren will, arbeitet im Laufe seiner Karriere für einen Konzern, sitzt im Aufsichts- oder Beirat eines Konzerns oder erhält Parteispenden. Der politische Prozess spielt sich mittlerweile nur noch teilweise im offiziellen Rahmen ab. Er wird immer mehr durch eine so genannte „Verhandlungsdemokratie“ abgelöst, in der Spitzenbeamte und Politiker mit wenigen demokratisch nicht legitimierten Akteuren wie großen Konzernen wichtige Vorabsprachen treffen – wenn nicht sogar die eigentlichen Entscheidungen fällen.3 So bleibt das Problem, die vielen Ideen zu umwelt- wie energiepolitischen Reformen auch umzusetzen, ungelöst. Immerhin können wir uns auf eines mit Sicherheit verlassen: auf weitere Bücher zu diesem Thema.
Astrid Sahm, Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hrsg.): April-Ausgabe von osteuropa: Tschernobyl: Vermächtnis und Verpflichtung. Berlin: BVW 2006, 272 Seiten, € 15,00.
Günter Altner, Heike Leitschuh-Fecht, Gerd Michelsen, Udo E. Simonis (Hrsg): Jahrbuch Ökologie 2007. München: Beck’sche Reihe 2006, 288 Seiten, € 14,90.
Jürgen Petermann (Hrsg.): Sichere Energie im 21. Jahrhundert. Hamburg: Hoffmann und Campe 2006, 408 Seiten, € 25,00.
Lester R. Brown: Plan B 2.0 – Mobilmachung zur Rettung der Zivilisation Berlin: Kai Homilius Verlag 2007, 384 Seiten, € 19,90.
Prof. Danyel Reiche ist Visiting Assistant Professor for Energy and International Affairs an der Georgetown University, Washington DC.
Matthias Corbach ist Doktorand an der Forschungsstelle für Umweltpolitik (FFU) der Freien Universität Berlin.
Internationale Politik 2, Februar 2007, S. 128 - 131.