Titelthema

27. Febr. 2023

Waffenschmieden auf Talentsuche

Bis zu Russlands Überfall auf die Ukraine war Deutschlands Rüstungsindustrie eine schrumpfende Branche, die sich immer stärker auf den Export verlegte. Jetzt müssen die Unternehmen umsteuern – und sie benötigen dringend neues Personal.

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Bild: Fertigung eines U-Bots in der Thyssen-Krupp-Werft (TKMS) in Kiel
Auf einer Erfolgswelle: Die TKMS-Werft in Kiel ist bereits durch Aufträge aus Israel, Ägypten und Norwegen auf Jahre ausgelastet. Jetzt hat sich die Nachfrage noch einmal drastisch erhöht, auch dank der Zeitenwende.
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Wie auf den Verteidigungssektor insgesamt, so hat Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine auch erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Rüstungsindustrie. Die Unternehmen erleben eine steigende Nachfrage nach ihren Gütern und müssen nach einer über Jahre währenden Schrumpfung ihre Kapazitäten ausbauen.

Zwar hat die Bundesregierung selbst bisher in einem überschaubaren Umfang Aufträge zur Aufrüsung der Bundeswehr vergeben, doch haben gerade die Osteuropäer, die Skandinavier und die Briten in erheblichem Umfang Munition und Gerätschaften bei den deutschen Herstellern bestellt. Auch die Ukraine rückt in den Kreis der größeren Kunden.



Deutschland belegt nach Berechnung des Friedensforschungsinstituts SIPRI von jeher nach den USA und Russland einen der führenden Plätze unter den Exporteuren von Waffensystemen, wodurch die Hersteller einen Teil der geringeren Nachfrage aus Deutschland ausgeglichen haben. Allerdings hat sich schon die letzte Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel bemüht, die Verkäufe ins Ausland zurückzufahren. Im Kabinett von Olaf ­Scholz dringen die Grünen auf strengere Exportrichtlinien, auch wenn sie Verkäufe ins Ausland nicht ganz unterbinden wollen. Ohne den Ukraine-Krieg würde der Export allerdings erwartbar sinken.



Schleichender Abgang

Als Reaktion auf diese Verschärfungen haben Unternehmen wie Rheinmetall Produktionskapazitäten ins Ausland verlagert oder ganz neue Werke jenseits der deutschen Grenzen aufgebaut, zumindest bis zum 24. Februar des vergangenen Jahres. Auf diesem Weg wollten sie der deutschen Ausfuhrpraxis entgehen, die sich mit der Regierungsbeteiligung der Grünen zu verschärfen drohte. Das Münchner Unternehmen Krauss-Maffei-Wegmann (KMW), Hersteller des Kampfpanzers Leopard 2, schloss sich vor diesem Hintergrund sogar mit dem französischen Konkurrenten Nexter zu KNDS zusammen. Und das Industriekonglomerat Thyssenkrupp stellte seine auf die Fertigung von Unterseebooten sowie Fregatten und Korvetten spezialisierte Werftentochter Thyssenkrupp Marine Systems (TKMS) zum Verkauf.



Dieser schleichende Abgang hatte auch Einfluss auf die Beschäftigungslage der deutschen Waffenindustrie. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft sank die Zahl der Mitarbeiter von 2015 bis zum Jahr 2020 von 56 598 auf 55 535. Der Rückgang erscheint überschaubar, allerdings haben sich die weltweiten Verteidigungsausgaben nach Angaben von Statista im gleichen Zeitraum um rund 10 Prozent auf 1,96 Billionen Dollar erhöht. Da in diesen Zahlen auch die Aufwendungen für den Unterhalt der Streitkräfte eingeschlossen sind, geben sie die Tendenz gut wieder. Für den deutschen Markt hätte sich der Rückgang der Beschäftigung nach Einschätzung von Managern aus der Verteidigungsindustrie fortgesetzt, hätte Russland nicht seinen westlichen Nachbarn überfallen.



Der Ukraine-Krieg ist in vielfacher Hinsicht ein Wendepunkt. In dieser Umgebung müssen die Unternehmen ihre Strategien anpassen, teils mit Ad-hoc-Entscheidungen. Als etwa die Schweiz die Weitergabe von Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard an die Ukraine untersagte, da dies gegen das eigene Verständnis von Neutralität verstoßen hätte, steuerte Rheinmetall um. Der Düsseldorfer Ausrüster für Landstreitkräfte betreibt ein Werk in der Schweiz, in dem die Gepard-Munition produziert wird. Für die Verteidigung ihres Luftraums ist die Ukraine zwingend auf Flugabwehrsysteme angewiesen. Die von Deutschland gelieferten Gepard-Panzer nehmen dabei eine wichtige Rolle ein, dafür allerdings ist eine ausreichende Ausstattung mit Munition notwendig. Da die Regierung in Bern sich quergestellt hat, verlagert Rheinmetall die Fertigung nach Deutschland. Derzeit wird nach Firmenangaben eine neue Produktionslinie errichtet, die noch in diesem Jahr in Betrieb gehen soll. Die Fabrik in der Schweiz wird im Gegenzug faktisch dichtgemacht.



Weit hinter anderen Industriezweigen

Auch wenn die Waffenindustrie zentral für die Fähigkeit ist, das eigene Land zu verteidigen, spielt sie rein von den Zahlen her in Deutschland keine führende Rolle. Auch bei der Anzahl der Mitarbeitenden rangiert die Branche weit hinter anderen Industriezweigen. Die Automobilbranche etwa beschäftigte im Jahr 2021 nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums 786 000 Menschen.



Nach dem Ende des Kalten Krieges reduzierten wechselnde Bundesregierungen den Bestand an militärischem Gerät Stück für Stück, da von Russland keine Gefahr mehr auszugehen schien. Von einst über 2000 Kampfpanzern vom Typ Leopard 2 befinden sich heute kaum mehr als 300 im Bestand der Bundeswehr. Selbst der erste Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2014 führte zu keinem Umsteuern.



Ohne wesentliche Aufträge von der Bundeswehr gewann der Export von Waffensystemen an Bedeutung. Da andere Nationen gerade Großaufträge an die Auflage knüpfen, dass ein Teil der Arbeiten in ihrem Land geleistet werden muss, verlagerten einige Unternehmen Fertigungen ins Ausland. Der Werftenverbund TKMS etwa erwarb Standorte in Griechenland und Schweden, um dort Schiffe und U-Boote zu bauen. Rheinmetall und Mercedes errichteten Werke in Algerien für die Produktion von gepanzerten Fahrzeugen. Über diese Neu-Standorte konnten die Unternehmen sich zudem den im Vergleich strikteren Exportrichtlinien Deutschlands entziehen, sofern der Bund keine Rechte oder Patente an den Produkten hielt; die Entscheidung über solche Exporte liegt bei Berlin.



Trend zum Digitalen

Mitten in diese Phase, in der die Wehrindustrie ihre Kapazitäten ins Ausland verlagerte, fiel die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende. Neben dem für neue Rüstungsvorhaben vorgesehenen Sondervermögen von 100 Milliarden Euro strebt die Bundesregierung eine Erhöhung des Rüstungsetats auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an. Derzeit wird diese Marke noch deutlich untertroffen.



Mit dem Sondervermögen soll die Ausrüstung der Bundeswehr erneuert und ergänzt werden. Auch wenn erst ein überschaubarer Betrag bei den deutschen Herstellern angekommen ist und der Großteil der Investitionen wegen der komplexen Beschaffungsprozesse wohl auf sich wird warten lassen, so ist den Verantwortlichen in den Firmen bewusst, dass sie neue Beschäftigte einstellen müssen. Die Personalberatung Heinrich und Coll rechnet für das laufende Jahr mit größeren Personalankündigungen.



Konkrete Schätzungen für die Industrie gibt es nicht; auch der Bundesverband der Deutschen Sicherheit- und Verteidigungsindustrie (BDSV) hat dazu keine Umfragen gemacht. Einzelne Unternehmen haben indes ihren Bedarf auf Anfrage beziffert. Der Flugzeughersteller Airbus hatte für das vergangene Jahr einen zusätzlichen Mitarbeiterbedarf von 500 bis 600 Menschen angekündigt, im laufenden Jahr dürfte sich der Trend fortsetzen.

Der deutsch-französische Gemeinschaftskonzern sucht primär im Ingenieur­bereich, allerdings sind auch digitale Profile wie Programmierer und IT-Sicherheitsexperten gefragt. Bevor die Neuen richtig einsteigen können, braucht es nach Airbus-Angaben eine Einarbeitungszeit – etwa für spezielle Sicherheits- und Ausbildungstrainings – von einem halben Jahr.



Gerade diese IT-Berufe sind für die Branche entscheidend geworden, da die Waffensysteme in wachsendem Maße digital werden. Dieser Trend wird sich fortsetzen: Airbus entwickelt im Auftrag von Deutschland und Frankreich zusammen mit dem Software-Entwicklungsunternehmen Dassault die nächste Generation an Kampfflugzeugen. Das Programm trägt den Namen „Future Combat Air System“ (FCAS) und sieht die Fertigung eines Flugzeugs vor, das mit anderen Fliegern sowie land- und seegestützten Kampfeinheiten vernetzt operiert. Die Technologien dafür müssen noch entwickelt werden.



Der Trend zum Digitalen prägt auch die Einstellungslisten anderer Rüstungsfirmen. Der börsennotierte Radar- und Sensorspezialist Hensoldt bereitet sich auf zusätzliche Aufträge vor und sucht nach der Neueinstellung von 200 Mitarbeitern im vergangenen Jahr in diesem weitere 200 Beschäftigte. Zuletzt arbeiteten für das Unternehmen rund 6500 Menschen. Die frühere Airbus-Tochter stellt vor allem Ingenieure mit einem Schwerpunkt in System- oder Softwareengineering ein.



Der Bedarf dürfte aber auch in der Produktion erheblich steigen, da für den geplanten Aufbau einer europäischen Luftverteidigung einige Tausend Radaranlagen benötigt werden. Um diesen Bedarf bedienen zu können, müsste Hensoldt seine Kapazitäten vervielfachen.



Der Markt wächst

Einstellungsbedarf sieht auch der Vorstandschef von TKMS, Oliver Burkhard. Nachdem die Thyssenkrupp-Tochter im vergangenen Jahr den Plan für ihre neuen Stellen um rund ein Viertel auf 540 zusätzliche Arbeitsplätze erhöht hatte, rechnet Burkhard für das laufende Jahr mit einem weiteren Zubau. Die Werft ist bereits durch Aufträge etwa aus Israel, Ägypten und Norwegen auf Jahre ausgelastet, allerdings hat sich die Nachfrage drastisch erhöht. „Der für uns adressierbare Markt hat sich für dieses Jahrzehnt auf 30 Milliarden Euro verdreifacht“, sagt Burkhard. Er zielt dabei auf das Segment U-Boote.



Gesucht werden vor allem Ingenieure in den Sektoren Schiffbau, Elektrik und Mechanik, aber auch Fachleute für die Serviceeinheit, in der unter anderem U-Boote und Schiffe der deutschen Marine gewartet werden. Zuletzt waren an den deutschen Standorten, zu denen neben Kiel auch Bremen und Hamburg zählen, über 200 Neu- und Ersatzpositionen ausgeschrieben.



Am Beispiel TKMS zeigt sich eine Besonderheit der Branche. Anders als ­Automobile oder Maschinen sind U-Boote Einzelanfertigungen. In der TKMS-Werft in Kiel werden zwar mehrere Einheiten parallel gebaut, aber jede hat ihre eigens auf den Kunden zugeschnittenen Spezifika. Dabei sind die Sicherheitsanforderungen an das Wasserfahrzeug erheblich höher. Bleibt ein Auto oder eine Maschine stehen, dann ist das ärgerlich, aber meist keine Gefahr für das Leben. Fehler in der Konstruktion eines U-Bootes können tödlich sein.



Und so besteht hier bei der Schulung der Belegschaft eine besondere Sorgfaltspflicht. Bevor ein Werftmitarbeiter bei TKMS eine Schweißnaht setzen darf, vergehen mehrere Jahre. Erfahrung ist entscheidend. Dies gilt auch bei der Produktion von Panzern. Da ihre Fahrgestelle Beschuss und Minenexplosionen widerstehen müssen, sind hier die Stahllegierungen härter als bei zivilen Produkten. Die Schweißarbeiten sind daher besonders herausfordernd. Die dafür ausgebildeten Fachkräfte lassen die Hersteller Krauss-Maffei Wegmann (KMW) und Rheinmetall selbst in Zeiten einer schwachen Auslastung ihrer Werke nicht ziehen.



Stabile Stammbelegschaften

Überhaupt sind Programme für den Abbau von Arbeitsplätzen sehr selten in der Rüstungsindustrie. In den vergangenen Jahren hatten die Unternehmen über eine natürliche Fluktuation die Anzahl ihrer Arbeitsplätze reduziert. Die Stammbelegschaften bleiben in der Regel stabil. Einer Umfrage unter Führungskräften zufolge wechseln die Arbeiternehmer vergleichsweise selten ihren Arbeitgeber.



Dazu beitragen dürfte die Tatsache, dass die Rüstungsindustrie aufgrund der deutschen Geschichte in großen Teilen der Bevölkerung ein negatives Image hat. Das Anwerben von Talenten gilt in der Branche als schwierig – auch wegen moralischer Bedenken: „Sie wollen Bekannten und Nachbarn nicht erzählen, dass sie Panzer zusammenbauen“, sagt Eva Brückner, die für die Beratung Heinrich und Coll Manager in der Rüstungsindustrie rekrutiert.



Die dadurch getriebene Zurückhaltung bei einem möglichen Wechsel zu einem Rüstungsunternehmen fällt in eine Zeit, in der nahezu jeder Industriezweig über einen Mangel an Fachkräften klagt. Die Branche treffe „auf einen kandidatengetriebenen Arbeitsmarkt, in dem Unternehmen Werbung für sich machen“ müssten, sagt Brückner. Den Firmen fällt besonders die Eigenwerbung schwer, wohl auch, weil der Personalbedarf über lange Jahre rückläufig war. Um eine Stelle im Rüstungsbereich zu besetzen, sprechen Brückners Kollegen nach eigenen Angaben 300 bis 400 Leute an.



Die Unternehmen der Rüstungsbranche bauen ihre Belegschaften aus, wie eine Umfrage unter den Firmen ergibt. Manchmal sind es einige Dutzend, wie bei dem Getriebefertiger Renk, mal gehen die Zahlen in den vierstelligen Bereich. Rheinmetall hat im vergangenen Jahr bereits 2000 neue Mitarbeiter eingestellt, erklärte Vorstandschef Armin Papperger. Für dieses Jahr plant er einen weiteren Zubau.



Einen Mangel an qualifizierten Bewerbern sieht der Rheinmetall-Chef nicht. Im Jahr 2021, also in einer Zeit vor dem Krieg, erhielt seine Gesellschaft 145 000 Initiativbewerbungen, 64 000 davon aus Deutschland. Für das vergangene Jahr hatte er mit einem Zuwachs gerechnet. Rheinmetall konnte damit nach eigenen Angaben Abgänge kompensieren und neu geschaffene Arbeitsplätze besetzen. Am stärksten profitieren die großen Produktionsstandorte Bremen, Kassel, Kiel und Unterlüß in Niedersachsen.



Auf seiner Karriereseite hat der Düsseldorfer Konzern viele IT- und Ingenieurjobs ausgeschrieben, auch Konstrukteurs- oder Instandhaltungsstellen finden sich in großer Zahl. Rheinmetall will Bewerber mit einem hohen Grad an Internationalität locken, mit sechs Tagen Homeoffice im Monat und 13,5 Monatsgehältern. Ein Systemingenieur verdient im Schnitt bei Rheinmetall mehr als 80 000 Euro brutto im Jahr. Das wäre nach Angaben des Karriereportals Stepstone ein Viertel mehr als im allgemeinen Durchschnitt.



Während Rheinmetall bereits kleinere Aufträge aus dem Sondervermögen er­halten hat, beklagen die meisten Firmenvertreter, dass die Bundesregierung zwar Gelder für neue Projekte angekündigt habe, sie selbst aber bislang leer ausgegangen seien. Aus dem Ausland treffen indes bereits Bestellungen bei den Unternehmen ein. Rheinmetall etwa weitet daher seine Kapazitäten aus, wozu eine zweite Schicht in den meisten Werken eingeführt werden soll.



Trotz der wachsenden Nachfrage aus dem Ausland gehen die Hersteller durch die Einstellung von neuen Beschäftigten in die Vorleistung, sagt daher auch Renk-Chefin Susanne Wiegand. Diese Vorarbeit dürfte sinnvoll sein, da eine Arbeit in diesem Sektor keine Selbstverständlichkeit ist. Doch mit dem Ukraine-Krieg, so berichten es Mitarbeiter verschiedener Unternehmen im persönlichen Gespräch, und mit dem sich verändernden Sicherheitsempfinden der Menschen ändert sich die Sicht auf die Industrie.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 02, März 2023, S. 32-37

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Martin Murphy ist Co-Ressortleiter Investigativ beim Handelsblatt und zuständig für Sicherheits­themen.

 

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