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01. Mai 2009

Vorwärts ins neue Mittelalter

Europa 2030: Die EU als Vorreiter eines postnationalen Regionalismus

Die Globalisierung wird fortschreiten – und ein weiteres Aufweichen nationaler Ordnungsstrukturen bewirken. Der langwierige Transitionsprozess hin zu einem globalen Regierungssystem wird, ähnlich dem Mittelalter, von Unsicherheit geprägt sein. Doch Europa hat ein regionales Governance-System entwickelt, das den Weg durch diese Epoche weisen kann.

Europa erfand, benannte und prägte sämtliche Zeitalter der Weltgeschichte – und wird das auch in Zukunft tun. Die klassische Welt wurde von der Blüte Griechenlands bestimmt, das Mittelalter folgte dem Fall Roms; die europäische Renaissance führte zur Bildung von Nationalstaaten, welche die Welt bald nach ihrem Abbild ordneten. Im 21. Jahrhundert erweist sich Europa als Vorreiter eines postnationalen Regionalismus samt einer dazugehörigen postmodernen Governance-Struktur, die in der ganzen Welt Nachahmer findet. Verschiedenste Zeichen deuten darauf hin, dass die Welt einmal mehr Europas Weg folgen wird. Man denke nur an die derzeitige globale Finanzkrise, die verständigen Beobachtern die Notwendigkeit einer Balance zwischen einem deregulierten amerikanischen Kapitalismus sowie einer unflexiblen, überdeterminierten Staatssteuerung vor Augen führt – mit einem sozialdemokratischen Kapitalismus europäischen Zuschnitts als gangbarem Mittelweg.

Treten wir einen Schritt zurück, zeigt sich, dass die globale Landkarte im Begriff ist, sich wieder einer entscheidenden Phase der europäischen Geschichte anzunähern: dem Mittelalter des 5. bis 15. Jahrhunderts. Es war ein langer und von Unsicherheit geprägter Abschnitt und ist deshalb ideal als Metapher für unsere Zeit. Es war auch das Zeitalter der Seuchen und Städte, wirtschaftlicher Revolutionen und expandierender Imperien, der Kreuzfahrer, Händler und Universitäten. Das neue Mittelalter – gleichbedeutend mit unserem Zeitalter postmoderner Globalisierung – hat bereits begonnen. Insbesondere der Stadtstaat, als bedeutendste politische Einheit des Mittelalters, wird seine Wiederauferstehung fortsetzen. Zur Liste der heutigen globalen Metropolen – New York, Los Angeles, Miami, São Paulo, London, Dubai, Singapur, Hongkong, Schanghai und Tokio – lassen sich die Knotenpunkte weiterer globaler Handelswege hinzufügen, beispielsweise Alexandria, Karatschi und Istanbul. Heute wie damals sind diese Stadtstaaten Zentren des Handels, die weitgehend losgelöst von ihrer Nationeneinbindung agieren und funktionieren. Sie erinnern uns daran, dass Geschäftsmänner auch in Zukunft den Takt der Entwicklung vorgeben. Die Finanzressourcen des Souveräns werden, angetrieben von der Findigkeit der Großstadt, die Hanseatischen Ligen von morgen bilden und dabei Kapitalnetzwerke schaffen, welche die neuesten Technologien an ihre unmittelbare Umgebung weitergeben. Erst kürzlich haben Hamburg und Dubai ein Abkommen zur Förderung gemeinsamen Handels und technologischen Austauschs unterzeichnet. Ihre Sicherheit werden diese Städte privaten Firmen anvertrauen, wie Überwachungs- und Sicherheitsleistungen sich global weiter privatisieren – damit sind die Ritter, Söldner und Condotteri des 21. Jahrhunderts geschaffen.

Das Mittelalter brachte Erfindungen und Kulturtechniken hervor – vom Kanon bis zum Kompass –, die auf Erschließung des Globus ausgerichtet waren. Heute wird die Geschwindigkeit der Kommunikation und des Transports uns einem Zustand globaler Simultaneität immer näher bringen. In dem Maße, wie eine neue Klasse von Milliardären entsteht – weit über Gates, Branson und Ambini hinaus –, werden diese Megaphilanthropen zu postmodernen Medicis. Sie finanzieren Expeditionen ins All und in die Tiefsee, beherrschen mittelalterlichen Prinzen gleich ganze Landstriche.

Das künftige Europa: integrieren und zusammenführen

Das neue Mittelalter wird sowohl multipolar sein, mit expandierenden Imperien auf der eurasischen Landmasse, als auch apolar, d.h. ohne eine dominierende globale Führungsmacht. Dem Streben Karls des Großen, das Heilige Römische Reich wiederzuerrichten, folgen heute die Nadelstreifenarmeen Brüsseler Eurokraten, die beharrlich die kontinentalen Außenbezirke des Baltikums, des Balkans und möglicherweise auch Anatoliens und des Kaukasus kolonisieren. Ihr heiliges Buch ist nicht die Bibel, sondern der Acquis Communautaire, die 35 Kapitel der Lex Europa, das den Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine von Grund auf neue Ordnung vorgibt. Nicht nur werden die Türkei und die Ukraine im Jahr 2030 Mitglieder der EU sein, sondern mit ein wenig Glück sogar ein entvölkertes und mürrisches Russland.

Schon jetzt eine der wichtigsten Energiearterien Europas, spielt die Türkei eine immer wichtigere Rolle als Handelskorridor und Investitionspartner nach Zentralasien und dem Nahen Osten. Das Straßennetz, das Anatolien mit dem Kaspischen Meer verbindet, wird bis nach Syrien, ja dem Iran und Irak ausgebaut und so einen direkten Zugang zu den Energiequellen des Nahen Ostens gewährleisten – und auf dem Rückweg als Exportroute europäischer Spitzenprodukte dienen. Der Nahe Osten wird 2030 ein Teil der europäischen Einflusszone sein. Zwar wird die arabische Bevölkerung dann zahlreicher als die europäische sein, aber die Energievorkommen sind geschrumpft und daher werden die Handelsbeziehungen immer stärker von einem großen Bedarf europäischer Investitionen und Produkte geprägt – von Autos bis Solarzellen. Der Islam wird ein zersplitterter Glaube bleiben, weit praktiziert, aber dem Streben nach ökonomischer Entwicklung untergeordnet. Genauso wie Europa den Kommunismus aufgekauft hat, wird es die Reform des Islamismus hin zu einer konstruktiven, gedeihenden, sozialen Demokratie erkaufen. Die nordafrikanischen Staaten finden sich immer stärker an Europa gebunden, durch Gaspipelines, Billiglohnproduktionen und Landwirtschaft. Sarkozys Vision einer Mittelmeer-Union wird als Wiederauferstehung des Römischen Reiches Wirklichkeit geworden sein – mit Brüssel als Hauptstadt.

Aber dieses Europa des Jahres 2030 wird nicht nur im Außenverhältnis seine Nachbarn integrieren, sondern sie auch intern zusammenführen. Die demografisch robusten Ukrainer und Türken werden immer tiefer in das ökonomische und soziale Muster Europas eingewebt und so den Status des Imperiums als Produktionsriese festigen. Arabische Migranten werden weiterhin ein Teil westeuropäischer Gesellschaften sein, aber genauso wie die Türken des späten 20. Jahrhunderts als konstruktive Diasporen wirken, die den sozialen und mikroökonomischen Wandel in ihren Ursprungsländern durch einen freien Kapitalfluss beschleunigen.

Russland wird dem Pfad der Türkei folgen. Anfängliche Zögerlichkeiten, vereint mit dem Bedürfnis nach außenpolitischer Selbstbestimmung, werden von einer schrittweisen Einsicht in die Vorteile eines Beitritts abgelöst – und vor allem von einem unstillbaren Bedürfnis nach europäischen Investitionen und großzügigen Subventionen. Russland wird die Unsicherheit der Energieversorgung und deren Preisniveau gegen die Stabilität und Vertrauenswürdigkeit europäischer Konsumenten eintauschen. Es wird sich mit fairer Entlohnung zufrieden geben und mit der Hilfe von Brüssel, Frankfurt und London auch lernen, sein Geld vernünftiger auszugeben.

Vom Vorreiter zum Vorbild

Auch andere Weltregionen werden europäische Hierarchien übernehmen. China wird seine Restauration des alten Reiches der Mitte abgeschlossen haben und mit seinem massiven Exportvolumen die halbe Welt versorgen und die Pipelines bis tief ins eigene Zentrum ausbauen. Auch die Diaspora weltweit wird für einen belebenden Rückfluss an Gütern und Ideen sorgen. Das dritte globale Gravitationszentrum werden die USA bleiben, demografisch stabil und in immer engerem Austausch mit Lateinamerika. Viele Jahrzehnte nach Kennedys „Alliance for Progress“ entdecken die USA ihre südlichen Gegenüber – insbesondere Brasilien – als Industrie- und Handelspartner neu, um im Kampf um Wettbewerbsfähigkeit mit Asien zu bestehen, aber auch im Kampf um Energieunabhängigkeit von den arabischen Quellen.

Das Modell einer regionalen Regierungsstruktur, welches die EU in seiner ausgefeiltesten Form darstellt, wird nicht nur von Amerika und Asien, sondern zu Teilen auch von Südamerika und Afrika übernommen werden. Brasilien spricht bereits von einer Südamerikanischen Union – unter seiner gütigen Führung. Zwar wird die Afrikanische Union hinter den anderen Blöcken zurückbleiben, aber im Jahr 2030 über seine eigene Friedenstruppe zur Stabilisierung seiner vielen Schwelkonflikte verfügen. Handelsgrenzen werden gefallen sein und es Afrikas zahlreichen Zentralländern ermöglichen, ihre Güter auf den anderen regionalen Märkten anzubieten sowie für den Weltmarkt zu verschiffen.

Die Übertragung des europäischen Modells auf die USA wird sich zunächst in den Bereichen des sozialdemokratischen Kapitalismus sowie der föderalen Regierungsmechanismen für regionale Institutionen und Märkte zeigen – aber auch im Bereich der Außenpolitik. Durch die ruhige Hand der Strukturreform sowie durch Investitionen wird Europa seine Peripherie modernisiert und liberalisiert haben, eine Strategie, die Amerika als Schlüssel zu einer Stabilisierung Mexikos und Zentralamerikas erkennt. Auch die US-amerikanischen Beziehungen zu China werden hoffentlich von solch einer Vorgehensweise geprägt sein, die den Fokus auf wechselseitige Verantwortung legt und kulturelle Eigenheiten zulässt – anstatt sich auf ein amerikanisches Demokratiemodell als Bedingung zu versteifen.

Rosige Aussichten trotz mittelalterlicher Zustände

Europa ist also hervorragend aufgestellt, als ideologischer und kultureller Mittler zwischen West und Ost zu wirken. Bereits heute werden indische und chinesische Künstler auf dem europäischen Parkett hoch gehandelt, und wohlhabende Chinesen und Inder sind fleißige Käufer der europäischen Impressionisten und Modernisten. Vergleichbares gilt auch für das Gebiet der Bildung. Schon jetzt studieren mehr Chinesen an europäischen Universitäten als an amerikanischen – und nehmen dort das neue, sozialdemokratische Ethos des 21. Jahrhunderts genauso begierig auf wie einst den europäischen Marxismus und Kommunismus des 19. und 20. Jahrhunderts.

Obwohl das europäische Militär seinen Status als eine Armee von beachtlicher Schlagkraft festigt, werden seine Landstreitkräfte eher für Sicherheitseinsätze und Ad-hoc-Interventionen als für langwierige kriegerische Auseinan-dersetzungen oder Besetzungen geeignet sein. Aber genau solch eine paneuropäische Sicherheitsarmee wird für die Unwägbarkeiten des neuen Mittelalters auch benötigt.

Das Mittelalter war von großer Unsicherheit geprägt, und eine vergleichbare Anzahl an Risikofaktoren besteht bis heute. Denken wir nur an AIDS, Malaria, SARS und andere Krankheiten, die ähnliche Verheerungen anrichten könnten wie die Pestepidemien des 14. Jahrhunderts. Welche Bedeutung wird wandernden Horden zukommen, die von Krieg oder Umweltkatastrophen ihrer Heimat beraubt wurden? Wer sind die nächsten Mongolen, kleine, konzentrierte Einheiten, die mit den Mitteln roher Gewalt für ihr Recht und ihre Ordnung sorgen?

Das Errichten einer neuen globalen Regierungsordnung wird Jahrhunderte dauern. So erklären sich auch die ungewissen Führungsansprüche und die komplexe politische Landkarte des 21. Jahrhunderts. Bis zu einer neuen Renaissance ist es noch ein weiter Weg.

PARAG KHANNA ist Direktor des Global Governances Programms bei der New America Foundation, Washington.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2009, S. 16 - 21.

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