Von Mikroben und Menschen
Wir brauchen eine "neue" WHO
Um den Seuchen des 21. Jahrhunderts wirksam zu begegnen, muss ihre globale Bekämpfung neu organisiert werden. Die Verantwortung dafür kann nur bei einer demokratisch legitimierten Institution liegen. Es führt kein Weg daran vorbei, die Gesundheitsbehörde der Vereinten Nationen wieder zu einer schlagkräftigen Leitorganisation zu machen.
Der größte Sieg der Menschheit hatte am 8. Mai 2010 einen runden Jahrestag. Das Jubiläum markiert das Ende eines Krieges, der allein im vergangenen Jahrhundert rund 400 Millionen Menschenleben forderte. Trotzdem gab es keine großen Ansprachen und keine Militärparaden, nur einige Veteranen feierten im Stillen. Die Rede ist vom Sieg über einen Krankheitserreger: Am 8. Mai 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Pocken für ausgerottet – das historische Datum war reiner Zufall.
Seitdem hat die WHO keine vergleichbaren Erfolge vorzuweisen. Die Pocken blieben die einzige Krankheit, die jemals vom Menschen besiegt wurde. Ihr nächstes Ziel, die Kinderlähmung bis zur Jahrtausendwende auszulöschen, erreichte die WHO nicht. Der Plan, die Masern bis 2010 zumindest in Europa zu besiegen, ist ebenfalls gescheitert. In Afrika nehmen die Masernerkrankungen derzeit wieder zu. Auch bei Malaria wurde das erklärte Ziel, die Zahl der Infektionen bis 2010 zu halbieren, nicht erreicht. Ähnlich düster sieht es bei den auf Infektionen bezogenen Millenniumszielen aus: Das Projekt, die Kindersterblichkeit bis 2015 um zwei Drittel zu reduzieren, wird voraussichtlich scheitern. Von den 68 am stärksten betroffenen Staaten liegen nur 19 im Plan. In zwölf Ländern ist die Tendenz sogar rückläufig. Die meisten Kinder sterben an Infektionskrankheiten. Und auch die geplante Reduktion der Müttersterblichkeit um zwei Drittel bis 2015 wird deutlich verfehlt werden.
Bis 2010 sollten alle Menschen, die sie benötigen, Aids-Medikamente bekommen. Das Ziel wird ebenso wenig erreicht wie der Zugang zu bezahlbaren Medikamenten für die Entwicklungsländer bis 2015. Und ob die Zunahme von Aids, Malaria und Tuberkulose (TB) wie geplant bis 2015 gestoppt werden kann, ist noch offen.
Im Jahre 1969 verkündete der oberste Gesundheitsberater der USA, William H. Stewart, noch optimistisch: „Es ist Zeit, das Buch der Infektionskrankheiten zu schließen.“ Angesichts der damaligen Erfolge der Impfprogramme gegen Pocken und Polio, neuer Tuberkulosemittel und der durchschlagenden Wirkung des Insektizids DDT gegen Malaria war man überzeugt, den Krieg gegen die Mikroben gewinnen zu können. Statt der erhofften Siege sind jedoch neue, gefährliche Gegner hinzugekommen, etwa Aids, SARS und resistente Tuberkulosebazillen. Auch weitgehend zurückgedrängte Infektionskrankheiten wie Pest, Polio oder Flussblindheit flackern wieder auf, wenn in Krisengebieten die medizinische Versorgung zusammenbricht.
Konkurrenz für die WHO
Das schwindende Vertrauen in die WHO, mit den großen Menschheitsgeißeln fertig zu werden, spiegelt sich in der Gründung einer Reihe unabhängiger Initiativen wider. Der Globale Fonds gegen Aids, Tuberkulose und Malaria verfügt über ein Budget von 19,3 Milliarden Dollar, die Bill und Melinda Gates Stiftung verwaltet 35,2 Milliarden Dollar. Weitere Beispiele sind die „Roll Back Malaria“- und „Stop TB“-Partnerschaften, die Impfstoffinitiative GAVI und die mächtige UNAIDS. Daneben gibt es einflussreiche Akteure, die sich schon lange unabhängig von der WHO um globale Seuchen kümmern, etwa die Rockefeller Stiftung oder die Centers for Disease Control and Prevention der USA.
Ihrem Auftrag, bei der Seuchenbekämpfung die internationalen Richtlinien vorzugeben und die Forschungsfelder zu strukturieren, kann die WHO kaum noch nachkommen. Ihr vergleichsweise bescheidenes Jahresbudget liegt bei 2,1 Milliarden Dollar. Nur ein Drittel davon sind reguläre Beiträge der Mitgliedsstaaten, der Rest sind freiwillige Leistungen, die in der Regel an vorgegebene Projekte gebunden sind.
Offiziell gibt es natürlich keine Spannungen zwischen WHO und den anderen Akteuren. Die WHO hat die „Partnerschaften“ mit angestoßen, weil ihr alleine die Mittel fehlen. Umgekehrt würde kein privater Fonds es wagen, die WHO als bürokratisch oder unflexibel zu kritisieren. Hinter den Kulissen ist der Streit um die Führungsrolle bei der Seuchenbekämpfung jedoch längst im Gange. Als die Gates Stiftung 2007 zur weltweiten Beseitigung der Malaria aufrief, platzte dem Leiter der WHO-Malariaabteilung, Arata Kochi, der Kragen. Er schimpfte über das „Kartell“ der von Gates bezahlten Forscher, die einander unsinnige Projekte bewilligten. Aus WHO-Sicht ist eine vollständige Auslöschung der Malaria medizinisch nahezu unmöglich und würde erhebliche Mittel binden, die für den Kampf gegen andere Krankheiten benötigt werden. Auch darüber, dass die Gates Stiftung 2007 an der Universität Washington ein „Institute for Health Metrics and Evaluation“ einrichtete, war man bei der WHO nicht erfreut. Die Messung und Bewertung volksgesundheitlicher Daten sind einige der wenigen originären Aufgaben, bei denen die WHO bislang keine Konkurrenz hatte.
Derzeit muss die WHO auch noch öffentliche Kritik wegen ihrer Reaktion auf die „Schweinegrippe“ einstecken. Die WHO-Generaldirektorin Margaret Chan rief im Juni 2009 die Pandemie aus, obwohl Virologen das neue Virus als nicht besonders gefährlich einstuften. Zahlreiche Staaten, darunter Deutschland, bestellten mit einem Adjuvans verstärkte Impfstoffe, die eigentlich für gefährlichere Influenzaviren entwickelt wurden. Kritiker unterstellen der WHO jetzt, die Gefahr unter dem Einfluss der Pharmalobby übertrieben zu haben.
Auch die Verteilung der nicht verbrauchten Impfstoffe an die armen Länder kam nur schleppend in Gang. Bis Januar 2010 wurden der WHO 200 Millionen Dosen gespendet, 99 Staaten baten um Unterstützung. Aufgrund logistischer Probleme konnte die WHO bis Ende Februar, in der Hauptwelle der Pandemie, nur sieben Staaten beliefern. Inzwischen haben 67 Staaten Impfstoff bekommen, die Pandemie ist jedoch längst abgeebbt. Bei einem gefährlicheren Virus hätte es für einen Großteil der Menschheit keinen Schutz gegeben.
Eine „neue“ WHO
Um den Seuchen des 21. Jahrhunderts wirksam zu begegnen, muss ihre globale Bekämpfung neu organisiert werden. Diese Verantwortung kann nur bei einer Organisation liegen, die von der Staatengemeinschaft demokratisch legitimiert ist. Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, die Gesundheitsbehörde der Vereinten Nationen wieder zu einer schlagkräftigen und einflussreichen Leitorganisation zu machen. Dass eine Handvoll philanthropischer Milliardäre ein Vielfaches des WHO-Budgets aufbringt und effektivere Programme auf die Beine stellt, ist für die 193 Mitgliedsstaaten geradezu beschämend.
Die Neuorganisation muss die WHO befähigen, auf die neuen Herausforderungen der globalen Seuchen wirksam zu reagieren. Zur Bekämpfung von Aids, Malaria, Tuberkulose und anderen Menschheitsgeißeln müssen nicht nur medizinische, sondern vor allem soziale und politische Probleme bewältigt werden. Ebola, SARS, HIV und die Vogelgrippe haben gezeigt, dass jederzeit gefährliche neue Krankheitserreger aus dem Tierreich auf den Menschen überspringen können. Beinahe besiegte Krankheiten wie Pest oder Polio flackern in sozialen Krisenherden wieder auf. Durch den Klimawandel ändern Erreger ihre Eigenschaften und breiten sich in neue Regionen aus. Die Schweinegrippe hat bewiesen, dass die weltweite Verbreitung von Viren nicht zu stoppen ist, solange die Staaten keine funktionierenden und abgestimmten Alarmpläne haben.
Vollkommen neue Probleme entstehen auch durch die Gefahr biologischer Anschläge. Mikrobiologische und gentechnische Labore können heutzutage in den entlegensten Winkeln der Welt betrieben werden. Die infrage kommenden Erreger sind in Entwicklungsländern leicht zu beschaffen.
Die „neue“ WHO muss mit einem erheblichen, frei verfügbaren Budget ausgestattet werden, um Spitzenforschung und Großprojekte zur Krankheitsbekämpfung zu finanzieren. Genauso wichtig ist die Vernetzung der Medizin mit anderen Disziplinen, etwa der Tiermedizin, der Geografie und der Klimaforschung. Statt sich immer mehr auf die technische Abwicklung von Projekten zu beschränken, muss die WHO selbst innovative Projekte entwickeln und auf den Weg bringen. Dazu sind wissenschaftlich hochqualifizierte, von der Industrie unabhängige Mitarbeiter und eigene Forschungseinrichtungen unentbehrlich.
Für die Mitgliedsländer der WHO bedeutet dies, dass die globale Seuchenbekämpfung – wie auch die globale Gesundheit im weiteren Sinne – nicht alleinige Aufgabe der Gesundheitsministerien sein darf. Stattdessen sollten die Aktivitäten der betroffenen Ressorts (Auswärtiges, Gesundheit, Entwicklungshilfe, Landwirtschaft, Umwelt, Verkehr) gebündelt werden. Im Hinblick auf die Bekämpfung von Pandemien und biologischen Anschlägen ist auch die Einbeziehung der Polizei- und Sicherheitsdienste sinnvoll. Ein interministerieller Ansprechpartner der WHO bei den Mitgliedsstaaten hätte erhebliche Vorteile, wenn es um ressortübergreifende Themen geht. Auch die Kooperation mit anderen Akteuren in der globalen Gesundheit könnte so harmonisiert werden. Zudem würden die Zusammenarbeit mit der WHO und die damit verbundenen Themen politisch aufgewertet. Die Koordination sollte deshalb bei den Außenministerien liegen.
Angesichts des international erkannten Handlungsbedarfs hätte eine deutsche Initiative zur Neuorganisation der WHO, eventuell gemeinsam mit einem europäischen Partner, gute Aussichten auf Erfolg. Ein entsprechendes ressortübergreifendes Konzept sollte unter Federführung des Auswärtigen Amtes entstehen. Das könnte der erste Schritt sein, das von staatlichen Akteuren kaum besetzte Thema „globale Gesundheit“ zu einem Markenzeichen deutscher Außenpolitik zu entwickeln. Es gibt kein anderes Thema, das die Menschheit langfristiger beschäftigen wird.
Prof. Dr. ALEXANDER S. KEKULÉ ist Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.
Internationale Politik 4, Juli/August 2010, S. 58 - 61