Vom Riss durch die Gesellschaft
Brief aus … Warschau
Manchmal scheint es, als habe sich nichts verändert – bis es um Politik geht
In Warschau gibt es zwei Zentren der Macht. Das erste ist der Sitz der Ministerpräsidentin – ein gewaltiges Gebäude mit Säuleneingang gegenüber dem Lazienki-Park. Das zweite, am anderen Ende der Innenstadt gelegen, ist das Hauptquartier der rechtspopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Untergebracht ist die Parteizentrale in einem unscheinbaren Gebäude am Ende der Nowogrodzka-Straße. Eine Sushi-Reklame weist auf das japanische Restaurant im Untergeschoss. Seit die PiS die Parlamentswahlen im Oktober 2015 gewann, wird Polen inoffiziell von dort durch den Parteivorsitzenden Jaroslaw Kaczynski regiert, ohne dass dieser ein Regierungsamt innehätte.
Als ich vor fünf Jahren anfing, aus Warschau zu berichten, befand sich Polen noch mitten in der Tusk-Ära. Während seiner Jahre als Regierungschef von 2007 bis 2014 verfolgte Donald Tusk eine Politik, die er als „warmes Wasser aus dem Hahn“ bezeichnete und auf die allmähliche Erhöhung des Lebensstandards mithilfe von EU-Subventionen zielte – ein pragmatischer Politikansatz, frei von großen ideologischen Erklärungen. Was Tusks liberal-konservative Bürgerplattform (PO) anging, schien damals tatsächlich Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ eingetreten zu sein. Der Krieg in der Ukraine stärkte Polens Image als stabiler und relativ wohlhabender Rechtsstaat. 2015 lehrte Kaczynski Europa dann, dass die Geschichte noch lange nicht zu Ende ist.
Die PiS wird oft als konservative Partei beschrieben. Indem sie den Zugang zur „Pille danach“ erschwert und staatlich geförderte Programme zur künstlichen Befruchtung beendet hat, ist sie das zumindest im Bereich der Sozialpolitik auch. In anderen Bereichen zeigt sie sich allerdings eher revolutionär als konservativ. Seit sie an der Macht ist, hat die PiS die Politik in den allermeisten Bereichen auf den Kopf gestellt, vom Schulsystem über die Krankenversorgung bis zu den öffentlich-rechtlichen Medien. Die Änderungen am Verfassungsgerichtshof veranlassten die EU-Kommission 2016, ein Verfahren zur rechtsstaatlichen Prüfung einzuleiten, das dazu führen könnte, dass Warschau sein Stimmrecht in Brüssel verliert (wenngleich das nach wie vor unwahrscheinlich erscheint). Gegenüber der EU verhielt sich die PiS bisher launisch und aufmüpfig. „Souveränität“ ist das mot du jour. Der im März fehlgeschlagene Versuch der polnischen Regierung, Tusks Wiederwahl zum EU-Ratspräsidenten zu verhindern, hat ihrer Glaubwürdigkeit in Europa schwer geschadet.
An manchen Abenden fühlt es sich an, als ob sich nichts verändert hätte. Frauen und Männer nippen im Freien an ihren Rosés, nach sechs langen Wintermonaten endlich aus ihren Wohnungen befreit. Warschau pulsiert, grün und kosmopolitisch. Kinderwagen schiebende Väter kaufen Eis. Ein schwules Pärchen teilt sich eine Portion Tapas auf einer Restaurantterrasse. Die Gespräche driften oft ins Innenpolitische ab. Vor drei Jahren konnte man in der Tram noch Schulmädchen über den Krieg im Donbass diskutieren hören. Heute geht es fast ausschließlich um die Politik der PiS; das neue Kindergeld, ihr Vorzeigeprojekt; die Verfassungsgerichts„reform“ – oder aber der Protestmarsch vom Wochenende.
Die PiS führt auch nach ihrer Wahl weiter die Umfragen an. Das Land ist gespalten, vielleicht so tief wie niemals zuvor. Nach Tusks Bestätigung als EU-Ratspräsident reagierte die polnische Presse völlig uneinheitlich. Die rechtsgerichtete Wochenzeitung Do Rzeczy zeigte einen furchterregend dreinblickenden Tusk mit der Titelzeile „Ihr Mann in Europa“ – den Kaczynski als „deutschen Kandidaten“ ja verhindern wollte. Der öffentlich-rechtliche Nachrichtensender TVP blieb dagegen auf offizieller Linie: Der EU-Gipfel sei ein voller Erfolg für Polen gewesen.
Als Donald Trump die Präsidentschaftswahlen in den USA gewann, erlebte man dies in Warschau als Déjà-vu: der Riss mitten durch die Gesellschaft; die Liberalen in den Metropolen, die entsetzt darüber waren, plötzlich von einer Art Marsmenschen regiert zu werden; Sorge um die Rechte der Frauen und die Unabhängigkeit der Justiz; die ablehnende Haltung der neuen Regierung gegenüber Flüchtlingen; und ihr lockerer Umgang mit Fakten.
In Polen sprechen Regierungsmitglieder davon, man habe „eine Million“ Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Es handelt sich nicht um Flüchtlinge, sage ich einem Minister während eines Interviews. Es mag stimmen, dass heute eine Million Ukrainer in Polen arbeiten, aber nur wenige von ihnen besitzen Flüchtlingsstatus. „Das hängt natürlich davon ab, wie streng Ihre Definition eines Flüchtlings ist“, antwortet er hastig.
Die PiS glaubt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, wenn sie Polens Souveränität vor neuen Bedrohungen beschützt. Viele Wähler sind der gleichen Meinung. Doch wenn die Mitgliedstaaten sich nach dem Brexit zusammensetzen, um die Zukunft der EU zu diskutieren, könnte Polen am Ende eine historische Chance verpassen, die Richtung Europas mitzugestalten.
Annabelle Chapman berichtet u.a. für The Economist aus Warschau.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2017, S. 130-131