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06. Jan. 2013

Vom Ende der Politik

Sechs Gründe, warum Debatten und Beratung immer schwieriger werden

Politik als „Feuerwehr“, die im Notfall reagiert, aber nicht mehr strategisch handeln kann – das ist ein verstörender Befund. Lässt sich Politik im traditionellen Sinne überhaupt noch organisieren? Welche Rolle können Politikberater dabei spielen? Und welchen Einfluss haben noch so gut informierte Debatten auf außenpolitische Entscheidungen?

Die Debatte über die Qualität der Debatte in dieser Republik wurde wieder ausgerufen.1  „Wieder ausgerufen“, weil es skeptische Wortmeldungen und hoffnungsfrohe Einforderungen alle paar Jahre gibt. Dagegen ist nichts einzuwenden, und der Befund trifft zu: Frühere Diskussionen über zentrale Fragen der Außenpolitik waren oft sachkundiger, fokussierter, breiter angelegt und emotionaler. Man denkt hier u.a. an die das Land teilweise in Atem haltenden medialen, mitunter gar intellektuellen Schlachten über die Westintegration, die Wiederbewaffnung, eine deutsche Nuklearoption, die neue Ostpolitik, die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa. Aber bereits die internationale Konfiguration des neu zusammengefügten Deutschlands nach 1990 und der erste Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland nach dem Zweiten Weltkrieg, eine der ersten Entscheidungen der 1998 angetretenen rot-grünen Regierung, verliefen relativ unaufgeregt, abgesehen von einigen parteiinternen Fehden. Seitdem findet eine landesweite, von den großen Medien engagiert mitgetragene, weitgehend gemeinsame Diskussion über Internationales nicht mehr statt; und das in einer Situation, in der sich internationale Politik mehr verändert als in den vorangegangenen Jahrhunderten und in der sich Spielfelder globaler Politik herausbilden.2

Ist das ein Problem? Diese Folgefrage wird zumeist ausgespart oder nicht direkt angesprochen. Es ist aber nicht zwangsläufig so, dass die Qualität der Debatten über Internationales und vor allem über Politik steigt, wenn Philologie-Studierende Details über Wurfgewichte der Sprengköpfe nuklearer Trägersysteme zu nennen wissen; wenn die Dorf­bevölkerung im Hunsrück eine Vorstellung von den Unterschieden zwischen der SS-20 und den Pershing-Systemen hat; wenn die einschlägigen Beratungsinstitute in der Bundesrepublik über einen verdoppelten Stellen­etat und eine garantierte institutionelle Förderung aus Bundesmitteln verfügen. Oder wenn die Volkshochschulen mehr Seminare über die globalen und regionalen Finanzkrisen anbieten. Denn hinter solchen Geschichten und Wünschen steht die Annahme, dass bessere Beratung und eine besser informierte Bevölkerung zu einer ebenso besseren Politik führen. Das ist jedoch wahrscheinlich ein Irrtum. Leider.

Für die weiteren Betrachtungen lasse ich die Bevölkerung weitgehend beiseite, obgleich sie eine zentrale Variable ist. Politik im Allgemeinen und globale Veränderungen und Herausforderungen im Besonderen wirken so unüberschaubar, dass sich die Mehrzahl auch der einigermaßen informierten Erdbewohner ratlos oder verstört abwendet. Es gibt keine integrierenden Narrative mehr – sowohl der Ost-West-Konflikt als auch die noch viel übergreifendere Moderne, einschließlich ihrer Spielarten Demokratie, Markt oder Sozialismus, haben die Funktion der Großen Erzählung verloren. Und nichts ist an deren Stelle getreten – nur die verschiedenen Fundamentalismen, die kaum mehr sind als ängstliches Suchen im viele Jahrhunderte alten Dunkel der Vergangenheit, unterstützt von Kasten der Schriftgelehrten, die ihre bröckelnden Monopole auf Exegese festzuhalten suchen.

Die Mehrzahl der Menschen reagiert ängstlich und vermeidet nähere Betrachtung der laufenden oder drohenden Pandemien, Proliferationen von Waffen, Piratenüberfälle, Lebensmittelkrisen, des Klimawandels, klassisch ressourengetriebener oder kulturell gespeister lokaler Konflikte und regelungsschwacher oder gar scheiternder Regierungen von Nationalstaaten.3

Ein Blick auf die Themenbreite der Infotainment-Sendungen der öffentlichen deutschen Fernsehanstalten belegt das ein weiteres Mal: Nur ein sehr geringer Prozentsatz der angebotenen Themen gilt den uns immer stärker prägenden Begleiterscheinungen der Europäisierung und der Globalisierung. Weder die rothaarige Lidl-Verkäuferin noch der gut anzuschauende Allzweck-Intellektuelle könnten hier in die Runde gesetzt werden. Und selbst Norbert Blüm und Heiner Geißler … Vor allem aber: Der Souverän des schwächelnden Nationalstaats, der Bürger und die Bürgerin, sie üben ihre Wohnzimmer-Hoheit aus, und zwar beim Fernsehprogramm. Bei den seltenen internationalen Themen von Jauch, Will, Illner, Beckmann, Plasberg usw. greifen sie zur Fernbedienung und wählen diesen Diskurs ab. Die Quoten fallen bis auf die Hälfte. Managergehälter und Ladendiebstahl, auch Kitas ja, aber Euro-Krise und Syrien – nein.

Konkurrierende Politikberater

Schauen wir uns also die Sache mit der Politikberatung an. Von dem klassischen Personal – den Hofnarren der frühneuzeitlichen Höfe über die Großwesire der Staatskunst (Macchiavelli bis Kissinger) bis hin zu den Kybernetikern, die Politik als Billardspiel zu inszenieren gedachten – ist nichts geblieben. Die heute vorhandenen Institute und Einrichtungen sind entweder Verschiebebahnhöfe und Wartehallen zwischen den allfälligen Wechseln einer Administration, wie in den USA, oder Übersetzer komplizierter Sachverhalte in Bullet Points und Schaubilder für Executive Summaries, die so gerade noch den Sprung auf die Leseliste für die Nachtstunden auf dem Tablet schaffen könnten.

Dagegen ist wenig zu sagen – alles andere würde, d.h. wird ignoriert. Aber damit fügen sich die vorhandenen Beratungsforen in einen Deutungsmarkt ein, der um Interpretationsangebote zirkuliert. Maßgeblich für die Nachfrage sind hier nicht Qualität und Substanz, nicht einmal der sprichwörtliche Nachrichtenwert, sondern der Unterhaltungswert. Die so genannten Entscheider, die oft mehr Moderatoren als Entscheider sind, werden bedrängt und umflutet von Wogen solcher Deutungsangebote. Die Fähigkeit zur Selektion ist überlebenswichtig, wer mag schon im Papier, in Breaking News oder in Exklusiv-Features ertrinken. Entscheidungsträger von heute nehmen seltener Papier und Gedrucktes in die Hand und nutzen vor allem Smartphones, Tablets und E-Readers. Damit aber werden Inhalte anders wahrgenommen: flüchtiger und beliebiger.

Auch die moderierenden Entscheider haben keine wirksamen Narrative mehr im Kopf. Viele geben es derweil zu – was sympathisch ist. Die klassische Links-rechts-Geografie ist weit­gehend, und zu Recht, obsolet geworden. Auch früher tragfähige und belastbare transatlantische Achsen sind Nachkriegsgeschichte. Eine non- oder multipolare Welt ist definitionsgemäß nicht mehr achsenfähig. Und das so beliebte Denkgerüst der „nationalen Interessen“ hat sich weitgehend aufgelöst in die Dissonanzen vielfältiger nationaler und transnationaler Interessengruppen und Lobbys. Die Moderne erweist sich als riskant, die Postmoderne versteht niemand. Oft beschworene Werte – „gemeinsame“, „europäische“, was auch immer – kann niemand mehr definieren. Sie scheinen beliebig.

Vor diesem Hintergrund sind professionelle Politikberater nicht mehr, aber auch nicht weniger als Teilnehmende an Konkurrenzen auf den genannten Deutungsmärkten. Sie reihen sich ein in die Produzenten und Vertreiber zahlloser Analysen, Übersichts- und Hintergrundpapiere, Botschaftsberichte, priorisierter Meldungen von Nachrichtenagenturen, Rundfunkgespräche, Fernsehtalks, Kompilationen von Geheimdiensten, wissenschaftlicher Analysen, in von Praktikanten gefertigte Überblicke, in zahllose Statistiken, in Polemiken der Gurus in den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften und in empörte Appelle der Benachteiligten dieser Erde. Sie sind Teil eines endlosen Stroms von Texten, Signalen, Meinungen, Bildern, von Lärm und Störungen, die alle auf Entscheider einwirken.

Natürlich kommt es vor, dass Entscheider Meinungen verändern oder Entscheidungen modifizieren. Aber niemand weiß (auch sie selbst wissen sicher oft nicht), worauf eine solche Wandlung im Einzelnen zurückzuführen ist. Auch die Berater sind Teil der Hintergrundgeräusche. Aber eine Kausalität ist noch nicht feststellbar. Damit müssen wir uns einstweilen abfinden. Das heißt auch: Selbst wenn die Qualität der innerdeutschen Debatten über aktuelle globale Politik  und über die Rolle der deutschen Gesellschaft darin besser, informierter, differenzierter und drängender wäre – der Einfluss dieser Diskussionen wäre schwerlich sehr viel höher, als er gegenwärtig ist.

Grenzen der Politik

Das enthebt noch nicht von den Folgefragen, warum nun die deutschen Debatten über inter- und transnationale Fragen so sind, wie sie sind. Und meine These ist, dass die Ursachen dafür ziemlich identisch sind mit denen, die auch die immer engeren Grenzen der Politik erklären können. Davon soll im Folgenden die Rede sein.

Meine Kernthese ist, dass wir vor einem „Ende der Politik“ im bisherigen Sinne stehen. Politik, vor allem nationalstaatliche, stößt an immer engere Grenzen. Das ist ein verstörender Befund. Er bewegt sich jenseits der oft diskutierten Politikverdrossenheit und sagt auch wenig aus über die gern diskutierte, aber vordergründige Frage nach der Eignung des politischen Personals. Es geht darum, ob sich Politik im traditionellen Sinne überhaupt noch organisieren lässt. Und falls nicht – wie die Integration von Gesellschaften dann zu bewerkstelligen sein könnte.

Für den Befund der strukturellen Politikunfähigkeit lassen sich sechs Ursachenbündel benennen. Dieselben Ursachen sind – wenn auch in unterschiedlichem Maße – verantwortlich für die Qualität des öffentlichen Diskurses über globale Politik.

Zunächst aber bedarf es einiger Vorbemerkungen. Ein erster Hinweis besteht darin, dass Politik hier als strategisches Handeln definiert wird. Nicht jede Entscheidung, jedes Herumbasteln ist Politik im strategischen Sinne. Die Skepsis gegenüber der Machbarkeit von Politik gilt dem Aspekt des strategischen Handelns. Der zweite Hinweis zielt darauf, dass die Dominanz vergeht, die Nationalstaaten seit rund 2500 Jahren und vor allem seit dem Westfälischen Frieden 1648 genossen. Globalisierung ist weit mehr als ein Schlagwort. Ein sich global entgrenzender Kapitalismus generiert Ströme, die Grenzen relativ leicht überschreiten und durch staatliches Handeln immer schwerer einzuhegen und zu kontrollieren sind. Das gilt für Finanz- und Kapitalströme, wie die 2008 ausgebrochene Krise deutlich gezeigt hat. Es gilt ebenso für Ströme von Menschen, also Migration. Wir sind, drittens, Strömen von Inhalten ausgesetzt, sowohl Informationen wie dem Internet als auch Unterhaltungsströmen (Musik, Filme, Soaps, soziale Netzwerke). Auch hier stoßen nationale Regierungen buchstäblich an ihre Grenzen – auch China mit seinem „großen Firewall“. Kurzum: Politik ähnelt immer mehr nachträglichen und oft vergeblichen Versuchen, lodernde Brände unterschiedlicher Größe zu löschen, als strategischem Handeln.

Strukturelle Politikunfähigkeit

Der Befund zur immer schwächer werdenden Politik und zu den unbefriedigenden Debatten über sie stützt sich auf sechs Argumente, die auf die Ursachen für diese beunruhigenden Phänomene zielen.4

1. Die Herausforderungen an nationale Politik werden immer komplexer, während Politik immer kurzatmiger und unterkomplexer reagiert. Innere, „äußere“ und transnationale Einflüsse auf Politik können kaum noch präzise voneinander getrennt werden. Das macht zielgenaues Agieren viel schwieriger als noch zu den „guten alten Zeiten“ von Adenauer, Schmidt und Kohl. Ebenso können viele politische Probleme nicht mehr konzentriert und nach­einander behandelt werden. Stattdessen werden sie von außen (Medien) und von innen (Parteien, Wahlkreise) alle kurz nacheinander oder zugleich auf die Tagesordnungen gepackt.

Politiker trauen sich selten, Prioritäten zu setzen und durchzuhalten. Das führt zu einer nicht mehr zielgerichtet zu bearbeitenden Melange von Herausforderungen. Politik erstickt an einer administrativen Überlastung. Überall wird ein wenig gebastelt. Es bleibt keine Zeit, gründlich nachzudenken, Optionen zu prüfen und strategisch zu agieren. Simultanes Ab­arbeiten und politisches Multitasking führen zu halbgaren Lösungen mit kurzer Halbwertszeit. Eine Gesundheitsreform löst die andere ab, eine Vertagung der Griechenland-Krise folgt der nächsten. Die Kernprobleme der alternden Gesellschaft, der explodierenden Kosten und der wenig kontrollierten Pharmaindustrie aber bleiben. Der drohende Kollaps eines Staatshaushalts wird mit Milliarden aus anderen, noch stabileren Ländern oder der EZB aufgeschoben – aber nicht gelöst. Zudem werden die einzelnen Probleme immer verschränkter und komplexer (Demografie, Familien, Steuern, Integration, Zuwanderung, Gentechnik). Dem steht das Herumwurschteln von Politik gegenüber.

Dieser Befund kommt ohne Hochmut daher. Die Dinge sind sehr komplex. Nicht intendierte Folgen politischen Handelns sind oft typischer als kalkulierte, und das gilt auch für die Ergebnisse. Wer den Film „Margin Call“ bislang verpasst hat, sollte ihn unbedingt anschauen.5  Was wir hier lernen – dass die höheren Entscheider­ebenen in Geldhäusern und Consultancies nicht mehr wirklich begreifen, was auf den Bildschirmen ihrer Analytiker- und Händlerhallen aufflackert, auf welchen Algorithmen softwaregesteuerte „automatische“ Kaufs- und Verkaufsoperationen beruhen, sodass in ihren Augen Panik und Hilflosigkeit aufscheinen, wenn sie dieser Einsicht konkret ausgesetzt werden – das ist wohl eins zu eins auf die Politik übertragbar.6

2. Politik wird immer mehr von ­sachfremden Aspekten bestimmt – ­Medienlagen, Wahlzyklen und innenpolitischen Befindlichkeiten aller Art. Seit der Einführung des so genannten dualen Systems bei Radio und Fernsehen Anfang der achtziger Jahre ist die Trennung zwischen Nachrichten und Information einerseits und Unterhaltung andererseits aufgehoben. Heutige Nachrichtensendungen, auch in den öffentlich-rechtlichen Sendern, gleichen MTV-Videoclips von vor 20 Jahren. Info- und Politainment-Formate sind dominant. In meinen Seminaren lösen Einspielungen von Werner Höfers „Frühschoppen“ und Günter Gaus’ „Zur Sache“ interessiertes Staunen aus. Aber die Seminare selbst müssen schon Spannungsbögen folgen, die wir aus dem Vorabendprogramm entnehmen.

Viele gesellschaftliche Handlungsgrenzen sind längst über- und transnational definiert, durch die EU etwa, die WTO und die genannten globalen Ströme. Dem steht ein stilles, aber krasses Desinteresse der Bürgerinnen und Bürger entgegen. Für die klassischen „Auslandssendungen“ finden sich kaum noch attraktive Sendeplätze und Formate. Auslandbüros werden eingespart, auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. „Außenpolitik“ findet medial und auch „innenpolitisch“ kaum mehr statt. Die Leute verstehen sie nicht und wollen das auch nicht mehr. Die Politiker lassen sie demzufolge beiseite. Frau Merkel versucht nicht mehr, Sinn und Substanz der Währungsunion und der deutschen Hilfen jenseits allgemeiner Deklarationen zu erklären? Ja. Aber die Bürgerinnen und Bürger wollen es auch nicht so genau wissen. Daran können noch so informierte und gekonnte Expertendebatten wenig ändern.

3. Alle Teilsysteme der postmodernen Gesellschaften sind Beschleunigungen unterworfen; das politische Teilsystem aber am wenigsten. Mit anderen Worten: Politik läuft den wirtschaftlichen und sozialen Problemen immer atemloser hinterher, die Halbwertszeit von „Reformen“ wird immer kürzer. Die neuen Produkte der Kapitalmärkte, vor allem auf die Zukunft bezogene Geschäfte, Derivate, Futures, CDOs, Leerverkäufe und die damit verbundenen Umsätze, sind von der Politik kaum noch zu greifen – und noch weniger wirksam einzuhegen. Erst recht nicht national.

Sätze werden kürzer, Nachrichten komprimierter – wie sollen so komplexe Zusammenhänge analysiert werden? Zudem gibt es die Überlastung durch Tausende von Signalen, denen vor allem Funktionseliten jeden Tag ausgesetzt sind: über Handys, E-Mails, Tweets, elektronische Nachrichten, soziale Netzwerke, Tauschbörsen, Suchmaschinen, unzählige Werbeansinnen, Telefone und sogar noch traditionelle Besucher und Versammlungen. All das muss irgendwie geordnet, sortiert, gezielt ignoriert werden. Verarbeitet werden kann es nicht mehr. Und: Professionelle und kompetente Debatten würden zunächst nur diesen Überfluss an Signalen erhöhen. Die Sortieraufgaben der Politik würden weiter steigen.

4. Vor allem (aber nicht nur) repräsentative Demokratien verheddern sich in Deliberationsschleifen und endlos erscheinenden Abstimmungsprozeduren. Zahlreiche formale und informelle Vetospieler wollen eingebunden werden, immer mehr Akteure beanspruchen Mitwirkung, und alle Beteiligten sind in Mehrebenenspielen befangen, die gesellschaftliches, staatliches und suprastaatliches Handeln zeitgleich erheischen. Politische Ergebnisse zu strategischen Herausforderungen (alternde Gesellschaften, Krise des Wohlfahrtsstaats, Bildungsdefizite, Integrationshemmnisse, Identitätsgefährdungen, die Neufassung sozialer Sicherheitssysteme, der relative Abstieg der USA, der relative Aufstieg Chinas, die Modularisierung der EU usw.) kommen auch deswegen entweder gar nicht zustande, nur in Minischritten oder mit einer sehr kurzen Wirkungsdauer.

Politik bedarf (nicht nur) in repräsentativen Systemen langwieriger Abstimmungen, Aushandlungen, Einbindungen. Bis es hier zu einer Entscheidung kommt, sind die Ausgangsprobleme längst woanders. Oder Stimmungen haben sich gewandelt und die formalen Regelungsmechanismen greifen nicht mehr (Stuttgart 21, Berliner Flughafen).

Man hat oft den Eindruck, als würden die demokratietheoretisch erwünschten aufgeklärten Diskurse durch endlose Palaver ersetzt, die in der Regel unzureichend informiert und unterkomplex sind, aber strategische politische Entscheidungen blockieren oder verwässern. Hinzu kommt vor allem in Deutschland eine Vielzahl nicht nur von Wahlen, sondern auch von Wahlterminen. 16 Landtagswahlen, je eine Bundestags- und Europawahl und einige wichtige Kommunalwahlen halten das politische Personal in einem entscheidungshemmenden Dauerwahlstress. Die Medien tragen das Ihre dazu bei, um oft belanglose Persona­lien und regionale Themen auf Bundesebene zu heben oder aber überall Abstimmungen über vermeintlich Grundsätzliches zu inszenieren.

Wir haben keinen Mangel an Debatten. Wir haben zu wenig Debatten, die nationale und transnationale Ebenen miteinander vernetzen, die komplexitätsoffen und lösungsorientiert sind.

5. Es gibt Lernblockaden, die schwer zu überwinden sind. Das gilt natürlich nicht nur für das politische Personal, ist dort aber besonders folgenreich. Die sich partiell herausbildende und überaus fruchtbare Fusion zwischen Sozial- und Lebenswissenschaften ist hier besonders erhellend. Es gibt Bedingungen sozialen und politischen Handelns, die nicht lernförderlich sind. Der Befund der kognitiven Konsistenz besagt, dass Individuen unbewusst vor allem solche Signale und Informationen zu- und an sich heranlassen, die bereits gegebene Einstellungen und Glaubenssätze bestätigen. Konträre Signale verstören und werden unbewusst herausgefiltert – keine gute Voraussetzung für Lernprozesse.

Hinzu kommt etwas Weiteres, etwas Verstörendes für diejenigen, die an eine Verbesserung der Politik durch bessere Beratung glauben. Lernen findet leider eher selten durch das Verfügen über mehr oder „besseren“ Informationen statt und eher öfter durch externe Schocks. Neue Sichtweisen auf die Energiepolitik hatten weniger Chancen durch den Bericht des Club of Rome (1972), sondern vor allem durch die Katastrophen in Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011).

Sich entgrenzende Kapitalmärkte haben zwar auch positive Effekte, aber sie bedürfen einer Einhegung durch Regulierung: Das konnte man wissen, doch es wurde erst durch den Kollaps von Lehman Brothers (2008) oben auf die Agenden gesetzt. Dass der Stabilitätspakt und der Euro – also eine Integration der Währungspolitik – wenig Aussichten haben ohne eine Fiskal- und Sozialunion, besser noch eine politische Union, war weithin bekannt; aber politikfähig wurde es, wenn überhaupt, durch die dramatischen Verwerfungen der Euro-Krise (seit 2010) mit der Aussicht in den Abgrund einer Auflösung der EU. Altbundeskanzler Gerhard Schröder hat es treffend formuliert: „Jetzt übernimmt die Krise die Aufgabe der Politik“.7  Diese Art von Lernen ist sehr kostenträchtig.

6. Politik ist zusehends auf Überlebensmodus gestellt, nicht mehr auf das Lösen struktureller Probleme. Das vielleicht dramatischste Beispiel ist die strukturelle Überschuldung vieler Nationalstaaten – keineswegs mehr nur der so genannten unterentwickelten Länder, sondern jetzt des Kerns der OECD. Auch Deutschland hat derweil eine Schuldenquote von über 80 Prozent des BIP (USA: 112, China: 22, die Grenze des Stabilitätspakts liegt bei 60 Prozent; Durchschnitt in der Euro-Zone: 92 Prozent).

Die USA sind national und international so sehr verschuldet, dass es ihre Handlungsfähigkeit daheim und jenseits der Grenzen immer mehr lähmt. Vor allem auch deshalb ist die bisherige Weltmacht nicht mehr in der Lage, ihre Rolle als Hegemon zu spielen. Die für jeden unvoreingenommenen Betrachter sichtbare Lösung, mitunter deutlich von der chinesischen Regierung eingefordert, besteht darin, „im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu leben“ – also massive Sparprogramme umzusetzen, ergänzt durch selektive Steuererhöhungen. Das ist aber in einer repräsentativen Demokratie nicht möglich – Wahlen würden verloren, und neue Regierungen würden dieselben harten Einschnitte aus denselben Gründen vermeiden: Politik steht still, und die Schuldenlasten steigen weiter. Das ist überaus anschaulich und beunruhigend an der Blockade der amerikanischen Innenpolitik der vergangenen zwei Jahre zu verfolgen.8  Derselbe Effekt ist jetzt in Europa zu beobachten.

Über von innen nicht mehr konsensfähige und von außen aufgenötigte Sparprogramme sind bereits die Regierungen in Irland, Portugal und Spanien gestürzt, und mehr als eine in Griechenland. Die stabilitätspolitisch erforderlichen Sparprogramme würden den Kern der über Jahrzehnte aufgebauten Wohlfahrtsstaatsmodelle und der Netze zwischen Patronen und Klientelgruppen verändern. Das ist nicht mehrheitsfähig – und damit in einer repräsentativen Demokratie kaum politikfähig.

Politik stößt an ihre Grenzen

Fassen wir diese sechs Ursachenbündel zusammen, verwundert es nur noch wenig, dass Politik ein strukturelles Performanzproblem hat. Sie stößt an ihre Grenzen, und damit nähern wir uns in der Tat dem „Ende der Politik“. Es ist auch nicht recht zu sehen, wie das – zumal im Rahmen des überkommenen Nationalstaats – zu verändern wäre. Ebenso wenig überrascht es dann auch, dass unsere Debatten nicht adäquat sind: Zu viele Parameter sind zu bedenken, zu viele Optionen zu wägen, zu viele Rücksichten zu nehmen, und es gibt keine Auffangnetze in Gestalt beruhigender Narrative mehr.

Also müssen wir uns wohl oder übel auf die Frage einlassen, was zu tun ist. Wenn Politik die immer noch hohen, wenn auch abnehmenden Erwartungen der Wählerschaften nicht mehr zufriedenstellend bedienen kann, müssen sich vielleicht die Erwartungen verändern, d.h. zurückgenommen werden. Diese Frage sollte nicht mit einer neoliberalen Programmatik verwechselt werden, die in vielem der Politik negativ verhaftet bleibt und die Performanz von Märkten überschätzt. Vielleicht müssen sich die Politik, und auch die Wissenschaft von derselben, nach 2000 Jahren stärker um ganz andere Konzepte und Selbstsichten bemühen. Ohnehin bedarf es im Bereich der inter- und transnationalen Beziehungen einer grundsätzlichen Neuverordnung, einer neuen flow-kompatiblen Kartografie politischen Handelns. Und ähnliches gilt wohl auch für die anderen Felder der Politik.

Das Problem gründet in der neuzeitlichen, der Renaissance zu verdankenden Mittelpunktrolle des Menschen für sein eigenes Geschick. Diese Rolle hat er über 500 Jahre dynamisch und innovativ gestaltet und genutzt. Die Moderne war überwiegend eine Erfolgsgeschichte. Aber Politik wurde damit auch nah an die Vorstellung eines ingenieurtechnischen Handelns gerückt. Da wir seit einiger Zeit aber nicht nur ahnen können (wie seit der „Dialektik der Aufklärung“), sondern auch wissen dürfen, dass menschliches Handeln strukturell kontingent ist – heute mehr denn je („Risikogesellschaft“) – verliert das Ingenieurkonzept an Strahlkraft.

Andere Konzepte mögen nun bedacht werden – etwa das der Modera­tion gesellschaftlicher Teilsysteme und transnationaler Ströme durch Politik, oder auch das der Navigation von Trends und Strömen, die im Kern nicht gezielt zu beeinflussen sind. Das setzt die Bereitschaft und Fähigkeit voraus, anhaltende Unordnung zu ertragen (sie wird bleiben), und ohne große, plausible Narrative auszukommen (es wird sie wohl nicht mehr geben).

Patentlösungen gibt es nicht. Bessere Beratung schadet nie, stößt aber an die oben beschriebenen Grenzen. Zivilgesellschaftliche Heilserwartungen werden, wenn überhaupt, nur begrenzt greifen – auch dort gibt es keine überlegene Lösungskompetenz. Legitimationsprobleme treten hinzu. Zuständigkeitsverlagerungen auf andere Ebenen scheinen aussichtsreicher – etwa auf Städte (was faktisch schon geschieht – sie sind die Knotenpunkte der Ströme, nicht Staaten) oder auf die oft zu Unrecht gescholtene oder verachtete EU.

Die Debatte über das „Ende der Politik“ und damit einhergehend über die Grenzen der Dis­kurse und Be­ratungsmodi verträgt keinen Aufschub. Sie wird unbequem sein. Aber unvermeidlich.

Prof. Dr.  Klaus Segbers  lehrt Politikwissenschaft  an der FU Berlin.

  • 1Siehe Eberhard Sandschneider und Sylke Tempel: Vom Management des Nichtwissens, IP, November/ Dezember 2012, S. 8–14.
  • 2Siehe dazu Klaus Segbers: The Emerging Global Landscape and the New Role of Globalizing City Regions, in: Mark Amen, Noah J. Toly, Patricia L. McCarney und Klaus Segbers (Hrsg.): Cities and Global Governance. New Sites for International Relations, London 2011, S. 33 ff.
  • 3Siehe Klaus Segbers: Alles fließt – Ansätze für ein neues Politikverständnis, in: Josef Braml, Thomas Risse und Eberhard Sandschneider (Hrsg.): Einsatz für den Frieden. Sicherheit und Entwicklung in Räumen begrenzter Staatlichkeit, DGAP Jahrbuch Internationale Politik, München 2010, S. 30–35.
  • 4Diese Argumente wurden in ähnlicher Form bereits vorgestellt in Spiegel Online, 13.8.2011, sowie in Debating Flinders, in: Contemporary Politics, 1/2012, S. 29–32.
  • 5Regisseur: J.C. Chandor, USA 2011, http://www.imdb.com/title/tt1615147/
  • 6Das Argument der Bundeskanzlerin, dass es in der Euro-Krise nicht den einen Hebel gibt, die eine Maßnahme, die etwas löst oder heilt, ist zutreffend. Aber daraus folgt nicht, dass Problemvermeidung, Problemverschiebung oder erkennbar nur kurzfristige oder unzureichende Maßnahmen die einzige Alternative sind.
  • 7„Wir haben Maastricht gebrochen. Das war richtig“, in: FAS, 25.11.2012.
  • 8Bob Woodward: The Price of Politics, 2012; Thomas E. Mann und Norman J. Ornstein: It’s Even Worse Than It Looks. How the American Constitutional System Collided With the New Politics of Extremism, New York 2012.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2013, Seite 54-63

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