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31. Aug. 2018

Viele Köche, kein Rezept

Haiti ringt mit schwachen Institutionen und internationalen Geldgebern

Meistens sind es schlechte Nachrichten, die aus dem ärmsten Teil der westlichen Hemisphäre zu uns kommen: Armut, ­Straßenproteste, Erdbeben. UN-Blauhelme und eine Vielzahl von Hilfsorganisationen sind seit Jahren in Haiti, doch Fortschritte bleiben aus. Wichtig wäre es, lokale Strukturen zu stärken und Projekte langfristig besser abzustimmen.

Stellen Sie sich vor, Sie fahren morgens auf dem Weg zur Arbeit noch zur Tankstelle und auf einmal kostet der Diesel doppelt so viel wie am Tag zuvor. Als Verbraucher macht Sie das wahrscheinlich ziemlich wütend. Ähnliches ist kürzlich in Haiti passiert, mit gravierenden Folgen. Die Ankündigung der Regierung, die Treibstoffpreise massiv zu erhöhen, hat zahlreiche Menschen zu Protesten auf die Straße getrieben. In der Hauptstadt Port-au-Prince blockierten Demonstranten Straßen, zündeten Autos an, plünderten Geschäfte. Landesweit kam es zu Unruhen. Aus Sicherheitsgründen flogen die Vereinten Nationen ihre Mitarbeiter aus. Amerikanische Fluggesellschaften strichen kurzum Flüge nach Port-au-Prince. Die Bilanz der Ausschreitungen: Verletzte, mindestens vier Tote und ein zurückgetretener Premier.

Die Regierung hatte Anfang Juli bekanntgegeben, die Treibstoffsubventionen in Höhe von 100 Millionen Euro im Jahr abzuschaffen und im Gegenzug die Preise für Benzin um 38 Prozent, für Diesel um 47 Prozent und für Kerosin gar um 51 Prozent zu erhöhen. Damit sollte mehr Geld im Staatshaushalt verbleiben – die Voraussetzung für ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Haiti für die Streichung der Subventionen Finanzhilfen und günstige Kredite in Aussicht stellt.

Aufgrund der Krawalle nahm die Regierung die Forderung nach wenigen Tagen zurück; Premierminister Jack Guy Lafontant und sein Kabinett traten kurz darauf zurück und kamen damit dem Misstrauensvotum des Parlaments zuvor. Damit stand Präsident Jovenel Moïse wochenlang unter Druck, eine neue Regierung zu bilden. Die Opposition mobilisierte gegen ihn und rief zum Streik auf.

Inflation und Armut

Internationale Experten kritisieren das Vorgehen der Regierung sowie die Politik des IWF. Sie argumentieren, dass die Ausschreitungen hätten vermieden werden können. Laut Währungsfonds soll Haiti jedoch an der geplanten Abschaffung der Subventionen festhalten und beim nächsten Versuch die Preise nur schrittweise anheben, um keine Unruhen zu riskieren. Die Schäden der Revolte werden inzwischen auf 2 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes geschätzt.

Die Fördermittel für Treibstoff machen ein Zehntel der öffentlichen Ausgaben aus – Geld, das zwar niedrige Spritpreise garantiert, das aber fehlt, um zum Beispiel dringend notwendige Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Gesundheit zu tätigen. Aufgrund Haitis ohnehin geringer Steuereinnahmen und schwacher Wirtschaft ist der kleine Karibik-Staat seit Jahrzehnten auf Geldmittel externer Akteure, zum Beispiel des Internationalen Währungsfonds, angewiesen. Gelder der Entwicklungshilfe machen gegenwärtig fast 40 Prozent des Staatshaushalts aus.

Die Bevölkerung leidet derweil unter der hohen Inflationsrate von aktuell 13 Prozent. Die Lebensmittel werden immer teurer – und das in einem Land, in dem die Mehrheit der Menschen in extremer Armut lebt. Hunger, Massenarbeitslosigkeit und Frustration angesichts der Regierung führen immer wieder zu Demonstrationen und Straßenblockaden.

Noch immer versucht sich das Land von dem schweren Erdbeben im Januar 2010 zu erholen, bei dem schätzungsweise 220 000 Menschen ums Leben kamen. In den Außenbezirken von Port-au-Prince sieht man an vielen Stellen noch den Schutt eingestürzter Häuser herumliegen. Milliarden Dollar waren damals in den Wiederaufbau geflossen, über zehntausend Organisationen leisteten Aufbauhilfe im Land. „Viele Hände machen die Last leichter“, lautet ein haitianisches Sprichwort, das vor diesem Hintergrund aber fast ­zynisch wirkt.

Mehr Schaden als Nutzen

Immer wieder haben in den vergangenen Jahren Skandale das Vertrauen der Bevölkerung in internationale Entwicklungsorganisationen erschüttert. Die britische Hilfsorganisation Oxfam wurde dieses Jahr aus dem Land geworfen. Mitarbeiter hatten offenbar Minderjährige missbraucht und Sexpartys gefeiert. Solche Skandale entziehen all jenen Organisationen die Legitimität, die die Bevölkerung unterstützen und dort helfen, wo der Staat seinen Aufgaben nicht nachkommt. Skandale ereignen sich jenseits des Rechtsstaats, wo Schutzbedürftige nicht sicher sind vor Übergriffen und wo sich Korruption sowohl auf staatlicher Seite als auch auf Seiten von Hilfsorganisationen breitmacht. Solche unmoralischen Fehltritte schüren verständlicherweise die Skepsis und durchaus auch den Hass auf Helfer in humanitärer Mission.

Wenig Rückhalt erfahren auch die UN-Blauhelme in der Bevölkerung. Die Mission kam 2004 nach Haiti, um das Land nach dem Staatsstreich gegen Präsident Jean-Bertrand Aristide zu stabilisieren. Die Soldaten sollten für mehr Sicherheit sorgen, indem sie unter anderem rivalisierende Banden und Rebellengruppen entwaffneten. Die Truppe geriet jedoch schnell in Verruf: Gewalt, sexuelle ­Übergriffe, Prostitution Minderjähriger – die Liste der Vorwürfe ist lang.

Darüber hinaus schleppten UN-Blauhelmsoldaten nach dem Erdbeben 2010 Cholera nach Haiti ein und lösten eine Epidemie aus, die sich bis über die Grenze der benachbarten Dominikanischen Republik ausweitete. Über 9000 Menschen starben an den Folgen der Infektionskrankheit. Die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen scheiterten daran, die Ausweitung rechtzeitig einzudämmen.

Nach 13 Jahren im Land folgte auf die UN-Friedensmission ­MINUSTAH im vergangenen Herbst die zivile Friedensmission MINUJUSTH. Im Frühjahr dieses Jahres wurde sie bereits um ein weiteres Jahr verlängert – etwa in weiser Voraussicht angesichts der aktuellen Krise? Um das Vertrauen der Haitianerinnen und Haitianer in die UN-Mission zu stärken, mussten sich die Blauhelme auf einen Verhaltenskodex verpflichten. Außerdem wurde eine Anlaufstelle geschaffen, wo Zwischenfälle gemeldet werden können.

Laut Mandat soll die neue Mission den haitianischen Staat bei der Ausbildung der Polizei unterstützen, die Justiz fördern und Menschenrechte schützen; auch Deutschland unterstützt die Ausbildung mit bis zu 20 Polizisten. Dabei geht es vor allem darum, den Rechtsstaat zu stärken. Haiti, das den zweifelhaften Ruf eines scheiternden oder gar gescheiterten Staates hat, leidet vor allem an der Schwäche seiner staatlichen Strukturen. Regierbarkeit herstellen nach jahrzehntelanger Erfahrung von Diktatur, Bürgerkriegen und mit einer am Boden liegenden Wirtschaft – das ist eine komplexe und äußerst schwierige Aufgabe.

Es mangelt an Koordinierung sowie an Kontinuität im Staatsapparat, in der Finanzierung und in der Politikriege an sich. Manche Ressorts verfügen nicht über ausreichend finanzielle Mittel, um ihre Mitarbeiter zu bezahlen. Diese arbeiten oft ­monatelang ohne Entlohnung, verlassen dann das Land oder arbeiten für internationale Organisationen, die mit Zahlungssicherheit ­locken. Manche Behörden werden gar ganz durch externe Gelder staatlicher Entwicklungszusammenarbeit ­finanziert.

Eine Republik der NGOs?

Selbst Experten und Entwicklungshelfer gestehen: Es sind einfach zu viele Organisationen in Haiti unterwegs. „Ich würde alle Aktivitäten sofort stoppen und die ganze Entwicklungszusammenarbeit neu organisieren“, sagte mir ein Vertreter einer haitianischen Organisation im Frühjahr in Port-au-Prince. Die internationalen Organisationen würden nur Unordnung schaffen und oftmals an den staatlichen Institutionen und lokalen Strukturen vorbei agieren, anstatt mit ihnen zu arbeiten und sie zu stärken.

Die Regierung hat so genannte Runde Tische zu bestimmten Themen ins Leben gerufen, um enger mit den internationalen Akteuren zusammenzuarbeiten. Dabei geht es darum, die Aktivitäten im Land besser zu koordinieren und sie an den Leitlinien der Politik auszurichten. Am Runden Tisch zur Katastrophenvorsorge wurde zum Beispiel das neue Gesetz zur Reorganisation des Zivilschutzes diskutiert. „Wenn der nationale Zivilschutz nun in eine Generaldirektion umgebaut wird, erhält er mehr Autonomie und kann so auf ein Vielfaches seiner aktuellen Mittel zugreifen“, erklärte ein UN-Mitarbeiter. Damit gewinne die Institution mehr Legitimität gegenüber ihren Partnern und könne das Katastrophen­risiko für die Bevölkerung reduzieren. Dies ist ein ständiges Thema für Haiti, das durch die Zerstörung durch tropische Stürme, Überschwemmungen und anhaltende Dürre immer wieder in seiner Entwicklung zurückgeworfen wird.

In diesem Zusammenhang beklagte ein UN-Berater: „Nach der ganzen humanitären Hilfe befinden wir uns im Dauerkrisenmodus. Haben alle etwa vergessen, was Entwicklung ist? Wir müssen uns erinnern und wieder langfristige Entwicklungsprogramme aufsetzen.“ Das bedeutet: längere Projektlaufzeiten, feste Finanzzusagen und eine bessere Risikoabschätzung, damit die Errungenschaften auch nachhaltig bleiben. Es geht darum, gemeinsam mit der Regierung die Ursachen anzugehen und nicht nur die Symptome zu behandeln. Doch dafür braucht es Visionen, Leadership und vor allem Stabilität.

Julia Harrer promoviert zu staatlichen Institutionen und Katastrophenvorsorge in Haiti und der Domini-kanischen Republik.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober, 2018, S. 116 - 119

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