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01. Nov. 2014

Vertrauen wär’ gut

… doch Amerika will Kontrolle: Zur Legitimität von Spionage

Wenn es um die geheimdienstliche Überwachung von befreundeten Staaten geht, trennen Berlin und Washington Welten. Was sich aus Sicht der Deutschen „nicht gehört“, gehört aus Sicht der Amerikaner schlicht dazu. Was hilft gegen die US-Schnüffelei, wenn moralische Empörung und völkerrechtliche Bedenken nicht verfangen? Einige Vorschläge.

In keinem anderen Land haben die nachrichtendienstlichen Aktivitäten der USA derartigen Anstoß erregt wie in Deutschland. Zwei Aspekte stehen dabei im Mittelpunkt: erstens die massive technische Überwachungstätigkeit der National Security Agency (NSA), die weit über die gezielte Aufklärung gegen einzelne Verdachtspersonen hinausgeht und auf die Zusammenführung möglichst vieler Daten setzt; und zweitens die „klassische“ Spionage, ob auf technische Mittel oder menschliche Quellen gestützt. Diese zielt darauf, über den Zugang zu nichtöffentlichen Informationen die Absichten und Aktivitäten staatlicher, aber auch wirtschaftlicher Akteure einzuschätzen.

Bei beiden Formen handelt es sich um Spionage, da personenbezogene Informationen in verdeckter Form gesammelt werden. Sie sind aus normativer Perspektive problematisch, weil sie in die Privatsphäre von Menschen hineinwirken, um deren Verhalten und Intentionen mit verdeckten Mitteln zu ergründen. Zudem wendet die klassische Spionage Methoden an, die moralische Probleme aufwerfen: Personen werden als Mittel gebraucht, sie werden getäuscht, zu bestimmten Handlungen erpresst.1 Aus Respekt vor der Würde des Menschen lässt sich ein grundsätzlicher Vorbehalt gegen Spionage postulieren. Diesen zu überwinden, bedarf es triftiger Rechtfertigungsgründe.

Die deutsche Reaktion auf die nachrichtendienstliche Tätigkeit der USA scheint sehr stark von der Enttäuschung geprägt zu sein, als befreundeter und ver­bündeter Staat keine Sonderstellung zu genießen und Objekt einer allgemeinen Praxis zu sein, die als unangemessen (klassische Spionage) beziehungsweise als unverhältnismäßig (massenhafte Überwachung) bewertet wird. „Aus­spähen unter Freunden, das geht gar nicht“, so Bundeskanzlerin Angela Merkel; diese Praxis sei nicht nur „überflüssig“, sondern sie „gehört sich einfach nicht“ (Außenminister Frank-Walter Steinmeier). Oder in den Worten von Verteidigungs­ministerin Ursula von der Leyen: „US-Geheimdienste tun scheinbar, was tech­nisch möglich ist, ohne die Grenzen des politisch Vertretbaren einzuhalten. Gerade gegenüber Verbündeten. Allen, die um die tägliche enge Zusammenarbeit mit Ameri­ka wissen, ist unverständlich, dass US-Dienste uns Deutsche ähnlich behandeln wie suspekte Nationen.“

Es ist also eine Mischung aus moralischen und funktionalen Argumenten, mit der die Legitimität der amerikanischen Spionagepraxis gegenüber Deutschland bestritten wird. Nicht ohne Grund bedient sich die Bundesregierung dabei keiner völkerrecht­lichen Argumentation. Für Spionage im Krieg greifen zwar kriegsvölkerrechtliche Regelungen; doch bis auf das Diplomaten- und Konsularrecht, das Diplomaten das Spionieren verbietet, gibt es im Friedensvölkerrecht keine Regeln für nachrichtendienstliche Tätigkeiten. Deshalb lässt sich sagen: Spionage ist zulässig, zumindest toleriert sie das Völkerrecht. So könnte die Bundesrepublik, wie manche Juristen nahelegen, die USA allenfalls wegen der vermuteten Stationierung von Abhöranlagen im Botschaftsgebäude vor dem Inter­nationalen Gerichtshof verklagen.

Was die Überwachung durch die NSA und die Ein­griffe in das Recht auf Privatleben angeht, wäre eine Staatenbeschwerde vor dem UN-Menschenrechts­ausschuss denkbar. Doch es ist strittig, inwieweit die USA und Großbritannien mit der extraterritorialen Überwachung menschenrechtliche Verpflichtungen verletzen. Die Menschenrechtsdeklaration fordert den Schutz der Privatsphäre, der Familie und der Korrespondenz vor will­kürlichen Eingriffen. Und das internatio­nale Abkommen über bürgerliche und poli­tische Rechte postuliert, dass Privatsphäre, Familie und Korrespondenz vor willkür­lichen oder ungesetzlichen Eingriffen geschützt sein sollten.

Was ist notwendig und verhältnismäßig?

Die rechtliche Diskussion läuft also darauf hinaus, was unter ungesetz­lichen und willkürlichen Eingriffen zu verstehen ist.2 Sofern die Überwachungstätigkeit ausländischer Bürger nach amerikanischem Recht rechtmäßig ist, kann sich die Debatte nur um Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit drehen. Und hierauf richten sich auch die Einwände, die die deutsche Seite in politischer, nicht jedoch rechtlicher Form vorgebracht hat. Denn Deutschland kann schlecht gegen die Legalität einer Praxis argumentieren, die – in weit kleinerem Stil gewiss – auch der Bundesnachrichtendienst und die Geheimdienste einiger anderer europäischer Staaten ausüben.3

Wie weit Deutschland und die USA in der Frage legitimer nachrichtendienstlicher Tätigkeit zwischen Verbündeten entfernt sind, zeigt sich beim Blick auf den amerikanischen Diskurs. So mancher Deutschland-Kenner mag Verständnis für die deutsche Entrüstung haben; doch für weniger empathische Kommentatoren ist die moralische Entrüstung in Deutschland bestenfalls naiv, vielleicht aber auch nur instrumentell aufgebauscht. Die moralische Aufregung dient aus einer solchen Perspektive allein dazu, die Debatte in den USA zu beeinflussen und der amerikanischen nachrichtendienst­lichen Tätigkeit Fesseln anzulegen.4

Der amerikanische Diskurs über die Legitimität von Spionage ist von Prämissen geprägt, die unerschütterlich scheinen. Aus der vorherrschenden „realistischen“ Sicht ist Spionage quasi die moralische Pflicht eines Staates, um die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Dass jeder gegen jeden spioniere, auch unter Freunden, ist eine weitere Annahme, die sich auf die Aussage von James Clapper, Director National Intelligence, vor dem Kongress stützen kann. Freundschaftsbekundungen sind aus realistischer Perspektive nur für die Öffentlichkeit gedacht. Aus realistischer Sicht ist Freundschaft ein Begriff, der in der internationalen Politik keinen Platz hat. Wirkliches Vertrauen zwischen Staaten sei nicht möglich, es sollte anderen Staaten nicht entgegengebracht werden.5 Denn mit der Loyalität gegenwärtiger Verbündeter könne keineswegs immer gerechnet werden; sie seien immer auch Konkurrenten und Rivalen, die nationale Interessen verfolgen. Verbündete hätten unterschiedliche Interessen und versuchten oft, manches vor den Augen der Partner zu verbergen. Da sich die USA verpflichtet haben, verbündeten Staaten im Extremfall zu Hilfe zu kommen, müssten sie möglichst genau wissen, was deren Regierungen beabsichtigen. Zudem seien auch unter Verbündeten zusätzliche nach­richtendienstliche Informationen sinnvoll, weil sie in Verhandlungen nützlich sein können. Und auch verbündete Staaten neigten dazu, nicht alle Informationen, die sie selbst gewonnen haben, an die USA weiterzugeben.6

Sicher gibt es im außenpolitischen Estab­lishment der USA auch Stimmen, die eher kritisch-zurückhaltend gegenüber Spionage unter Verbündeten sind. Doch das dort zu hörende Argument ist keineswegs prinzipieller Art, sondern orientiert sich eher am Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Vertrauen ist gut, Kontrolle auch über geheim gewonnene Informationen ist besser: So lässt sich die Haltung gegenüber verbündeten Staaten zusammen­fassen. Wenn die USA ein besonderes Vertrauensverhältnis haben, dann – soweit öffentlich bekannt – am ehesten zu den vier anderen Staaten der so genannten „Five Eyes“. Es handelt sich um den innersten der konzentrischen Kreise, mit denen die USA qualitativ unterschiedliche nachrichtendienstliche Beziehungen unterhalten. Die Zusammenarbeit zwischen den USA, Großbritannien, ­Kanada, Australien und Neuseeland entwickelte sich im Zweiten Weltkrieg. Diese von besonderer Loyalität getragene „Anglosphäre“ der geheimdienstlichen Kooperation hat bis heute Bestand. Die Mitgliedschaft in diesem Club scheint die einzige Garantie zu sein, dass die USA keine Spionageaktivität unternehmen – in der Regel muss man wohl sagen. Denn aus den öffentlich zugänglichen Quellen ist nicht erkennbar, ob in Ausnahmefällen auch gegen Bürger eines der Partnerländer spioniert werden darf, ohne dass die betreffende Regierung zugestimmt hat und in Kenntnis davon gesetzt ist. Außer dem engen Kreis der „Five Eyes“ gibt es offenbar noch weitere Kreise, was die Qualität der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit angeht: den der „Nine Eyes“ – zu den fünf kommen Norwegen, Dänemark, Frankreich und die Niederlande hinzu. Deutschland gehört, wenn diese Berichte zutreffen, zusammen mit Schweden, Spanien, Belgien und Italien nur zu den „14 Eyes“.

Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen den Geheimdiensten des engsten Kreisen gilt nicht für andere. Die Beziehung zum BND verglich ein pensionierter CIA-Beamter mit der zum Mossad: „Wir arbeiten mit ihnen, aber wir haben ihnen nie voll vertraut.“7 Wenn von Spionage gegenüber Deutschland die Rede ist, dann heißt es von nichtgenannten früheren Geheimdienstmitarbeitern, die meisten Aktivitäten in Deutschland zielten nicht darauf ab, an geheime deutsche Informationen zu gelangen. Sie seien vielmehr auf russische Geheimdienstaktivitäten (Maulwürfe im Staatsapparat), ausländische Terrorgruppen und iranische Beschaffungsaktivitäten gerichtet – und dies auch, weil deutsche Spionageabwehrfähigkeiten als unzureichend gelten.

Präsident Obama hat im Januar 2013 in seiner Rede zur NSA-Reform zwar selbstkritisch konstatiert, dass unter den für die nationale Sicherheit Verantwortlichen, ihn eingeschlossen, die Tendenz bestehe, eher mehr als weniger Informationen zu sammeln. Doch an der grundsätzlichen Notwendigkeit nachrichtendienstlicher Informationen ändert dies nichts, sie dienen laut Obama „legitimen nationalen Sicherheitszwecken“. Informationen würden nicht verwandt, um amerikanischen Firmen oder Wirtschaftssektoren Vorteile zu verschaffen. Und für die Staats- und Regierungschef befreundeter und verbündeter Staaten gelte die Regel, dass ihre Kommunikation nicht mehr über­wacht werde – es sei denn, „ein zwingender nationaler Sicherheitszweck“ erfordere dies.

Die USA betrachten Spionage – auch die gegenüber Verbündeten – prinzipiell als legitim. Lediglich im wirtschaftlichen Bereich unterscheiden sie zwischen einer legitimen, von den USA betriebenen Form und einer illegitimen, von anderen Staaten wie China und Frankreich praktizierten. Dass die USA gegenüber ihren europäischen Verbündeten auch im wirtschaftlichen Bereich nachrichtendienstlich aktiv sind, hatte schon im Jahre 2000 vor dem Hintergrund der Enthüllungen über das Echelon-Überwachungssystem der ehemalige CIA-Direktor R. James Woolsey bestätigt. Nach seinen Worten spionierten die USA europäische Unternehmen aus, weil sie versuchten, Aufträge in Drittstaaten durch Bestechung zu erhalten, weil sie insgeheim zivil und militärisch verwendbare Technologien an problematische Staaten lieferten und weil sie Sanktionen unterliefen. Die USA betrieben jedoch keine Industriespionage, nämlich die Ausspähung von Firmengeheimnissen, um diese an amerikanische Firmen weiterzugeben.

Als legitim im Bereich der wirtschaftlichen Spionage sehen es die Amerikaner, nachrichtendienstlich gewonnene Erkenntnisse in Handelsverhandlungen zu nutzen. Indirekt profitieren davon US-Konzerne. Auch zielen die nachrichtendienstlichen Aktivitäten auf Kenntnisse über das Wirtschaftsgebaren anderer Staaten und dessen Auswirkungen auf die Weltmärkte. Insofern ist die Trenn­linie zwischen Wirtschaftsspionage für öffentliche Zwecke und Wirtschaftsspionage im Interesse und zum Nutzen einzelner Firmen so scharf nicht, wie es die USA in der Auseinandersetzung gerade auch mit China behaupten.

Kein No-Spy-Abkommen

Angesichts der amerikanischen Haltung ist nur schwer verständlich, woraus sich die deutsche Erwartung speiste, ein No-Spy-Abkommen sei möglich. Frankreich hatte schon im Jahr 2010 die Erfahrung machen müssen, dass so etwas mit Präsident Obama nicht zu haben ist. Der Plan eines No-Spy-Abkommens zwischen den USA und Deutschland, das offenbar den Verzicht auf Regierungs- und Wirtschaftsspionage beinhalten sollte, ist vom Tisch.

Vielleicht war das ganze Vorhaben auch nur ein einziges Missverständnis. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man liest, was Barack Obama beim Besuch von Angela Merkel in Washington Anfang Mai 2014 zu diesem Thema klarstellte: „Es ist nicht ganz präzise zu sagen, dass die US-Regierung eine ­No-Spy-Vereinbarung anbot und sie dann zurückzog. Präzise ist zu sagen, dass wir mit keinem Land, mit keinem unserer engsten Partner ein Blanko-No-Spy-Abkommen haben.“ Und dann weiter: „Was wir haben, ist eine Reihe von Partnerschaften, Verfahren und Prozessen mit verschiedenen Geheimdiensten, und was wir mit den Deutschen – wie auch mit den Franzosen oder den Briten oder den Kanadiern oder jedem anderen – machen, ist auszuarbeiten, was genau die Regeln sind, die die Beziehung zwischen jedem der beiden Länder leiten, um sicherzustellen, dass es keine Missverständnisse gibt.“8

Wie die Verfahren konkret aussehen könnten, die Washington vorschweben, ist öffentlich nicht bekannt. Presseberichten zufolge hatte die US-Regierung im Juli 2014 der Bundesregierung ein Arrangement ähnlich dem der „Five Eyes“ vorgeschlagen. Offenbar sollte dieser Vorschlag dazu dienen, die Wogen über die Enttarnung eines mutmaßlichen amerikanischen Spions im BND zu glätten. Um eine „Mit­gliedschaft“ Deutschlands im engen Kreis der Fünf sollte es nicht gehen, einer Stellungnahme aus dem Weißen Hauses war zu entnehmen, dass an eine Änderung der „Five Eyes struc­ture“ nicht gedacht werde. Dass Deutschland aufgrund seiner gesetzlichen Rege­lungen an einer so engen Kooperation nicht teilnehmen kann (nicht zuletzt, weil es faktisch dann auch Informationen liefern würde, die zu gezielten Tötungen führen könnten), ist Deutschland-Kennern in Washington natürlich sehr wohl bewusst.

Gleichwohl kann es sinnvoll sein, weiterhin auch öffentlich den Dialog mit den USA über ihre nachrichtendienstliche Praxis zu suchen. Zu einem Dialog gehören sicher auch öffentlichkeitswirksame Signale, wie die Aufforderung an den Berliner CIA-Vertreter, das Land zu verlassen. Diese unter Verbündeten ungewöhn­liche Reaktion mag Washington vielleicht be­eindruckt haben und dazu beitragen, die eine oder andere nachrichtendienstliche Praxis in Deutschland sensibler zu reflektieren. Doch zu einem grundsätzlichen Überdenken der klassischen politischen Spionage wird es wohl nicht führen; und die elektronische Auf­klärungstätigkeit der NSA dürfte davon nicht betroffen sein.

Notwendiger Bestandteil eines solchen Dialogs wäre sicher auch, die USA zu einem besseren Schutz der Privat­sphäre ausländischer Personen zu drängen und nachzuhaken, wie das Ergebnis der Über­prüfung des Umgangs mit den Daten aus­ländischer Personen aussieht, die Obama im Januar 2014 in Auftrag gegeben hat. Privatsphäre und bürgerliche Rechte sollen, so heißt es in der Presidential Policy Directive 28, „integrale Erwägungen“ bei der Planung der Aufklärungsaktivitäten sein.

Wer politische Spionage gegen die Regierung eines verbündeten Staates in Frage stellt, muss sich eines nor­mativen Arguments bedienen, das prin­zipiellen Charakter hat – und im amerikanischen Diskurs nicht als Ausdruck von Kränkung, Sentimentalität oder Scheinheiligkeit abgetan werden kann. Entsprechende Überlegungen hat Raphael Bitton in einem Manuskript mit dem Titel „The Legitimacy of Spying Among Nations“ (2013) niedergelegt, an das im Folgen­den angeknüpft wird.

Über die Grenzen legitimer Spio­nage streiten

Wie lässt sich Spionage in Friedenszeiten überhaupt rechtfertigen? Wie lässt sich eine Praxis legi­timieren, deren moralische Kosten aufgrund der betriebenen Praktiken beträchtlich sein können, und es daher nicht wünschenswert sein kann, dass jederzeit alle gegen alle spionieren? Spionage im Frieden ist keine exzeptionelle, sondern eine durchgängige Aktivität, die dazu dient, Bedrohungen zu erkennen. Wie also kann derartige Spionage gerechtfertigt werden? Wie sähe das Prinzip aus, dem rationale Staaten in unparteiischer Abwägung zu­stimmen könnten?

Ein solches zustimmungsfähiges Prinzip wäre, so das Argu­ment, die „Pflicht zu grundlegender Trans­parenz“. Fehlt es an solcher Transparenz, rechtfertigt das den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel. Im Falle demokratischer Staaten ist die notwendige Transparenz ihrer Absichten und Fähigkeiten gegeben, denn diese zeich­nen sich durch ein hohes Maß an Offenheit aus, was Dis­kussions- und Entscheidungsprozesse angeht. Ihre „strategischen Intentionen“ sind erkennbar; es bedarf hierzu nicht der Spionage, sie ist nicht notwendig und daher nicht gerechtfertigt. Sollte die Politik eines demokratischen Staates für einen anderen Staat bedrohlich werden, bleibt genügend Zeit, sich darauf vorzubereiten. Gegenüber illiberalen Staaten ist Spionage jedoch als Mittel gerechtfertigt, um Transparenz herzustellen.

Politische Spionage unter gefestigten liberalen Demokratien ist sicherheitspolitisch nicht notwendig und daher nicht zu rechtfertigen. Deshalb wäre es zielführend, wenn einige demo­kratische Staaten auf dieser normativen Grundlage einen Kodex für den Verzicht auf Spionage im politischen System der anderen Staaten entwickeln würden und dafür Sorge tragen, dass dieser nachweislich eingehalten wird. Ein solches Prinzip schließt im Übrigen nicht aus, dass problematische Entwicklungen auch in verbündeten Staaten nachrichtendienstlich verfolgt werden, etwa die grenzüberschreitenden Aktivitäten organisierten Verbrechens.

Die USA begründen ihre klassische politische Spionage gegenüber unterschiedslos allen Staa­ten mit ihren außen- und sicherheitspolitischen Inter­essen als Weltmacht. Bei der Legitimation der elektronischen Überwachungspraxis gesellt sich noch ein anderes Argument hinzu: Die USA nehmen mit ihrer geheimdienstlichen Tätigkeit eine ordnungspolitische Aufgabe wahr, die im Interesse aller Staaten liegt, insbesondere wenn es um die Abwehr von transnationalem Terrorismus geht. Sofern die USA hier ein kollektives Gut bereitstellen, lässt sich dieses Argument kaum in Zweifel ziehen. In der Diskussion mit den USA kann es nicht um die prinzipielle Frage „Spionage unter Ver­bündeten – Ja oder Nein“ gehen, sondern um Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer in Grundrechte eingreifenden Praxis.

Überwachung im großen Stil soll der Sicherheit dienen, sie gefährdet aber die Privat­sphäre vieler Bürger. Ihr Nutzen muss abgewogen werden gegen Kosten und Schaden, die sie unausweichlich mit sich bringt: die Kosten eines Überwachungs­apparats, der, auch wenn er nicht außerhalb rechtlicher Regelungen operiert, diese jedoch bis an ihre Grenzen strapaziert; den Schaden, der unzähligen Bürgern nicht nur, aber vor allem außerhalb der USA daraus erwächst, dass ihre Privatsphäre verletzt wird und dass innerstaatlich geltende Garantien über den Aus­tausch von Informationen zwischen ko­ope­rierenden Geheimdiensten faktisch ausgehöhlt werden.

Überwachungsmaßnahmen großen Stils, also nicht nur die gezielte Überwachung Verdächtiger, sollen Anschläge verhindern. Doch der Nachweis, dass die amerika­nischen Programme wirkungsvoll sind, wurde bislang nicht erbracht. Wenngleich es Erfolge gibt, so kommen schon rein statistisch auf einen über die Analyse massenhafter Daten entdeckten Terroristen viele „falsche Posi­tive“, das heißt Personen, die fälschlicherweise überwacht, festgehalten, auf die Beobachtungsliste oder auf die Flugverbotsliste gesetzt werden. Wie umfangreich diese Listen geworden sind, zeigen die von der Website The Intercept am 5. August 2014 veröffentlichten geheimen Daten: Im August 2013 standen 680 000 Personen auf der Liste bekannter oder vermuteter Terroristen, 280 000 davon waren keiner bekannten terroristischen Gruppe zugeordnet; 47 000 Personen standen auf der Flugverbotsliste.

Der amerikanische „Sicherheitsstaat“ nimmt seine Aufgaben sehr ernst. Der deutsch-amerikanische Konflikt über die Legitimität von Spionage unter „Freunden“ kann nicht auf das Verhalten vermeintlich außer Kontrolle geratener Geheimdienste oder Versagen von Politikern in Washington zurückgeführt werden. Denn die Politik möglichst umfassender Informationsgewinnung wird von einem breiten Konsens im politischen System der USA getragen. Washington ist von der grundsätzlichen Legitimität des eigenen Handelns überzeugt. Wer Staat und Bürger in Deutschland vor den nachrichtendienstlichen Aktivitäten der USA besser schützen will, wird daher nicht umhin kommen, diese Tätigkeit direkt zu erschweren und indirekt das Kosten-Nutzen-Kalkül Washingtons zu beeinflussen – etwa über die Verknüpfung mit der Zusammenarbeit in anderen Politikfeldern.

Dr. Peter Rudolf ist Senior Fellow der Forschungsgruppe Amerika in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin.

  • 1Zur Problematik siehe Anita L. Allen: The Virtuous Spy: Privacy as an Ethical Limit, University of Pennsylvania Law School, Research Paper Nr. 07-34, 2008.
  • 2Report of the Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: The right to privacy in the digital age, A/HRC/27/37, 30.6.2014.
  • 3Didier Bigo u.a.: National programmes for mass surveillance of personal data in EU Member States and their compatibility with EU law, European Parliament, Directorate General for Internal Policies, Policy Department C: Citizens’ Rights and Constitutional Affairs, 2013.
  • 4Reuel Marc Gerecht: When to Spy on Our Friends, The Weekly Standard, 11.11.2013; Aube Rey Lescure: Spying on Friends, The Yale Globalist (Blog), ohne Datum.
  • 5Jennifer Sims: I Spy … Why Allies Watch Each Other, Foreign Affairs, 6.11.2013.
  • 6Daniel Byman und Benjamin Wittes: Reforming the NSA: How to Spy After Snowden, Foreign Affairs, Mai/Juni 2014, S. 127–138; Max Fisher: Why America spies on its allies (and probably should), Washington Post Blogs, 29.10.2013; Elbridge Colby: The Case for Spying on Our Allies, National Review Online, 4.12.2013.
  • 7„We work with them, but we never fully trusted them.“ Zitiert in Eli Lake: One Big Reason TheCIA Spied on Germany: Worries About Russian Moles in Berlin, The Daily Beast, 12.7.2014.
  • 8Zitiert in Dustin Volz: Obama – We Do Not Have a Blanket No-Spy Agreement With Any Country, National Journal, 2.5.2014.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S. 26-33

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