Vergebliche Liebesmüh’
Die Eurasische Wirtschaftsunion dürfte Außenhandelsprobleme kaum lösen
Maria Davydchyk und Ekaterina Romanova | Während sich die Ukraine der EU annähert, hat Russland mit Belarus und Kasachstan ein eigenes Integra-tionsprojekt begonnen. Ende Mai 2014 wurden die Gründungsdokumente der Eurasischen Wirtschaftsunion unterzeichnet. Der Weg zu einem gemeinsamen Markt ist aber noch weit, sein Effekt ohnehin fraglich.
Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew formulierte die Idee schon 1994, nach dem Zerfall der Sowjetunion. Am 29. Mai 2014 nahm sie in Form der Eurasischen Wirtschaftsunion zwischen der Russischen Föderation, Belarus und Kasachstan Gestalt an: Der in Astana unterzeichnete Unionsvertrag baut auf der 2010 geschaffenen Zollunion und auf dem 2012 geschaffenen Einheitlichen Wirtschaftsraum auf und soll am 1. Januar 2015 in Kraft treten. Er werde, so versprachen die Präsidenten der drei Länder, einen massiven Effekt auf die Ökonomien der Mitgliedstaaten haben.
Ein gemeinsamer Markt mit rund 170 Millionen Verbrauchern soll so entstehen, der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften gewährleistet werden – wodurch der Handel und die gegenseitigen Investitionen steigen sollen. Das wichtigste Ziel ist die Schaffung eines unabhängigen „Zentrums“ im eurasischen Raum: Das supranationale Organ, die Eurasische Wirtschaftskommission, soll vor allem die makroökonomische, die Wettbewerbs- und Energiepolitik, Industrie- und Agrarsubventionen, die Finanzmärkte sowie die Handelspolitik koordinieren. Die Mitgliedstaaten wollen Transaktionskosten senken und die Wettbewerbsvorteile ihrer Unternehmen auf den Weltmärkten stärken, indem sie Handelsbarrieren abbauen und den Binnenmarkt erweitern. Allerdings wären für solch komplexe Integrationsmodelle ein vergleichbares Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung in den Mitgliedstaaten erforderlich, ein in erheblichem Maße komplementärer Charakter des gegenseitigen Handels, effiziente Integrationsinstitutionen sowie weitgehend übereinstimmende politische Motive. Russland treibt die wirtschaftliche Integration also aktiv voran. Aber es stellt sich die Frage, ob diese Integration wirklich eine Antwort für die Probleme bietet, die die russische Außenhandelspolitik zu bewältigen hat.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich die russischen Außenhandelsströme infolge des Verlusts traditioneller Absatzmärkte, des Zerfalls von Produktionsketten innerhalb der GUS-Staaten und des Beitritts der mittel- und osteuropäischen Länder zur EU vollkommen neue Wege gebahnt. Die damit einhergehende Liberalisierung des Außenhandels sollte dazu führen, die russische Wirtschaft gleichberechtigt in die globale Ökonomie zu integrieren. Der Anteil der Energieträger an den russischen Ausfuhren wuchs jedoch stetig. Gleichzeitig sank die Wettbewerbsfähigkeit von heimischen Erzeugnissen des Maschinenbaus auf den westlichen Märkten. Nach Angaben des russischen Föderalen Zolldiensts beträgt der Anteil von Maschinen und Ausrüstungen am Gesamtexport gegenwärtig nur noch etwa 8 Prozent.
Weniger importieren, mehr Wert schöpfen
Der Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation im August 2012 soll gewährleisten, dass marktwirtschaftliche Grundsätze bei der Regulierung der Außenhandelsströme gestärkt und ungerechtfertigte Beschränkungen auf diesem Gebiet aufgehoben werden. Mit dem WTO-Beitritt stehen nicht nur die Märkte in der Russischen Föderation für Waren aus WTO-Mitgliedstaaten offen, sondern auch die in Belarus und Kasachstan, die der Welthandelsorganisation zwar noch nicht angehören, aber schon jetzt gezwungen sind, sich nach ihren Regeln zu richten. Seitdem sind bestimmte Warengruppen aus Belarus und Kasachstan, insbesondere Erzeugnisse des Maschinenbaus, auf dem russischen Markt dem Wettbewerb durch neue Anbieter ausgesetzt, ihr Absatz verringert sich stetig. Nach Angaben der Eurasischen Wirtschaftskommission sind die belarussischen Maschinenbau- und Transportmittelausfuhren nach Russland 2013 um 16,2 Prozent und der kasachische Export von Maschinen, Ausrüstungen und Transportmitteln um 19,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken.
Die Möglichkeit, dass die USA und die Europäische Union Russland wegen seines Vorgehens in der Ukraine Sanktionen auferlegen, hat zu Überlegungen geführt, ob sich die Importe aus dem Westen ersetzen ließen. Die Abhängigkeit von Einfuhren, die mit Hochtechnologien und Ausrüstungen für die Modernisierung von Wirtschaft und Infrastruktur verbunden sind, ist allerdings sehr hoch. Nach Angaben des Föderalen Zolldiensts fallen die Hälfte der russischen Einfuhren aus dem so genannten Fernen Ausland und rund 30 Prozent der Importe aus den GUS-Staaten auf Maschinen und Ausrüstungen. 2013 hat Russland Maschinen, Ausrüstungen und Transportmittel im Wert von 154,4 Milliarden Dollar eingeführt – gegenüber 2007 eine Steigerung von über 150 Prozent. In diesem Bereich ist nur ein schwaches Substitutionspotenzial vorhanden.
Somit steht Russland gerade in diesem Bereich vor der dringenden Aufgabe, nicht nur den Export zu fördern und die Märkte für seine Erzeugnisse zu erweitern, sondern auch die Art seiner Einbindung in die internationale Arbeitsteilung zu verändern, also die Struktur des Außenhandels gemeinsam mit den Partnerländern durch Schaffung von Wertschöpfungsketten, beispielweise im Maschinenbau und in der Erdöl- und Erdgaschemie, zu diversifizieren. Neben der Reduzierung der Abhängigkeit von Rohstoffexporten ist der Ausbau des Handels mit Waren von hohem Mehrwert die größte Priorität.
Öl und Gas exportieren, Waren importieren
Fest steht jedenfalls: Der Handel innerhalb des Einheitlichen Wirtschaftsraums ist gegenwärtig nicht in der Lage, die Ausfuhren in Drittländer auszugleichen. 2013 betrug der Anteil des Handels mit Drittländern 87,9 Prozent vom gesamten Außenhandelsvolumen der Teilnehmerstaaten des Einheitlichen Wirtschaftsraums. Gleichzeitig gibt es zwischen den einzelnen Ländern beträchtliche Unterschiede. So betrug der Anteil der Drittländer am russischen Außenhandel 2013 92,5 Prozent und am Außenhandel von Kasachstan 81,6 Prozent. Nur in Belarus entfiel weniger als die Hälfte der Außenhandelsströme auf Drittländer (49,3 Prozent). Zudem handelt Ölland mit Ölland: Genau wie andere postsowjetische Länder mit einer rohstoffbasierten Wirtschaft (wie Aserbaidschan) sind Russland und Kasachstan nur minimal auf den Handel mit anderen GUS-Staaten ausgerichtet und werden vom Energiesektor dominiert: Im Handel mit den EU-Ländern betrug der Gesamtumfang der Ausfuhren von mineralischen Rohstoffen aus den Staaten des Einheitlichen Wirtschaftsraums rund 81 Prozent.
Unterschiedlichste Waren und Dienstleistungen wiederum, deren Nachfrage nicht durch die Produktion innerhalb des Einheitlichen Wirtschaftsraums gedeckt werden kann, führt man in größtem Umfang aus Drittländern ein. So betrug der Anteil von Maschinen, Ausrüstungen und Transportmitteln an den Gesamteinfuhren der Mitgliedstaaten 46,7 Prozent; 15,9 Prozent entfielen auf chemische Erzeugnisse, weitere 13,2 Prozent auf Nahrungsmittel und landwirtschaftliche Rohstoffe.
Untereinander handeln die Mitgliedstaaten immer weniger: 2013 entfielen nur 12,1 Prozent des gesamten Außenhandels der Teilnehmer am Einheitlichen Wirtschaftsraum auf ihren gegenseitigen Handel. Innerhalb der vergangenen zwei Jahre sank dieser Umsatz 2013 um 5,5 Prozent, in den ersten drei Monaten von 2014 gar um 12,6 Prozent. Dies ist in erster Linie ein Ergebnis der Reduzierung des Handels mit Energieressourcen – der gegenseitige Handel zwischen Russland, Kasachstan und Belarus ist in diesem Bereich erheblich stärker zurückgegangen als der Handel mit Drittländern (ein Minus von 2,1 Prozent).
Die Annahme läge nahe, diesen Einbruch zumindest zum Teil durch den allgemeinen Rückgang von Investitions- und Verbrauchernachfrage in Russland zu erklären (wobei sich insbesondere die Ukraine-Krise auswirkt). Der Rückgang ist aber in erster Linie eine Folge der Reduzierung des russischen Exports von Erdöl und Erdölprodukten: Die Lieferungen von Russland nach Kasachstan sind um das 3,2-Fache und die Lieferungen nach Belarus um 7,1 Prozent gesunken. Somit ist der Handel zwischen Kasachstan und Russland um 13 Prozent (sein Anteil am gesamten gegenseitigen Handel betrug 30,8 Prozent) sowie der Handel zwischen Russland und Belarus um 7,3 Prozent eingebrochen (dessen Anteil am Gesamtbinnenhandel 67,7 Prozent betrug). 2013 lag das Gesamtvolumen des gegenseitigen Handels bei 64,1 Milliarden Dollar – ein Wert, der ungefähr dem entspricht, was die Länder der Union im gleichen Jahr alleine aus China importiert haben.
Wie der Handel mit Drittländern ist auch der Binnenhandel sehr stark durch natürliche Ressourcen geprägt. Bei Gründung der Zollunion 2010 betrug der Anteil der mineralischen Produkte am Binnenhandel zwischen den Mitgliedstaaten der Zollunion und des Einheitlichen Wirtschaftsraums 38 Prozent (2011: um die 40 Prozent, 2012: 37,4 Prozent). 2013 ging der Anteil der mineralischen Produkte infolge sinkender Weltmarktpreise für Erdöl auf 33 Prozent zurück. Der Vertrag über die Eurasische Wirtschaftskommission sieht vor, dass ein gemeinsamer Erdölmarkt frühestens 2025 geschaffen wird. Bemerkenswert ist dabei die Sonderrolle von Belarus: Über die Verträge zu Zollunion, Einheitlichem Wirtschaftsraum und Eurasischer Wirtschaftskommission hinaus unterhält Minsk ein bilaterales Abkommen mit Russland, das russische Erdöl- und Erdgaslieferungen zollfrei stellt. Belarus zahlte den Exportzoll (auf die Lieferung von Erdölprodukten in Drittländer) in Höhe von ca. vier Milliarden Dollar an den russischen Staatshaushalt zurück. Die belarussische Zustimmung zur Unterzeichnung des Vertrags über die Eurasische Wirtschaftsunion war zum großen Teil einer bilateralen Übereinkunft geschuldet, in der Russland für 2015 einen Nachlass in Höhe von 50 Prozent auf diese Rückzahlung einräumte.
Die Rohstoffexporte steigen …
Für den Weltmarkt ist Russland ein ökonomisches Randgebiet mit einem stetig wachsenden Brenn- und Rohstoffsektor. Gegenwärtig entfallen über 70 Prozent des Wertes aller russischen Exporte auf Erdöl (und Erdölprodukte) sowie Erdgas. Berechnungen, die anhand von statistischen Daten des Föderalen Zolldiensts erstellt wurden, zeigen, dass der russische Erdgasexport zwischen 2007 und 2013 um 49 Prozent, der Export von Erdöl und Erdölprodukten um 57 Prozent, der Export von Strom um 60 Prozent sowie der Export von Kohle und Koks um 85 Prozent gestiegen sind.
Die Spezialisierung auf Rohstoffe macht die Wirtschaft des Landes von externer Nachfrage und der Weltkonjunktur abhängig. Schwankungen des Preises für Erdöl auf den externen Märkten können die Ausgeglichenheit des russischen Staatshaushalts gefährden. Internationale Finanzinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank gehen mittelfristig von sinkenden Preisen aus. Schätzungen des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung der Russischen Föderation zufolge wird der durchschnittliche Barrelpreis für Erdöl 2014 bei 101 Dollar liegen. Wurde der Staatshaushalt seit Januar 2014 durch die sanfte Abwertung der nationalen Währung nominell mit Rubeln gefüllt, so kann nach Ansicht von IWF-Experten eine Verringerung des Barrelpreises für Erdöl auf 80 Dollar dazu führen, dass das Bruttoinlandsprodukt um 2 Prozent sinkt. Dann kann auch keine Abwertung mehr, welcher Art auch immer, einen Haushaltsüberschuss gewährleisten. Für die nächsten drei Jahre (2014 bis 2017) liegt dem russischen Staatshaushalt ein Erdölpreis von 93 bis 95 Dollar je Barrel zugrunde.
… aber Diversifizierungstendenzen gibt es doch
Die Analyse der Handelsströme zeigt, dass sich der Handel mit Drittländern und mit den Ländern des so genannten Nahen Auslands unterschiedlich entwickelt. So wuchsen im Zeitraum von 2007 bis 2013 die Ausfuhren von Kohle, Koks, Buntmetallen und Wodka in die Länder des Fernen Auslands stärker als die entsprechenden Exporte in die Staaten der GUS. Gleichzeitig waren die Ausfuhren von Stahl, Baumwollstoffen und forstwirtschaftlichen Erzeugnissen in die Länder des Fernen Auslands rückläufig, während der Export dieser Warengruppen in die GUS-Staaten in diesem Zeitraum stieg. Im Vergleich zu den Ländern des Fernen Auslands stieg zwischen 2007 und 2013 der russische GUS-Stromexport sehr viel stärker. Dies trifft auch für Erzeugnisse der chemischen Industrie (2013 ein Wachstum um 71 Prozent gegenüber 15 Prozent in die Länder des Fernen Auslands), für Erdöl und Erdölprodukte (ein Wachstum um 90 Prozent gegenüber 55 Prozent in die Länder des Fernen Auslands) und mineralische Düngemittel zu (ein Wachstum um 127 Prozent gegenüber 35 Prozent in die Länder des Fernen Auslands).
Eine weitere Diversifizierungstendenz zeichnet sich im Automobilbau ab: Globale Hersteller errichteten in Russland in den vergangenen Jahren einige großserielle Montagestandorte. Eine Folge: Der russische Transportmittelexport in die GUS-Staaten wuchs zwischen 2007 und 2013 um 16 Prozent.
Für Russland steht bei der Eurasischen Wirtschaftsunion viel auf dem Spiel: Das neue Integrationsprojekt soll Russlands Rolle als unabhängiger globaler Akteur und Konsolidierungszentrum im postsowjetischen Raum untermauern. Russland betrachtet die Eurasische Wirtschaftsunion und die GUS als einen erweiterten Binnenmarkt, der dringend benötigt wird, um die verarbeitenden Industriezweige schneller zu entwickeln und die massiven strukturellen und technologischen Probleme in der Wirtschaft zu beseitigen.
Von Russlands Erfolg hängen auch die anderen ab
Die russische Wirtschaft ist aber tief in die globalen ökonomischen Prozesse eingebunden und befindet sich, wie die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 gezeigt hat, in tiefer Abhängigkeit zur globalen Konjunktur für Brenn- und Rohstoffe. Der Sturz der Erdölpreise auf unter 45 Dollar je Barrel 2009 ließ das russische BIP um 8 Prozent schrumpfen. Mit anderen Worten: Das „Wohlbefinden“ der russischen Wirtschaft lässt sich leicht am Ölpreis ablesen. Das größte Problem für die russische Wirtschaft im Allgemeinen und für die Außenhandelspolitik im Besonderen ist die schwache Exportdiversifizierung, gekoppelt mit einer immer größeren Abhängigkeit vom Import hochtechnologischer Maschinen und Ausrüstungen aus Drittländern.
Das Integrationsmodell, das Russland mit der Eurasischen Wirtschaftsunion verfolgt, steht allerdings im Widerspruch zur Außenwirtschaftspolitik (die ja außenwirtschaftliche Aktivitäten operativ regeln muss) und erst recht zu einer langfristigen Außenwirtschaftsstrategie. Eine solche Strategie müsste in erster Linie bei makroökonomischen Aufgaben ansetzen. Sie kann nur erfolgreich sein, wenn die rechtlichen und marktwirtschaftlichen Institutionen verbessert werden und eine energische technologische Modernisierung erfolgt, die erhebliche Investitionen erfordert. Und: Von der Diversifizierung und Modernisierung der russischen Wirtschaft werden die anderen Mitgliedstaaten der Eurasischen Wirtschaftsunion abhängen – wie gegenwärtig Kasachstan und Belarus sowie die potenziellen Kandidaten Armenien und Kirgisistan.
Dr. Ekaterina Romanova ist Projektkoordinatorin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau.
Dr. Maria -Davydchyk arbeitet im Berthold-Beitz-Zentrum – Kompetenzzentrum für Russland, Ukraine, Belarus und Zentralasien im Forschungs- institut der DGAP.
IP Länderporträt Russland 4, Juli/August 2014, S. 14-19