Untergehen, um zu überleben
Warum der Weg vom Nationalstaat zum europäischen Unionsstaat führen muss
Der Fortgang der europäischen Integration ist seit langem nicht mehr frei gewählt, sondern aufgrund globaler Herausforderungen notwendig. Anhand der beiden Beispiele Weltwirtschaftskrise und Klimawandel erklärt der Autor, warum die Schaffung eines europäischen Unionsstaats so wichtig ist: ohne ihn gingen die Nationalstaaten unter.
Bedeutet die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise das Ende der Europäischen Union? Ja, weil es um mehr als „nur“ eine neue institutionelle Ordnung geht, wie sie mit der andauernden Krise um den Reformvertrag im Mittelpunkt steht. Die derzeitigen globalen Umwälzungen berühren den Kern der europäischen Einigung: den gemeinsamen Wohlstand und die gegenseitige Solidarität, die auf dem Binnenmarkt und seinen Regeln fußen. Wenn die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Stützungsmaßnahmen nur auf deklaratorischer Ebene europäisch, substanziell aber national sind; wenn Solidarität zwar verkündet, aber offengelassen wird, ob die Volkswirtschaften von EU-Mitgliedstaaten tatsächlich gerettet würden – dann ist das Fundament zum Überwinden dieser Krise in der Tat wackelig.
Über Europas Unfähigkeit zu klagen, ist auch in den meisten Medien en vogue. Noch im vergangenen Sommer konstatierte beispielsweise diese Zeitschrift die „Ohnmacht der Mächtigen“ angesichts von Klimawandel, Ölknappheit, und – damals noch sehr präsent – einer Nahrungsmittelkrise. Weniger als ein halbes Jahr später titelte sie von der „Stunde der Staaten“, die mit dem neuen globalen Krisenmanagement angebrochen sei. Die EU, weder wirklich mächtig, noch ein echter Staat, tauchte nur am Rande auf.
Doch gibt es einen zweiten Teil der Antwort auf die Eingangsfrage: Nein, die Europäische Union wird nicht untergehen; sie wird aber ihren Charakter verändern und staatsähnlicher werden. Über 50 Jahre lang befand sich die europäische Integration in einer verfassten Schwebe. Sie war und ist mehr als ein loser Zusammenschluss von Nationalstaaten, doch weniger als ein europäischer Bundesstaat. Das Spannungsverhältnis zwischen mitgliedstaatlicher und Unionsebene ist konstitutiv für die EU, und bislang durfte das bestehende Gleichgewicht nur graduell verändert werden. Dieses Arrangement ist nun am Ende. Europa wird, vielmehr: die Staaten Europas werden einen großen Sprung machen müssen, so sie denn nicht untergehen wollen.
Diese These basiert auf zwei Beobachtungen, eine die vergangene, die andere die gegenwärtige Politik betreffend. Die bisherige Integrationstendenz in den vorausgegangenen zwei Dekaden hat sich von einer gewählten zu einer notwendigen Integration verschoben. Heute sind spezifische globale Herausforderungen wie die Wirtschaftskrise und der Klimawandel zu Triebkräften der europäischen Integration geworden. So unzureichend die bisherigen europäischen Reaktionen für die Problemlösung im Einzelfall sein mögen, so bergen sie doch das Potenzial für eine fortschreitende politische und wirtschaftliche Integration. Die potenzielle Bedrohung jeweils unterschiedlicher vitaler Systeme – der Klimawandel gefährdet das globale Habitat, die Wirtschaftskrise unterspült die Fundamente des globalisierten Kapitalismus – erzwingt also Antworten, welche ihrerseits die Balance zwischen Mitgliedstaaten und Unionsebene nachhaltig verändern werden.
Von der gewählten zur notwendigen Integration
Bis zum Fall der Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion 1991 war die europäische Integration „gewählt“, d.h. die Staaten schlossen sich freiwillig und ohne äußeren Druck zusammen. Die Hauptbedrohung, die atomare Konfrontation, wurde durch die NATO abgewehrt, der die meisten Staaten der damaligen EG angehörten. Entsprechend gründete sich die europäische Integration auf wirtschaftliche Opportunität, später zusätzlich auf eine sich herausbildende außenpolitische Identität und zuletzt auch auf eine entstehende europäische Bürgerschaft. Der Maastrichter Vertrag, das letzte große Produkt dieser gewählten Integration, bildet diese drei Integrationsbereiche in seiner Säulenstruktur ab.
- Ging es bei der wirtschaftlich motivierten Integration anfangs um den Wiederaufbau des zerstörten Kontinents nach dem Krieg, so kamen seit den siebziger Jahren auch die ökonomische Konkurrenz mit den Vereinigten Staaten sowie der Aufstieg Asiens als zusätzliche Motivationsmomente hinzu. Zentrales Element dieses Integrationsbereichs war und ist der Gemeinsame bzw. der Binnenmarkt.
- Das graduelle Entstehen einer außenpolitischen Identität gründete sich zunächst auf eine Abgrenzung gegenüber den USA. Den Europäern war daran gelegen, während des Kalten Krieges als andere Stimme im westlichen Lager wahrgenommen zu werden. Mit dem Beginn der „neuen Weltordnung“ wurde die außenpolitische Zusammenarbeit institutionalisiert, da die Union auf eigenen Wunsch eine größere internationale Rolle einnehmen wollte. Ziel war, wie es in der Präambel des Maastrichter Vertrags heißt, „die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern“.
- Auch die europäischen Bürgerfreiheiten und die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz wurden anfänglich positiv begründet, nämlich mit der Verwirklichung der vierten Grundfreiheit, des freien Verkehrs von Personen. Bereits das Schengener Abkommen von 1985 zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg legte den Grundstein für den Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrollen. Der Maastrichter Vertrag wiederum führte die Unionsbürgerschaft ein, die automatisch allen Bürgern eines EU-Mitgliedstaats zukommt.
In den neunziger Jahren hat sich dann ein einschneidender Wandel der Rahmenbedingungen europäischer Einigung vollzogen. Spätestens seit dem Jahr 2001 ist die Integration nicht mehr gewählt, sondern notwendig. Es sind in erster Linie äußere Zwänge, welche die seither erfolgten praktischen Vertiefungsschritte begründen. Ironischerweise ist dies auch das Jahr, in dem die EU nach der mehr schlecht als recht durchgeführten Vertragsreform von Nizza auf dem Gipfeltreffen im belgischen Laeken der Integrationsdynamik neue Impulse geben wollte und den Europäischen Konvent auf den Weg brachte. Jahre später aber ist das Ergebnis dieses Prozesses, die Europäische Verfassung, selbst in der reduzierten Version des Vertrags von Lissabon noch nicht in Kraft getreten. Dem Wandel der Rahmenbedingungen haben die Europäer also bislang nicht ausreichend Rechnung getragen, weshalb die nunmehr notwendige Integration nur unterhalb der Vertragsschwelle erfolgte.
- Statt wirtschaftlicher Opportunität ist es nun der Druck der Wettbewerbsfähigkeit, der die wirtschaftliche Integration in der ersten Säule vorantreibt. Mit der Lissabonner Strategie von 2000 setzte sich die EU das Ziel, der wettbewerbsfähigste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu werden – um so einerseits den erklärten direkten Wettlauf mit den USA und aufstrebenden Mächten wie China, Indien, Brasilien und Russland zu gewinnen und andererseits seine eigene, durch Ressourcenmangel und demografischen Rückgang verursachte strukturelle wirtschaftliche Schwäche zu überwinden.
- In der zweiten Säule ist akutes Krisenmanagement zur Haupttriebfeder der Integration geworden. Zum einen sieht sich die EU echten Bedrohungen gegenüber, welche sie in der Sicherheitsstrategie von 2003 benannt hat, wie z.B. dem internationalen Terrorismus, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und scheiternden Staaten. Zum anderen sind es regionale Konflikte in der erweiterten Nachbarschaft (von Zentralafrika über den Nahen Osten bis nach Zentralasien), welche die Europäer zu einem verstärkten Engagement drängen.
- Schließlich ist es weniger die Freiheit als der Schutz der Bürger, welcher derzeit in der dritten Säule dominant ist. Von der Abwehr der terroristischen Bedrohung durch eine verstärkte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit bis hin zum konsularischen Beistand für EU-Bürger in Drittstaaten dreht sich alles darum, mehr Sicherheit zu gewährleisten. Nicht mehr der Zugewinn an Freiheit, sondern ein mögliches Mehr an gemeinsamer Sicherheit begründet weitere Integrationsschritte, auch um den Preis eines Rückgangs an Freiheitsrechten.
Der Übergang von der gewählten zur notwendigen Integration liegt also gewissermaßen zwischen den Gipfeln von Maastricht (1991) und Laeken (2001). Auf der Landkarte nur eine Entfernung von 116 Kilometern, markiert diese Wegstrecke gleichwohl politisch und historisch ein Übergangsjahrzehnt von der bipolaren Blockkonfrontation hin zu einer multipolaren Welt(un)ordnung. Den hierin vorherrschenden neuen globalen Herausforderungen kann die EU jedoch nicht mit dem bisherigen, zwischen staatlicher und gemeinschaftlicher Ebene oszillierenden Integrationsgrad beikommen. Der Blick auf zwei dieser Herausforderungen – die Wiederbelebung der Weltwirtschaft und die Bekämpfung des Klimawandels – verdeutlicht, dass die globalen Probleme nur durch ein Mehr an Integration bewältigt werden können. Und allen Unkenrufen über ein auseinanderdriftendes Europa zum Trotz bergen die bisher gegebenen Antworten der Europäer bereits das Potenzial für diese Zunahme an Integration in sich.
Globale Herausforderungen als neue Triebkräfte europäischer Integration
Natürlich sind die Mitgliedstaaten weiterhin frei, Schritte zur politischen Vertiefung zu unternehmen oder abzulehnen. Das Interessante ist jedoch, dass angesichts nur global zu lösender Herausforderungen eine zunehmende Integration im vitalen Interesse aller (und nicht mehr bloße Präferenz mancher) Mitgliedstaaten ist. Insofern werden die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer stärker integrierten, staatsähnlicheren Union nicht aufgrund föderalistischen Wunschdenkens erreicht, sondern aufgrund einer am eigenen Überleben orientierten nationalstaatlichen Räson. Dieser entstehende „Unionsstaat“ wird sich gleichwohl deutlich von dem uns bekannten Bundesstaat auf nationaler Ebene unterscheiden, weil die Herausforderungen, die seine Entstehung erzwingen, andere sind.
Die Krise verlangt nach einer europäischen „Wirtschaftsregierung“
Bei der Bewältigung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise fällt zunächst eines ins Auge: Obwohl Europa seit über einem halben Jahrhundert eine globale Wirtschaftsmacht ist, besitzt sie keine übergeordnete Kompetenz für die Wirtschafts- oder Beschäftigungspolitik. Diese behalten sich die Mitgliedstaaten vor; sie koordinieren ihre Politiken lediglich im Rahmen von gemeinsam festgelegten Grundzügen. Gleichwohl verfügt die Union über eine ausschließliche Zuständigkeit in wichtigen, durch die Krise berührten Bereichen, wie z.B. der Handels- und Wettbewerbspolitik sowie (für die zum Euro-Raum gehörenden Mitgliedstaaten) der Währungspolitik. Für den Binnenmarkt teilt sie sich die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten.
Dieser Mangel an einer kohärenten Kompetenzverteilung zeigt sich exemplarisch anhand der Politik, die den Rahmen für das aktuelle europäische Krisenmanagement mit dem Ziel der Belebung der Weltwirtschaft absteckt. Die Lissabonner Strategie zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung wurde von den Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 initiiert und ist im Wesentlichen der – in der Praxis wenig verbindlichen – Koordination der Mitgliedstaaten anheim gestellt. Erst mit der 2005 überarbeiteten Fassung der Strategie wurde neben dieser mitgliedstaatlichen Zuständigkeit auch ein Lissabonner Gemeinschaftsprogramm verankert. Mittlerweile ist die Europäische Kommission die treibende Kraft geworden, die von den Mitgliedstaaten ein Einhalten ihrer Reformzusagen einfordert, weil sie erkannt hat, dass sie über ihren Einsatz für „jobs and growth“ Bürgernähe demonstrieren kann.
Gerade das im Herbst 2008 beschlossene europäische Konjunkturpaket macht deutlich, dass auch in diesem Bereich der Integrationsgrad weiter zunehmen wird. Von den für die kommenden zwei Jahre vorgesehenen 200 Milliarden Euro wird der Löwenanteil (170 Milliarden Euro) direkt von den Mitgliedstaaten bereitgestellt und ausgegeben; nur 30 Milliarden werden aus dem Gesamthaushalt der EU und von der Europäischen Investitionsbank zur Verfügung gestellt. Was auf den ersten Blick nach mangelnder europäischer Gemeinsamkeit im Krisenmanagement aussieht, verfügt dennoch über eine nicht zu unterschätzende Integrationskraft. Denn für den Erfolg des Pakets ist die Gewissheit aller Staaten entscheidend, dass die zugesagten Mittel auch tatsächlich in die Wirtschaftsförderung fließen. Ein solch messbares Handeln der Mitgliedstaaten wiederum kann nur die supranationale Kommission sicherstellen, da sonst der Anreiz groß ist, als Trittbrettfahrer den eigenen Beitrag gering zu halten und gleichzeitig von der Ankurbelung der Wirtschaft in den Nachbarstaaten zu profitieren. Darüber hinaus kontrolliert die Europäische Kommission die Einhaltung der Vorschriften zur Wettbewerbskontrolle und zu staatlichen Beihilfen, um Protektionismus zu verhindern. Eine analoge Funktion für den Weltmaßstab haben die G-20-Staaten übrigens Anfang April auf ihrem Londoner Gipfeltreffen dem Internationalen Währungsfonds zugewiesen.
Auch das zweite Element der europäischen Krisenreaktion, der Stabilitäts- und Wachstumspakt zur finanzpolitischen Stabilisierung, verspricht ein Mehr an Integration. Bereits in normalen Zeiten macht dieser Pakt den Mitgliedstaaten Auflagen für ihre nationalen Budgets. In der Krise stellt er den Rahmen dar, der das Vertrauen der Märkte in eine mittelfristige Konsolidierung der mitgliedstaatlichen Haushalte erhält. So hat die EU unlängst weitere Maßnahmen beschlossen, welche die nationale Finanzhoheit zum Zweck der gemeinschaftlichen Krisenbewältigung weiter reduzieren: Ein Europäisches System der Finanzaufsicht soll die jeweiligen nationalen Behörden für die Banken-, Versicherungs- und Wertpapieraufsicht miteinander verzahnen; daneben soll ein Europäischer Kontrollrat unter Leitung der Europäischen Zentralbank die Stabilität des Bankensystems aus makroökonomischer Perspektive analysieren. Beide Gremien werden bindende Vorgaben für die Mitgliedstaaten machen können, und zwar auch für solche, die nicht zum Euro-Raum gehören.
Die enge Verflechtung der EU-Mitgliedstaaten untereinander zeigt sich schließlich in der Frage einer möglichen Rettung zahlungsunfähiger Mitgliedstaaten. Auch wenn die Staats- und Regierungschefs der 27 auf ihrem letzten Gipfel – nicht zuletzt aufgrund deutscher Vorbehalte – davor zurückgeschreckt sind, explizite Garantien auszusprechen, so ist doch ausgeschlossen, dass ein EU-Land im Ernstfall fallengelassen wird (und alle Beteiligten wissen dies). Ob der Kollaps durch das Ausstellen von gemeinsam getragenen Euro-Bonds und Bürgschaften oder durch eine frühzeitige Einführung des Euro abgewendet wird, ist dabei langfristig unerheblich. Der Preis der Rettung wird eine stärkere gemeinschaftliche Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und Haushaltspolitik sein. Die europäische „Wirtschaftsregierung“, gegen die sich die Bundesregierung bislang gewehrt hat, dürfte dann im deutschen Interesse sein, um möglicherweise unverantwortlichen Wirtschaftspolitiken in manchen Mitgliedstaaten Einhalt zu gebieten.
Auswirkungen des Klimawandels auf die europäische Sicherheit
Lange Zeit verstand die Politik eine intakte Umwelt als bloßes Wohlfahrtselement. Doch nicht einmal dieses Verständnis reichte für ein Einbeziehen der Umweltpolitik in die Gemeinschaftsaufgaben der EU. Stattdessen diente die Wirtschaft (genauer gesagt: der Binnenmarkt) als Vehikel für eine gemeinschaftliche Kompetenz, um mögliche Wettbewerbsverzerrungen durch unterschiedliche Umweltschutzauflagen zu vermeiden. Heutzutage beschließen Ministerrat und Europäisches Parlament im Mitentscheidungsverfahren umweltpolitische Gesetzesmaßnahmen gemeinsam, und auch internationale Abkommen wie das Kyoto-Protokoll bedürfen nach Annahme durch den Ministerrat noch der Zustimmung des Europäischen Parlaments.
Erst in den letzten Jahren hat sich eine neue Sichtweise auf Umwelt- und Sicherheitspolitik entwickelt. In einem Bericht an den Europäischen Rat im Frühjahr 2008 skizzierte der Außenbeauftragte, Javier Solana, zusammen mit der Europäischen Kommission, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die europäische und internationale Sicherheit haben kann. Auch die überarbeitete Europäische Sicherheitsstrategie vom Dezember 2008 führt den Klimawandel erstmals als „Bedrohungsmultiplikator“ in einer Liste von globalen Herausforderungen auf. Themen wie neue Ressourcenkonflikte (vor allem um den Zugang zu Wasser), verstärkte Umweltmigration (sowohl innerhalb betroffener Länder als auch von diesen in andere Regionen) sowie zunehmende Nahrungsmittelknappheit bewirken also, dass Umweltpolitik als wichtige Verbindung von innerer und äußerer Sicherheit gesehen wird.
Um der zentralen Bedrohung durch den Klimawandel zu begegnen, hat sich die EU auf das Ziel einer Begrenzung der Erderwärmung auf zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau geeinigt. Die wesentliche Politikmaßnahme ist das Energie- und Klimapaket, das die Union unter deutscher Präsidentschaft im März 2007 beschlossen hat. Dieses schreibt mit der „20/20/20-Formel“ die hierfür erforderlichen Unterziele fest: Bis zum Jahr 2020 wollen die Staaten der EU ihren Ausstoß von Treibhausgasen um 20 Prozent reduzieren, den Anteil erneuerbarer Energiequellen auf 20 Prozent steigern und die Energieeffizienz um 20 Prozent erhöhen. Herzstück dieses Pakets ist das Europäische Emissionshandelssystem. Dieses System sieht einen börsengleichen Austausch von beständig reduzierten Verschmutzungszertifikaten vor, welcher so über Marktmechanismen für die Unternehmen Anreize zur Reduktion des Kohlendioxidausstoßes setzt.
Es ist dieser Handel mit Emissionsrechten, der mittelfristig weitere Integrationsschritte notwendig macht. Denn die Vergabe der Zertifikate sowie die Einhaltung zugestandener Verschmutzungsrechte erfordern eine wirksame supranationale Kontrolle durch die Europäische Kommission. Bereits geplante weitere Maßnahmen sind die Ausweitung des Emissionshandels auf bislang nicht erfasste Sektoren wie die Luftfahrt und den Straßenverkehr sowie die zentrale Zuweisung von Zertifikaten durch die Kommission statt wie bisher in nationalen Allokationsplänen. Will die EU den Klimawandel wirksam bekämpfen, müssen die Mitgliedstaaten hierfür der Gemeinschaft die Kompetenz zuweisen.
Der Unionsstaat im Werden
Wenn, wie es schon länger in allen Sonntagsreden heißt, kein Land der Erde allein die globalen Herausforderungen meistern kann, dann gilt das erst recht für die europäischen Kleinstaaten und Mittelmächte. Bei einigen dieser Herausforderungen handelt es sich, ohne damit der Schwarzmalerei zu verfallen, um systemische Bedrohungen, sei es des globalen Habitats oder der marktwirtschaftlichen Grundlage unseres Wohlstands. Entsprechend hat sich der Integrationsdiskurs in seiner Begründung verschoben: Nicht mehr die Möglichkeit und Wünschbarkeit von Integration aufgrund der damit verbundenen Vorteile stehen im Vordergrund, sondern ihre Notwendigkeit zur Abwehr größerer Gefahren. Gleichzeitig verdeutlichen die beiden diskutierten Politikbeispiele, dass eine rein intergouvernementale Koordinierung nationaler Politiken für die konkrete Problemlösung oftmals unzureichend ist. Sowohl für die Belebung der Weltwirtschaft durch Konjunkturprogramme als auch für die Bekämpfung des Klimawandels durch den Handel mit Verschmutzungszertifikaten ist eine supranationale Überwachung mitgliedstaatlichen Handelns nötig.
Das Ausbleiben einer weiteren vertraglichen Integration seit 2001 birgt also ein Paradox: Während die gewählte Integration der Jahrzehnte zuvor eine beachtliche politische Vertiefung mit sich brachte, sind die Regierungen der 27 Mitgliedstaaten trotz äußerer Notwendigkeit bislang gescheitert, die beschlossenen institutionellen Reformen auch umzusetzen. Allerdings wurden diese nicht von einzelnen Regierungen, sondern von den Bevölkerungen dreier Mitgliedstaaten zu Fall gebracht. Hier wiederum setzt die Notwendigkeit zum Handeln in der Krise an: Nicht nur müssen die Mitgliedstaaten der Union die Handlungsfähigkeit geben, die sie in einer globalisierten Welt benötigt; darüber hinaus müssten sie ihren Bürgern erklären, warum eine weitere Integration für alle Länder Europas überlebensnotwendig ist. Gerade die Bundesrepublik täte gut daran, in Abstimmung mit den europäischen Partnern voranzuschreiten, um einerseits den entstehenden Unionsstaat mitzugestalten und andererseits die Menschen im Land von dessen Nutzen zu überzeugen. Dann könnte auch ein Referendum über den Vertrag von Lissabon, so das Bundesverfassungsgericht ein solches für nötig erklären sollte, die Unterstützung im Volk gewinnen.
Eine Renationalisierung – oder auch nur ein Halten des gegenwärtigen Gleichgewichts zwischen nationaler und gemeinschaftlicher Kompetenz – ist in vitalen Politikbereichen wie der Wirtschaft und der Umwelt langfristig nur um den Preis des Untergangs möglich. Anders ausgedrückt: Die europäischen Nationalstaaten werden nur überleben, wenn sie in dem europäischen Unionsstaat aufgehen. In Abwandlung eines Sprichworts aus dem Umweltschutz lässt sich also sagen: „Think global, act European.“ Genauso gilt aber: „Think national interest, act European.“
Dr. des. CORNELIUS ADEBAHR, Politikwissenschaftler und selbständiger Unternehmer, betreut in der DGAP das „International Diplomats Programme“.
Internationale Politik 5, Mai 2009, S. 34 - 44.