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01. Juli 2012

Unser aller Meer

Identität, Geschichte und Zukunft des Mittelmeers

Zerrissen, zerstückelt, zerbrochen: Viel ist nicht geblieben von der Einheit, als die sich der Mittelmeerraum über weite Strecken seiner Geschichte präsentierte, ganz zu schweigen von der viel beschworenen „Mittelmeer-Identität“. Kann ein historischer Ansatz für die Region uns helfen, ihre aktuellen Probleme besser zu verstehen?

Das Mittelmeer von heute ist nicht mehr dasselbe wie das von vor 2000 Jahren. Der Baumbestand ist von den Inseln und aus den Küstenregionen verschwunden, weite landwirtschaftliche Flächen wurden aufgegeben oder sind zu Wüste geworden, vieles von dem, was dereinst angebaut wurde, gibt es nicht mehr; anderes ist neu dazugekommen, etwa die Produkte der Neuen Welt wie Mais oder Kartoffeln. Um ein Beispiel zu nennen: Auf Kreta baute man noch im Mittelalter Weizen an, wandte sich aber im 17. Jahrhundert der Wein- und Ölerzeugung zu, sei es als Folge eines Klimawandels, sei es, weil die griechischen, venezianischen und türkischen Bewohner der Insel einträgliche Geschäfte witterten. Nur, um einmal von den natürlichen Gegebenheiten zu sprechen.

Und wenn wir uns die Bevölkerungsentwicklung über die Jahrhunderte anschauen, dann beobachten wir Migrationswellen, die die ethnische, religiöse und soziale Zusammensetzung in den Ländern und auf den Inseln des Mittelmeers verändert haben. Noch einmal das Beispiel Kreta: Rund 90 Jahre sind vergangen, seit der Vertrag von Lausanne zur erzwungenen Umsiedlung der muslimischen Bevölkerung der Insel – etwa 30 000 Menschen – führte.
Andererseits können wir auf zuweilen überraschende Zeichen von Stabilität verweisen. Zwischen der Entstehung Venedigs und der Gründung von Tunis im frühen Mittelalter und dann wieder bis zur Gründung Tel Avivs vor einem Jahrhundert wurde keine größere Stadt an den Küsten des Mittelmeers erbaut, und selbst Tunis war eine Art Ersatz für seinen christlichen und vorchristlichen Nachbarn, das große Karthago. Die städtische Landkarte des Mittelmeers wurde großenteils von den antiken Phöniziern, Griechen und Römern gezeichnet.

In der Geschichte des Mittelmeers wechselten sich Phasen der Integration mit denen der Desintegration ab; Ursachen für Letzteres können wirtschaftliche Rezessionen und politisch motiviertes Auseinanderstreben sein. Zurzeit ist das Mittelmeer zerrissen, zerstückelt und zerbrochen. Betrachtet man die vorherrschende Tendenz über die vergangenen Jahrhunderte, dann stellt der gegenwärtige Zustand eher die Ausnahme dar als die Regel. Die Herausforderung besteht darin, die sich gegenüberliegenden Küsten wieder zusammenzuführen, damit sie miteinander in Austausch treten können – politisch, wirtschaftlich, kulturell – und dadurch wieder ein integriertes Mittelmeer entsteht.

Die Weltkarte wenden

Das Mittelmeer ist sowohl ein Raum als auch ein Konzept. Wir sprechen von dem Mittelmeer und beziehen uns auf die Gewässer, die sich ostwärts der Straße von Gibraltar erstrecken und durch den künstlich geschaffenen Suez-Kanal mit dem Roten Meer sowie durch die natürliche Wasserstraße der Dardanellen und des Bosporus mit dem Schwarzen Meer verbunden sind. Etwas weiter gefasst sprechen wir vom Mittelmeer als von einem Gewässer mitsamt den darin liegenden Inseln und den angrenzenden Ländern. Nach meiner Zählung sind das derzeit 25 politische Einheiten, einschließlich einer Kronkolonie (Gibraltar), einiger hoheitlicher Militärbasen (auf Zypern), eines Staates, der nur von einem anderen Land anerkannt wird (Türkische Republik Nordzypern), einer Enklave mit ungeklärtem Status (Gaza), eines Kleinstaats (Monaco) und mehrerer kränkelnder Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Nur zwei der Inseln sind unabhängige Staaten, Malta und Zypern; eine von ihnen ist seit 1974 zweigeteilt. Bezeichnenderweise sind die großen Inseln des westlichen Mittelmeers alle Teile größerer Staaten, deren wirtschaftliches Zen­trum auf dem europäischen Festland liegt. Allerdings pflegten die meisten dieser Inseln zeitweise durchaus enge Verbindungen zu Nordafrika, nur im Mittelalter waren sie dauerhaft in Europas politische Netzwerke einbezogen: Sizilien, Sardinien und die Balearen wurden ebenso wie Kreta und Zypern phasenweise von Afrika aus beherrscht. Zypern ist Mitglied der EU und wird allgemein als Teil Europas betrachtet, wenngleich es vor der Küste des asiatischen Teils der Türkei liegt und die Türkei mal als Staat innerhalb, mal als Staat außerhalb Europas behandelt wird, oder als ein Staat, der sowohl in Europa als auch in Asien liegt.

Der entscheidende Punkt ist, dass sich die Inseln selbst sowohl politisch als auch wirtschaftlich als Teil einer europäischen Welt verstehen, was einmal mehr den Gedanken nahe legt, dass gleichsam ein Riss durchs Mittelmeer geht – ein Riss zwischen den europäischen und den nichteuropäischen Sphären. Es könnte helfen, wenn wir unsere Landkarten auf den Kopf stellten und die Karte des Mittelmeers so betrachteten, als zählten die Mittelmeerinseln eher als afrikanische oder asiatische denn als europäische Gebiete – das könnte uns daran erinnern, dass unsere Klassifizierung der Kontinente ein subjektiver politischer Prozess ist. Denn in Wirklichkeit wird Europa durch das Mittelmeer definiert: Nur aus einem mediterranen Blickwinkel sieht es wie ein eigener Kontinent aus anstatt einfach wie die westliche Halbinsel des eurasischen Kontinents, die es in physischer Hinsicht darstellt.

Immer dann, wenn das Mittelmeer in seiner Geschichte eine Einheit bildete, entfaltete es ein enormes wirtschaftliches Potenzial. In den Phasen der Integration war die Summe der Teile stets eindrucksvoll: Man halte sich nur den breit angelegten und zuverlässig funktionierenden Getreidehandel vor Augen, durch den das antike Rom mit Korn aus Tunesien und Ägypten versorgt wurde – auch wenn es vor oder nach den Römern niemandem gelang, politische Kontrolle über das gesamte Meer auszuüben, das in dieser Zeit wahrhaftig mare nostrum war, „unser Meer“. Unter römischer Herrschaft wurde die Piraterie niedergehalten; die Menschen konnten ohne Schwierigkeiten zwischen den Küsten des Mittelmeers hin- und herreisen – was Rom selbst zu einem Gemeinwesen machte, das sich aus Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammensetzte.

Der Prozess der politischen Integration führte zu einem Niederreißen ethnischer, religiöser und sozialer Schranken, vor allem in den größeren Städten wie Alexandria, Rom und Karthago. Doch in einzelnen Teilen des Reiches mangelte es noch immer an einer Reihe von lebensnotwendigen Gütern. Das hatte den simplen, aber durchaus nützlichen Effekt, einen Handel über das Meer hinweg anzuregen. Händler aus dem antiken Phönizien, Griechenland und Etrurien, Kaufleute aus dem mittelalterlichen Genua, Venedig und Barcelona, aus Izmir, Dubrovnik und Livorno, sie alle sind die Helden der Mittelmeergeschichte: Männer (denn es waren fast immer Männer), die ihren Gewinn dadurch erzielten, die Nachfrage für Nahrungsmittel, Rohstoffe und Luxusgüter rings um das Mittelmeer anzukurbeln und zu befriedigen.

Händler, Pilger, Bauern

Wo der Mensch an den Küsten und auf den Inseln des Mittelmeers siedelte, da veränderte er seine Umwelt, sorgte für Ödflächen, kultivierte neues Land – ein (vergleichsweise) junges Beispiel sind die Pontinischen Sümpfe in Italien. Formen der Umweltzerstörung gab es schon in der Antike, und so debattieren Umwelthistoriker darüber, inwiefern das Mittelmeer sich in einer Art Autokorrektur an die Einwirkung durch den Menschen angepasst hat. Gewinne auf dem einen Gebiet mögen die Verluste auf dem anderen ausgeglichen haben: So gingen die Erträge aus der Getreideproduktion Tunesiens im Mittelalter schlagartig zurück, aber andere Länder wie Marokko traten sein Erbe an.

In der Moderne macht es Spitzentechnologie möglich, von einer hoch entwickelten Landwirtschaft am Mittelmeer zu träumen, die Meerwasser oder ertragsarme Böden nutzt, um Grundnahrungsmittel zu erzeugen – man denke an die Errungenschaften von Agrarwissenschaftlern in Israel. Und doch bleibt der entscheidende Punkt bestehen: Das Mittelmeer war und wird stets ein Gebiet sein, in dem der Mangel an bestimmten Gütern des täglichen Bedarfs durch den Austausch mit Regionen, die mit diesen Gütern besser ausgestattet sind, ausgeglichen wird. Ob die Pläne für eine Mittelmeerunion solch einen Austausch erleichtern werden, kann niemand sagen, wenigstens nicht, bis nicht ein Maß an wirtschaftlicher (und natürlich politischer) Stabilität sowohl in die europäischen als auch in die nordafrikanischen Länder des Mittelmeers zurückkehrt. In jedem Falle gilt hier eine einfache Lehre: Wirtschaftliche Verflechtung kann unter günstigen Voraussetzungen dazu beitragen, Spannungen abzubauen – und unter ungünstigen Voraussetzungen, diese zu schüren. So sind etwa die jüngst vor der Küste Zyperns entdeckten Erdgasvorkommen derzeit Gegenstand des Streites zwischen der Türkei, Zypern, Syrien, dem Libanon und Israel.

Ein weiteres Merkmal, das die Mittelmeerregion in ihrer Geschichte bestimmt hat, kommt im 21. Jahrhundert nicht mehr ganz so deutlich zum Tragen: Der Wunsch, sich bestimmte Güter zu verschaffen, animierte die Händler, politische und religiöse Grenzen zu überqueren, nicht nur zwischen Christentum und Islam, sondern auch innerhalb dieser religiösen Sphären selbst: zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Katholiken und Griechisch-Orthodoxen. Das Mittelmeer war ein bedeutender Begegnungsort der drei abrahamitischen Religionen. Und auch wenn es Phasen gab, in denen die gegenseitige Neugierde überschaubar war: Ein solcher Austausch hat regelmäßig und zeitweise sogar intensiv stattgefunden.

Da ist zum einen die jüdische Diaspora, die sich in die hellenische und römische Welt ausbreitete (insbesondere nach Alexandria), die christliche Bewegung, die im späten Römischen Reich eine maßgebliche Rolle spielte, und schließlich die Konvertierung der Völker Nordafrikas und von Teilen Südeuropas zur dynamischen neuen Religion des Islam. Und über den gesamten Zeitraum hinweg lehrten die drei Religionen (und zu früheren Zeiten auch das Heidentum) einander einzelne Elemente ihrer Lehre: Theologie, Moral, liturgische Musik. Alleine und in Gruppen zogen Pilger in der Mittelmeerregion hin und her. Wer sich an Bord eines mittelalterlichen Schiffes befand, konnte auf christliche Pilger treffen, die nach Jerusalem reisten, oder auf Muslime, die unterwegs nach Mekka waren.

Und es gab noch andere, die sich innerhalb der Region oder in die Region auf den Weg machten: Kolonisatoren aus griechischen und phönizischen Städten, unterwegs nach Sizilien; germanische Völker, die sich in Spanien, Italien und Nordafrika niederließen; Araber aus dem Jemen und anderen Ländern, Berber aus dem Maghreb, Kopten aus Ägypten, die das muslimische Spanien besiedelten; Kreuzfahrer, Venezianer, Katalanen. Im 19. und namentlich im 20. Jahrhundert kehrte sich dieser Wanderungsprozess um – und begann, zu einer Massenbewegung zu werden. Die Menschen aus der Mittelmeerregion suchten in der Neuen Welt oder in Nordeuropa (mit interessanten kulturellen Folgen wie der Verbreitung der Pizza) nach neuen, besseren Lebensbedingungen.

Man darf natürlich nicht die Augen vor den Folgen der Kolonialisierung und später der Dekolonialisierung verschließen. Eine große Zahl europäischer Siedler ließ sich im 19. Jahrundert in Algerien, Tunesien oder Libyen nieder, nur um ihre Zelte dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder abzubrechen, gleichzeitig mit Einheimischen, von denen sich dann viele an den nördlichen Küsten des Mittelmeers in und um Marseille und Nizza herum ansiedelten – ein Punkt, auf den ich zurückkommen werde.

In jüngerer Zeit ist das Mittelmeer zum Schauplatz geworden, auf dem zahlreiche Migranten aus Schwarzafrika versucht haben – häufig unter Einsatz ihres Lebens –, Zugang zu den wohlhabenden Ländern der Europäischen Union zu erhalten. Hinzu kamen noch Wanderungsbewegungen aus Nordafrika während der jüngsten Unruhen – insbesondere aus Libyen – sowie aus dem Hinterland Westasiens in die Ägäis und darüber hinaus. Auch wenn das Hauptziel dieser Migration oft Länder nördlich des Mittelmeers sind, hatte die Ansiedlung sehr vieler dieser Migranten in Italien, Spanien oder anderen Ländern gewaltige Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Region.

Dann gibt es noch eine weitere Art der Migration, die eher der von Vögeln ähnelt: Menschen aus Nordeuropa und anderswo, die auf der Suche nach Sonne ans Mittelmeer fliegen – ein Massenphänomen des späten 20. Jahrhunderts, das die lokalen Industrien, den Arbeitsmarkt, das Erscheinungsbild, ja sogar die sozialen und kulturellen Normen von Städten und Dörfern entlang der Mittelmeerküste Spaniens, Frankreichs und Italiens und zusehends in der Türkei, in Tunesien und anderen Ländern grundlegend verändert hat. Wir erleben eine tiefgreifende wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Tourismusindustrie und den Ökonomien Nordeuropas, die der Wirtschaft der meisten Länder der Region ein weiteres Element der Instabilität hinzufügt – insbesondere, wenn beliebte Reiseziele zu Zeiten politischer Unruhen plötzlich unerreichbar werden, wie es in Jugoslawien geschah, als das Land auseinanderbrach.

Konflikte und Kolonialismus

Der Konflikt im früheren Jugoslawien erinnert uns daran, dass das Mittelmeer nicht nur die vergleichsweise friedliche Koexistenz von Völkern und Religionen erlebt hat, sondern auch den oft gewaltsamen Zusammenbruch dieser Koexistenz. Besonders in Hafenstädten trafen sich Menschen jeglicher Herkunft, jeglicher Religion. Das Paradebeispiel einer kosmopolitischen Stadt im östlichen Mittelmeer ist Alexandria, im 4. Jahrhundert vor Christus durch Alexander den Großen gegründet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten die Europäer nur 15 Prozent der Bevölkerung aus, obgleich sie den Großteil der wirtschaftlichen Macht ausübten; 1927 gab es nur etwa 49 000 Griechen in der Stadt und 24 000 Italiener. Außerdem lebten dort 25 000 Juden unterschiedlicher nationaler Provenienz. Die Mehrheit der einflussreichen muslimischen Familien, einschließlich der Königsfamilie, stammte aus der Türkei, Albanien, Syrien oder dem Libanon. Sie identifizierten sich nicht weniger stark mit der europäischen (insbesondere französischen) Kultur als die Siedler europäischer Abstammung.

In der Zeit des wachsenden Nationalismus wurde eine Stadt nach der anderen im alten Osmanischen Reich durch Vertreibung, Flucht, erzwungene Assimilation oder sogar (wie im Falle Thessalonikis) Massentötungen erschüttert – und damit endete auch die Epoche, in der die Hafenstädte des östlichen Mittelmeers Orte des friedlichen Zusammenlebens gemischter Gesellschaften waren. Auf ihr Verschwinden folgte die Schaffung eines neuen Typs gemischter Gesellschaften im europäischen Mittelmeer. In Marseille und anderen Städten versuchte man – mitunter erfolglos –, nicht nur die Kolonisatoren, die aus Nordafrika und der Levante zurückgekehrt waren, zu integrieren, sondern daneben auch noch Immigranten aus der dortigen einheimischen Bevölkerung. Ob das ein neues Modell für sozialen Frieden sein kann? Die Vorzeichen stehen, vor allem in Südfrankreich, nicht gerade gut.

Im Zeitalter des Kolonialismus, das mit der französischen Eroberung Algeriens 1830 begann, wurde ein neues Verhältnis über das Mittelmeer hinweg geschaffen; ein hegemoniales Verhältnis, das darauf abhob, dass die Nordländer angeblich auf einer höheren Stufe der Zivilisation stünden als die Bewohner der südlichen Mittelmeerküsten. Paradoxerweise hatte dies sehr enge wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen zwischen Nord und Süd zur Folge, auch wenn die Hauptnutznießer im Allgemeinen nicht die Völker Nordafrikas und der Levante waren. Die Emanzipation der Kolonialisierten von den Kolonialherren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte unter anderem das Zerbrechen der Mittelmeerregion in Gebiete zufolge, die weitgehend unabhängig voneinander agieren.

Indem ich das feststelle, verteidige ich nicht die Taten der Kolonisatoren, die (besonders in Algerien) häufig brutal und kontraproduktiv waren. Die Dekolonialisierung fiel jedoch mit den Versuchen der Sowjetunion zusammen, im Mittelmeerraum Fuß zu fassen. Gerade in die Unabhängigkeit entlassene Länder wie Ägypten wurden geködert, sich einem Wirtschaftssystem anzuschließen, von dem viele Beobachter sagen würden, das es nicht zu den Bedürfnissen dieses Landes passte. Die Beziehungen Algeriens und Libyens zu den europäischen Staaten waren notorisch schlecht, und insbesondere Libyen versuchte unter Gaddafi, die Spuren seiner Kolonialvergangenheit zu tilgen, indem es beispielsweise öffentliche Hinweisschilder verbot, die nicht in arabischer Sprache geschrieben waren. Orte, die einst für das Zusammenleben von Kulturen, Religionen und Völkern gepriesen wurden, wurden eintönige Städte, einzig und allein bewohnt von der einheimischen Mehrheitsbevölkerung. Insbesondere die Juden verschwanden aus diesen Ländern, wo sie ein integraler Bestandteil der Gesellschaft waren. Sie emigrierten nach Israel oder, teilweise, nach Südfrankreich, und setzten damit einer 2000-jährigen Geschichte der Diaspora rund um die Mittelmeerküsten ein faktisches Ende.

Mittlerweile sahen die Länder an der Nordflanke des Mittelmeers ihre Zukunft nicht mehr in der Region, sondern in einer Europäischen Union, deren stärkste Wirtschaften abseits des Mittelmeers liegen. Die wirtschaftlichen Schwächen der südlichen EU-Mitglieder haben den Eindruck noch verstärkt, dass die Region zerbrochen ist; wenn es im Mittelmeer einen ökonomischen „Tigerstaat“ gibt, ist das eindeutig die Türkei, ein Land, das danach strebt, eine entscheidende Rolle in der ganzen Region zu spielen. Allerdings ist ein wichtiger Faktor für den Wirtschaftserfolg dieses Landes eben nicht der Handel mit den Mittelmeeranrainern, sondern der mit Deutschland. Die andere wirtschaftliche Erfolgsgeschichte im Mittelmeer wird in Israel erzählt, das besonders bei der Gründung von Hightech-Startup-Firmen eine beeindruckende Bilanz vorzuweisen hat. Seine Integration in die wirtschaftlichen Netzwerke des östlichen Mittelmeers wird allerdings ernsthaft durch seine politische Isolation behindert, die durch die gravierende Verschlechterung der israelischen Beziehungen zur Türkei noch verschärft wird.

Die Vision verblasst

Wie lassen sich die Beziehung zwischen den nördlichen und südlichen Küsten des Mittelmeers wieder herstellen? Es ist interessant zu beobachten, wie viele Investitionen, von Frankreich, von China, von den arabischen Ländern, am Vorabend des Arabischen Frühlings in Tunesien getätigt wurden, womit es zur wohl stärksten Wirtschaft des afrikanischen Kontinents wurde; doch diese Erfolge scheinen nun in Gefahr. Ein Land wie Marokko etwa hatte sogar 1987 angefragt, der EU beizutreten, und trotz der erwarteten Zurückweisung bindet eine Zahl von Abkommen die EU an Marokko, einige davon eingebettet in die Europa-Mittelmeer-Initiativen, denen ich mich jetzt ganz kurz zuwenden werde.

Auch wenn die Idee einer Mittelmeerunion, vorangetrieben insbesondere unter dem damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, wohl eher ein Wunschbild bleibt: Es gibt eine ganze Reihe von drängenden Fragen, die von allen Mittelmeeranrainern zusammen diskutiert werden müssen, insbesondere das Thema Migration und die Förderung des Handels zwischen EU- und Nicht-EU-Ländern innerhalb des Mittelmeers – vom Nahost-Konflikt ganz zu schweigen. Besonders wichtig ist der Schutz der Meeresumwelt, die durch Überfischung (Behandlung des Meeres als unbegrenzte Nahrungsquelle) und die Entsorgung von Abwässern (Behandlung des Meeres als eine riesige Mülldeponie) in katastrophaler Weise beschädigt wurde.
Als beinahe geschlossenes Meer ist das Mittelmeer eines der am stärksten von Umweltschäden betroffenen Meere der Welt, obwohl die Lage in einem weiteren fast geschlossenen Meer, der Ostsee, sogar noch schlimmer ist; ein großer Teil Ostsee wird bereits als totes Gewässer beschrieben. Der Mangel an Sauerstoff im Wasser ist nur eine Folge des menschlichen Eingreifens. Ein weiteres großes Problem sind die gewaltigen Mengen an Plastik, häufig in Form von winzigen Kügelchen, die dem Meer und den Tieren, die darin leben, zusetzen – und wieder einmal ist das Mittelmeer ein besonderes Sorgenkind. Die negativen Auswirkungen der Verschmutzung und steigender Temperaturen werden durch Überfischung noch verschlimmert: Die Fische, die für den menschlichen Verzehr gefangen wurden, sind nicht nur kleiner, es sind auch weniger geworden, und moderne Verfahren der Schleppnetzfischerei haben nicht nur bei den Fischen, die auf unsere Tische kommen, sondern auch bei den anderen Meeresbewohnern, von Krebsen bis zu Delfinen und Walen, Schaden angerichtet.

Es versteht sich von selbst, dass das Umweltproblem nur durch intensive Zusammenarbeit gelöst werden kann; leider kann von einer Kooperation in dem Ausmaß, das dafür nötig wäre, derzeit keine Rede sein. Nun können wir darüber debattieren, ob es ebenso zum Konzept der erwähnten neuen Union gehört, bestimmte Länder aus der EU herauszuhalten wie Kooperation über das Mittelmeer hinweg zu fördern. Was wir aber feststellen können ist, dass das von den Römern geschaffene Ausmaß an wirtschaftlicher, kultureller und politischer Integration danach nie mehr erreicht wurde. Das Mittelmeer des 21. Jahrhunderts ist zerstückelt und zerbrechlich.

Ich pflege gern zu behaupten, dass Historiker die einzige Form der Zeit­reise entdeckt haben, die jemals möglich sein wird. Doch blickt unsere Form der Zeitreise unvermeidlicherweise nur nach hinten. Dieser Essay gibt mir die Möglichkeit, einige Mutmaßungen über die Zukunft des Mittelmeers anzustellen. Nach dem zu urteilen, was ich schon gesagt habe, sind diese Mutmaßungen nicht gerade von Optimismus erfüllt. Die Ergebnisse der jüngsten griechischen Wahlen haben das Schreckensgespenst eines Ausschlusses aus dem Euro und der Europäischen Union nicht gebannt, und einige Beobachter prophezeien, dass Frankreich unter seiner neuen Regierung zur Liste der ernsthaft notleidenden EU-Staaten hinzugefügt werden wird. Eine Klärung der Beziehung zu den Nicht-EU-Ländern rund um das Mittelmeer dürfte daher für die Mitglieder der Union eher noch weniger wichtig werden. Perspektiven für die Schaffung engerer Bindungen für alle Mittelmeerländer durch gemeinsame Unternehmungen verblassen. Mein Mittelmeer des 21. Jahrhunderts bleibt zerbrochen und reparaturbedürftig.

Prof. Dr. DAVID ABULAFIA lehrt Geschichte in Cambridge. 2011 erschien von ihm „The Great Sea. A Human History of the Mediterranean“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2012, S. 8-15

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