Titelthema

27. Febr. 2023

„Um die politische Unterstützung sorge 
ich mich nicht“

Warum die Zeitenwende eine historische Chance ist, die Bundeswehr umfassend zu modernisieren.

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Bild: Porträt von Generalinspekteur Eberhard Zorn
General Eberhard Zorn ist ranghöchster Soldat der Bundeswehr. Der Generalinspekteur ist verantwortlich für die Gesamtkonzeption, Planung und Weiterentwicklung der militärischen Verteidigung, für die Führung der Streitkräfte und Einsätze der Bundeswehr. Er ist militärischer Berater der Bundesregierung.
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IP: Herr Zorn, was bedeutet „Zeitenwende“ konkret für die Bundeswehr, und was hat sich seit der Rede des Bundeskanzlers vom Februar 2022 verändert?



Eberhard Zorn: Der 24. Februar 2022 markiert einen Einschnitt für unsere europäische Friedensordnung. Wladimir Putin hat mit seinem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine Europa wieder zum Kriegsschauplatz gemacht. Wir brauchen eine Bundeswehr, die in der Lage ist, einen möglichen Aggressor gemeinsam mit unseren Partnern wirksam abzuschrecken und im Ernstfall erfolgreich abzuwehren. Das „New Forces“-Modell der NATO trägt dem ab 2025 Rechnung – dauerhaft mehr Truppen mit schnellerer Verfügbarkeit. Wir werden auch weiterhin unsere freiheitlichen Werte gegen jeden Gegner verteidigen können.



Gehen diese Veränderungen weit genug?

Die Politik hat uns mit dem Sondervermögen und den Mitteln aus dem Verteidigungshaushalt eine historische Chance gegeben, unsere Streitkräfte umfassend zu modernisieren. Zudem arbeiten wir daran, unseren Beschaffungsprozess zu vereinfachen. Mit dem Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz, dem Sondervermögen und wachsenden Haushaltsmitteln wurden wesentliche Weichen dafür gestellt. Wichtig ist mir dabei vor allem, die Geschwindigkeit in der Umsetzung nicht zu verlieren.



Betrachten Sie die Zeitenwende wie ein Projekt oder eine Phase mit klar definiertem Anfang und Ende, oder muss man sich das als andauernden Prozess vorstellen?



Die Zeitenwende hat aus meiner Sicht kein definiertes Enddatum. Ich gehe davon aus, dass der Angriff auf die Ukraine der Beginn einer neuen sicherheitspolitischen Realität ist. Ein Zurück zu einem Status quo ante ist mit einem Russland unter Putin unvorstellbar und wird auch danach vermutlich sehr schwierig.



Erfährt eine grundlegende Reform der Bundeswehr als Folge der Zeitenwende ausreichend Unterstützung seitens der Politik? Was fehlt?

Bei der derzeitigen sicherheitspolitischen Lage kommt es auf schnelle Anpassungen an den entscheidenden Stellen an. Wir benötigen eine Balance zwischen Führungskräften und Kampftruppen sowie feste Zuordnungen der Truppenteile untereinander. Der Sanitätsdienst und die Streitkräftebasis erhalten daher zusätzliche Dienstposten. Unsere Cyberkräfte im Cyber- und Informationsraum (CIR) haben sich bereits dementsprechend aufgestellt. Gleiches gilt für die Luftwaffe. Das Heer gliedert sich in leichte, mittlere und schwere Kräfte um. Mit der Aufstellung des Territorialen Führungskommandos haben wir das notwendige Pendant zum Einsatzführungskommando geschaffen. Es werden weitere Maßnahmen folgen; um die Unterstützung aus der Politik mache ich mir überhaupt keine Sorgen.



Um das 2-Prozent-Ziel der NATO dauerhaft zu erfüllen, müsste der reguläre Verteidigungshaushalt von rund 50 auf 70 Milliarden Euro aufgestockt werden. Sind dafür politischer Wille und gesellschaftliche Akzeptanz vorhanden?

Die Bundesregierung hat schon mehr als einmal dieses Ziel bekräftigt, und das Verständnis dafür ist in der Gesellschaft seit Beginn des Ukraine-Krieges spürbar gewachsen. Gleichwohl bin ich mir sehr bewusst, dass die überall steigenden Preise sowie die hohe Inflation viele Menschen vor große Probleme stellen. Wir müssen daher bei der Verteilung der finanziellen Ressourcen den Dialog zwischen Politik, Streitkräften und Gesellschaft in diesem Jahr konstruktiv fortführen.



Hat Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine das Bild der Bundeswehr in der Bevölkerung auch ganz grundsätzlich zum Positiven verändert? Anders gefragt: Akzeptiert das Land in stärkerem Maße, dass Sicherheit und Verteidigung notwendig sind und ausreichende Mittel benötigen?

Ich hatte auch vor dem Krieg schon immer das Gefühl, dass unsere Soldatinnen und Soldaten von den Menschen in unserem Land geschätzt werden. Vor allem das Interesse an der Bundeswehr ist jetzt gestiegen, vieles wird hinterfragt, auch der Stand der Ausrüstung und unsere Einsatzbereitschaft. Das berichten mir unsere Frauen und Männer immer wieder bei meinen Truppenbesuchen.



Wie schätzen Sie die Stimmung in der Truppe allgemein ein?

Unsere Frauen und Männer erfüllen ihre Aufträge hoch professionell und gewissenhaft. Egal wo, ob bei unserem Gefechtsverband der NATO Enhanced Forward Presence in Litauen, als Teil der Schnellen Eingreiftruppe der NATO im Einsatz oder im Dienst in unseren Kasernen. Die Truppe ist motiviert, aber natürlich gibt es auch Herausforderungen. Wir müssen unsere Einsatzbereitschaft weiter steigern. Die Truppe braucht Gerät, auf das sie sich verlassen kann. Ebenso haben wir gehörigen Aufholbedarf bei der Infrastruktur.



Wird der Aspekt der Landes- und Bündnisverteidigung dauerhaft eine viel größere Rolle bei der Aufstellung der Bundeswehr spielen müssen, und kann eine solch tiefgreifende Veränderung angesichts konkreter Bedrohungsszenarien überhaupt schnell genug gehen?

Seit der Annexion der Krim 2014 richten wir den Fokus wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung. Deutschland hat nach 2019 in diesem Jahr erneut die Führung der Schnellen NATO-Eingreiftruppe VJTF übernommen. Insgesamt stehen mehr als 16 000 Frauen und Männer bereit, um im Falle eines Falles unser Bündnisgebiet zu verteidigen. Und die anderen Aufträge bleiben bestehen. Unsere Truppe ist weiterhin im Sahel, wir beteiligen uns an der UN-Beobachtermission im Libanon, und unsere Luftwaffe sichert den Luftraum etwa an der NATO-Ostflanke.



Ist man zugleich willens und in der Lage, sich darüber hinaus noch stärker im ­Indo-Pazifik zu engagieren?

Bei mehr als 183 000 Soldatinnen und Soldaten wird dies weiterhin möglich sein. Mit der Fregatte „Bayern“ haben sich 2021/22 erstmals nach 20 Jahren wieder deutsche Soldatinnen und Soldaten an Übungen in der Region beteiligt. 2022 hat die Luftwaffe sechs Eurofighter und mehrere Tank- und Transportflugzeuge nach Australien, Singapur, Südkorea und Japan verlegt. Im kommenden Sommer werden sich Truppenteile des Heeres an einer Übungsserie in Australien beteiligen. Und 2024 wird die Marine erneut und dann mit mehreren Schiffen in die Region verlegt. Unser Engagement wird dort sehr begrüßt. Ich konnte mich selbst davon überzeugen, als ich während des Besuchs der „Bayern“ im November 2021 in Japan war.



Sie sind seit 1978 Soldat und können vergleichen. Wie ordnen Sie die Beschreibung der Gegenwart als „neuen Kalten Krieg“ ein?

Die Blockkonfrontation während des Kalten Krieges war linear. Das Prinzip der Abschreckung hat funktioniert. Ich hätte nach den vielfältigen wirtschaftlichen Verflechtungen Russlands mit dem Westen nicht gedacht, dass Putin diesen imperialistischen Angriffskrieg führt. Zudem ist der Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht beendet, wie die jüngsten Anschläge unter anderem in Westafrika zeigen. Wir haben also eine andere globale Lage, mit zahlreichen regionalen Konflikten unterschiedlicher Intensität.



Aus Mittel- und Osteuropa gibt es harsche Kritik an Deutschland, unter anderem, weil es zu wenig und zu spät schweres Gerät an die Ukraine geliefert habe und immer noch zu zögerlich agiere. Was sagen Sie zu dieser Kritik?

Wir haben uns von Beginn an mit unseren Partnern im Ramstein-Format für die Verteidigung der Ukraine ausgetauscht und koordiniert. Unsere Unterstützung ist beträchtlich. Wir haben gerade erst die Lieferung von Schützenpanzern und ­Patriot-Raketen beschlossen und mit IRIS-T SLM das modernste Flugabwehrsystem an die Ukraine geliefert, was auf dem Markt verfügbar ist. Wir haben 14 Panzerhaubitzen 2000 aus eigenen Beständen abgegeben, hinzu kommen MARS-Raketenwerfer, Millionen Schuss an Munition, Winterausrüstung, gepanzerte Fahrzeuge und vieles mehr. Ich verstehe aber auch, dass permanent mehr gefordert wird. Die Ukraine ist eine Nation im Krieg, die ihr eigenes Territorium verteidigt. Wir werden sie daher so lange unterstützen, bis sie ­ihren Kampf gewonnen hat.



Ist die Ostflanke der NATO ausreichend gesichert? Muss Deutschland seinen Beitrag erhöhen, und wenn ja, wie?

Die NATO ist jederzeit bereit und in der Lage, ihr Territorium zu verteidigen. Deutschland ist nach den USA der größte Truppensteller. Ab 2025 werden wir der NATO eine komplette Heeresdivision mit 15 000 Frauen und Männern dauerhaft zur Verfügung stellen, und dazu 65 Flugzeuge, 20 Schiffe und ein beachtliches Paket an Spezialkräften. Deutschland ist sich seiner Verantwortung bewusst.



Wie beurteilen Sie die mediale Berichterstattung über den militärischen und verteidigungspolitischen Teil der ­Zeitenwende?

Sicherheitspolitische Themen sind in den vergangenen Monaten stärker in den Fokus der Medien gerückt. Sie finden sich nun häufiger auf den vorderen Seiten der Tageszeitungen, ebenso in den Meldungen der Abendnachrichten. Eine Demokratie lebt von einem kritischen Journalismus, daher versuche ich, sooft es meine Zeit zulässt, Ihnen und Ihren Kolleginnen und Kollegen Rede und Antwort zu stehen.

 



Die Fragen stellte Martin Bialecki.    

 

Bibliografische Angaben

Internatiopnale Politik Special 2, März 2023, S.20-23

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