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01. Sep 2009

„Totengräber des Zionismus“

Israels Bedrohung durch radikale Siedler

US-Präsident Barack Obama forderte klar: Soll es in den israelisch-palästinensischen Verhandlungen weiter gehen, muss Israel für einen völligen Stopp des Siedlungsbaus sorgen. Das läge auch in Israels Interesse. Denn das schlimmste Szenario, erklärt der Jurist Amnon Rubinstein, wäre, wenn Israel sich nicht aus den besetzten Gebieten zurückziehen könnte.

IP: Eine Mehrheit der Israelis ist gegen die Siedlungen in der Westbank. Dennoch scheint es schwierig zu sein, illegale Außenposten zu räumen oder gar den Ausbau von Siedlungen einzufrieren. Warum?

Rubinstein: Der entscheidende Grund ist das politische System in Israel, das auf einem reinen Verhältniswahlrecht beruht. Koalitionen sind auf die Zusammenarbeit mit kleinen, oft religiösen Parteien angewiesen, die deshalb einen großen Einfluss ausüben können. Der zweite Grund ist psychologischer Natur. Der Rückzug aus Gaza im August 2005 hat ein Trauma verursacht. Die Israelis hatten gehofft, dass die Evakuierung der Siedlungen positive Auswirkungen haben würde. Viele moderate Israelis waren schockiert, dass Israel danach regelmäßig beschossen wurde und die Hamas schließlich die Macht übernahm.

IP: Die Linke befindet sich in einer Schockstarre?

Rubinstein: Nicht nur das: Sie ist beinahe nicht mehr existent. Die Partei Meretz beispielsweise, die einst zwölf Sitze in der Knesset innehatte, verfügt heute nur noch über drei. Generell gilt: Die Opposition gegen die Siedlungen wäre heute weit stärker, hätte der Abzug aus Gaza nicht in einem Fiasko geendet.

IP: Aber Israel hat doch den Siedlungsbau auch vor dem Abzug nie gestoppt?

Rubinstein: Das stimmt. Eine kleine entschlossene Minderheit ist immer stärker als eine gleichgültigere, nachgiebige Mehrheit. Das ist überall so. Die Siedler der Westbank allerdings glauben überdies, dass sie nach Gottes Befehl handeln und dass Israel zerstört würde, wenn es die Siedlungen nicht gäbe.

IP: Ist die Siedlerbewegung erfolgreich, weil sie sich als Idealisten gerieren, während die „materialistischen Israelis“ nur in Ruhe ihren Capuccino genießen wollen?

Rubinstein: Ja, sie glauben, als einzige noch den wahren Pioniergeist der Staatsgründer zu verkörpern.

IP: Sollte man ihnen dann nicht deutlich sagen, dass die Pionierzeit mit der Gründung des Staates Israel abgeschlossen war und dass sie die Existenz eines demokratischen Staates mit einer jüdischen Mehrheit gefährden, wenn Israel sich nicht aus der Westbank zurückziehen kann?

Rubinstein: Kein israelischer Premier würde ihnen das in aller Deutlichkeit sagen. Für mich und eine keine Minderheit Israels sind die Siedler tatsächlich Totengräber des Zionismus. Aber auch das würde kein israelischer Politiker laut sagen. Sie geben dem Druck der Siedler nach. Und sie verfügen nicht über die notwendige moralische Stärke.

IP: Sie halten die Siedlerbewegung für eine innenpolitische Bedrohung ?

Rubinstein: Ja, unbedingt. Der ideologische Kern bedroht die demokratischen Strukturen und die Grundlagen unserer offenen Gesellschaft, weil diese Leute sich auf den Standpunkt stellen, die Regierung habe ihnen nichts zu sagen, weil sie schließlich im Auftrag Gottes handeln. Wären die Regierung und die Öffentlichkeit allerdings überzeugt, dass eine Räumung auch zu Frieden und vor allem Ruhe führen würde, dann würde sich die Stimmung völlig ändern. Jetzt lässt sich leicht sagen, dass einer Räumung nur weiter Hass und Hetze gegen Israel und nichts Gutes folgt.

IP: Die Palästinenser müssten also beweisen, dass sie zur Sicherheit Israels beitragen können?

Rubinstein: Auf palästinensischer Seite sehe ich in puncto Hetze gegen Israel keine moderaten Kräfte. Hier konkurrieren die Fatah und Hamas geradezu miteinander.

IP: Sie würden auch Präsident Machmud Abbas nicht als moderat bezeichnen?

Rubinstein: Im Vergleich zur Hamas ist er sicherlich moderat. Aber nicht, was die Anerkennung Israels als jüdischer Staat betrifft.

IP: Sicherlich müssten die Palästinenser sehr viel deutlicher zeigen, dass sie Israel mit den Osloer Verträgen von 1993 nicht nur auf dem Papier anerkannt haben. Was aber sollte Israel tun, um etwas Bewegung in die Angelegenheit zu bringen?

Rubinstein: Israel sollte anerkennen, dass es zwei Staaten gibt; es sollte das Leben der Palästinenser wesentlich erleichtern, eine wirtschaftliche Koexistenz ermöglichen und das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung anerkennen. Übrigens ist all das zu einem großen Teil durch Netanjahus Vorgänger Ehud Olmert erfolgt, nur leider erst am Ende seiner Amtszeit. Aber auch, wenn die Wahl des Likud-Chefs Benjamin Netanjahu wie ein Rückschritt erscheint: auch er hat die Zwei-Staaten-Lösung in seiner Rede jüngst vor dem Likud-Parteitag anerkannt. Nur eine kleine Minderheit im Likud strebt noch nach einem Groß-Israel, das „Judäa und Samaria“, also die Westbank umfasst. Die öffentliche Meinung hat sich nicht nach rechts verlagert, sondern nach links. Die meisten Israelis vertreten heute Positionen, die vor 15 Jahren nur eine Minderheit vertrat – wie die Zwei-Staaten-Lösung.

IP: Selbst wenn Israel nach links gerückt wäre: Warum ist es so schwer, die Siedlungstätigkeit einzufrieren oder zumindest die Siedler davon abzuhalten, immer wieder Palästinenser tätlich anzugreifen?

Rubinstein: Noch einmal: Das ist der Kombination des Schocks nach dem Abzug aus Gaza und einer Angst geschuldet, Gewalt gegen die Siedler anzuwenden. Es ist nicht einfach, Frauen aus ihren Häusern wegzutragen. Außerdem hegen viele den Verdacht, dass nichts wirklich helfen würde und die Palästinenser niemals einen jüdischen Staat in dieser Region akzeptieren. Aber ich stimme Ihnen zu. Wir ziehen die Siedler nicht so zur Verantwortung, wie wir das müssten. Das ist skandalös. Jüngst wurde wieder ein illegaler Außenposten auf palästinensischem Privatland errichtet. Ich weiß nicht, warum er nicht sofort geräumt wird. Da müssen Sie Verteidigungsminister Ehud Barak fragen.

IP: Blicken wir zehn Jahre in die Zukunft: Was wäre Ihrer Meinung nach das schlimmste Szenario für Israel?

Rubinstein: Dass wir mit einer „Ein-Staat-Nichtlösung“ leben müssen, in dem etwa drei Millionen Palästinenser weiter unter unserer Besatzung leben müssen. Es wäre ein Desaster für Israel, wenn wir uns nicht aus den besetzten Gebieten zurückziehen könnten.

IP: Wo würden Sie Israel in zehn Jahren gerne sehen?

Rubinstein: Ich möchte, dass Israel und der palästinensische Staat nebeneinander existieren und beide Mitglieder der Europäischen Union, des Europarats und der NATO wären.

IP: Können die Europäer etwas dazu beitragen?

Rubinstein: Ja, sie müssten den Beteiligten immer wieder sagen: Wenn Ihr eure Streitigkeiten beilegt, dann könnt Ihr Mitglieder in unseren Clubs werden.

Das Gespräch führte Sylke Tempel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9/10, September/Oktober 2009, S. 29 - 31.

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