Tat vor Rat: Auf dem Weg zu einem Nationalen Sicherheitsrat „light“?
Sicherheit ist mehr als die Abwesenheit von Gefahr. Sie ist auch mehr als die Abwehr akuter Bedrohungen. Vor allem ist Sicherheit keine statische Größe, sondern ein permanentem und raschem Wandel unterliegender Zustand, der nur durch tägliche Beobachtung der Lage und strategisch vorausschauende Planung und Vorbereitung gewährleistet werden kann. Ein Drittel aller Staaten verfügt deshalb über einen Nationalen Sicherheitsrat (NSR) und eine Nationale Sicherheitsstrategie (NSS), die mit Hilfe des Rates kontinuierlich aktualisiert wird. Deutschland fehlt beides. Die Bundesrepublik behilft sich bislang mit Krisenkabinetten, Corona- und Impfkrisenstäben im Bundeskanzleramt und veröffentlicht unregelmäßig Weißbücher zu Sicherheit und Verteidigung. Unter Federführung des Auswärtigen Amtes wird 2023 erstmals eine NSS erarbeitet, die noch im laufenden Jahr vorgelegt werden soll. Wesentliche Beiträge leisten insbesondere die Bundesministerien für Verteidigung und Inneres. Auch alle anderen Ressorts der Bundesregierung sind am Prozess beteiligt.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine stellt die Staatengemeinschaft indes vor existenzielle Herausforderungen. Die meisten Länder haben darauf mit der umgehenden Einberufung ihrer Nationalen Sicherheitsräte reagiert, die die Koordinierung von Maßnahmen für alle betroffenen Politikfelder übernahmen. So sind sie, anders als Deutschland, sofort handlungsfähig. Vor diesem Hintergrund stellen sich grundsätzliche Fragen: Ist es sinnvoll, Themen für eine NSS zu identifizieren, ohne über eine zentrale Sicherheitsbehörde nachzudenken, die ein schnelleres, lagegerechtes Handeln ermöglicht? Müssten nicht institutionelle Anpassungen der deutschen Sicherheitsarchitektur am Anfang aller Überlegungen stehen? Fehlt der entscheidende Baustein NSR, den andere Länder als selbstverständlich erachten und der dort am Beginn jeder Reaktion und Strategiebildung steht? Von der Einsicht, dass zügig gehandelt werden muss, zeugen immerhin Einzelinitiativen der Bundesregierung.
Schutz gegen komplexe Bedrohungslagen
Am 26. September 2022 hat das neue Territoriale Führungskommando Inland der Bundeswehr seine Arbeit als „Hülle für einen Nationalen Krisenstab“ aufgenommen. Schützen soll es gegen hybride Einflussnahme und Kriegführung, also gegen die Kombination von militärischen Angriffen, Cyberattacken, Desinformation und wirtschaftlichem Druck. Das macht Sinn und die Bundeswehr verteidigungsfähiger. Entsteht so in der Berliner Julius-Leber-Kaserne bereits die Vorstufe zu einem deutschen NSR? Ist damit die Frage beantwortet, ob die NSS der Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrats weiterhin vorausgehen sollte?
Schutz gegen komplexe Bedrohungslagen ist genau das, was ein NSR leisten soll. Das und mehr. Das Kommando, das ursprünglich erst im Frühjahr 2023 arbeitsfähig sein sollte, bearbeitet wichtige Komponenten des Gefährdungsspektrums – aber eben nicht alle. Neu und bemerkenswert ist jedoch der Ansatz, einen permanenten institutionellen Unterbau für einen womöglich dauerhaften Nationalen Krisenstab zu schaffen. Damit reiht sich das Territoriale Führungskommando nicht in die bisherige Praxis der Ad-hoc-Krisenkabinette und -stäbe im Kanzleramt ein. Überdies wäre das Kasernengelände ein geeigneter, zumal geschützter Ort für eine Analyseeinheit, die auch bislang nicht gehörte externe Experten an der Vorbereitung der NSR-Sitzungen beteiligen könnte.
Institutionell, wenngleich physisch nicht im Regierungsviertel, ist mit der Indienststellung des Kommandos der erste Schritt hin zu mehr Verstetigung und zentraler Koordinierung gemacht. Der jetzigen Entwicklung folgend dürfte die Erarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie parallel voranschreiten. Das ist nachvollziehbar für den Moment, aber nicht zielführend. Vor allem, wenn es bei einer Vielzahl von Institutionen bleibt, die nur Segmente der immer komplexer werdenden Lage abbilden können, und Strategiebildung nicht zentral koordiniert wird. Entscheidend ist letztlich nicht, wann die erste NSS tatsächlich vorliegt oder ob ein NSR (unter der derzeitigen Bundesregierung die unwahrscheinlichste Option) noch vorher eingerichtet oder gar als „Light“-Variante erprobt wird. Vielmehr kommt es darauf an, welche Institution die NSS künftig kontinuierlich und mehrdimensional mit einem 360-Grad-Rundumblick fortschreiben kann. Ein Ressort allein wäre damit überfordert.
Viele Stimmen, kein Chor
Wie viele Ad-hoc-Krisenstäbe im Bundeskanzleramt den Weg zu einem deutschen NSR auch immer pflastern werden – es ist höchste Zeit für die Einsicht, dass viele Stimmen noch keinen Chor ergeben und ein fester Proberaum unerlässlich ist. Auch dafür, dass Dirigent und Liedtext schneller denn je zur Hand sein müssen. So kann etwa die Mitte September 2022 ebenfalls temporär eingesetzte Konzertierte Aktion, die Unternehmen und Verbände in die Erarbeitung von Maßnahmen zum wirtschaftlichen Schutz Deutschlands einbeziehen soll, auch bestenfalls Teillösungen anbieten. Zudem ist ihr nächstes Treffen erst für November geplant. Das ist lang in einer Situation, in der stündlich Meldungen zum Vorgehen Russlands in und außerhalb der Ukraine eingehen, die Deutschland unmittelbar betreffen. Über Cyberattacken, Fake News oder Gasverknappung ist die Bundesrepublik bereits Angriffsziel.
Staatliche Sicherheitsvorsorge kann stets nur so gut sein wie ihre Analyse- und Vorausschaukapazitäten. Ohne eine leistungsfähige übergeordnete Institution, die Analysen, Szenarien und Strategien zusammenführt und Maßnahmen zentral konzertiert, gelingen jedoch weder ein umfassendes Lagebild noch strategische Empfehlungen für immer komplexer werdende Bedrohungen.
Einen NSR zu schaffen, bevor die Arbeiten an einer NSS beginnen, wäre die logische Abfolge, für die sich viele Partnerstaaten Deutschlands entschieden haben. In diesem Idealszenario könnte der Rat Risikobewertungen rund um die Uhr aus sämtlichen verfügbaren Quellen speisen und Impulse für das Vorgehen geben, namentlich für die strategischen Inhalte der NSS. Einheitliche Corona-Regeln, Sanktionen und Waffenlieferungen im Verbund mit internationalen Partnern und Industrie, Konzepte für Energie- und Cybersicherheit, Nothilfen für Unternehmen und Haushalte, bundesweite und private Bevorratung für Krisen – über all dies und mehr könnte der NSR beraten. Nicht willkürlich, sondern aus der Abwägung der jeweils vorrangig und zu vernetzenden Problemstellungen.
Der Mehrwert eines Nationalen Sicherheitsrats läge in seiner Fähigkeit, für das gesamte Gefährdungsspektrum tagesaktuell flexibel ebenso wie strategisch-konzeptionell langfristig reagieren zu können. Dazu würden in einer externen Analyseeinheit Expertencluster je nach Lage zusammengestellt und wieder aufgelöst: ein schnell umsetzbares institutionelles Design, um sicherheitspolitischen Herausforderungen durch optimierte Entscheidungsvorbereitung wirksam zu begegnen. Während der Druck steigt, belastbare institutionelle Lösungen ins Werk zu setzen, befindet sich Deutschland noch auf einem Kurs, der den Erfinder des Mäander-Musters mit Stolz erfüllt hätte. So wie im Kontext des Ukraine-Krieges politische Grundpositionen ins Gegenteil umschlagen, ist nicht auszuschließen, dass der einen oder anderen Tat in naher Zukunft doch ein Rat folgen wird.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2022, S. 110-111
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