Titelthema

01. Jan. 2024

Szenario 1: China greift Taiwan an

Die USA tun bereits viel, um für einen Versuch Pekings, die Insel einzunehmen, gewappnet zu sein. Deutschland und Europa müssen ihren Beitrag leisten, einschließlich der fortgesetzten Hilfe für die Ukraine.

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Bild:  Die taiwanesischen Streitkräfte üben (hier im Juli 2023) im Han-Kuang-Manöver die Abwehr einer Invasion.
Dass China versuchen wird, Taiwan einzunehmen, gilt in den USA als gesetzt. Die taiwanesischen Streitkräfte üben jeden Sommer (hier im Juli 2023) im Han-Kuang-Manöver die Abwehr einer Invasion.
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US-Soldaten an vorderster Front im Indo-Pazifik tragen heute ganz offen Abzeichen mit der Zahl 2027 auf ihren Fliegeranzügen und Uniformen. Diese Zahl bezieht sich auf die Annahme, dass China in diesem Jahr willens und in der Lage sein wird, Taiwan mit militärischer Gewalt einzunehmen.

Dass dieses Szenario wahrscheinlich ist, gilt mittlerweile im gesamten US-Militär als gesetzt und befeuet das gemeinsame Bestreben der Streitkräfte, dieser Herausforderung gewachsen zu sein. 

Dies dient natürlich der Abschreckung, auch wenn die besonneneren Befehlshaber durchaus um die Gefahr wissen, die darin liegt, dass man auf diese Weise genau das Szenario heraufbeschwört, das man zu verhindern versucht. In den USA haben sich die Falken in beiden Parteien bei der China-Politik durchgesetzt, legt man die Milliarden an zusätzlichen Mitteln für das Pentagon zugrunde. Ein Kommandeur, der sich in den kommenden vier Jahren nicht auf ein solches Szenario vorbereitet, würde im hohen Bogen aus den Streitkräften hinausgeworfen.

Die Folgen eines chinesischen Angriffs auf Taiwan wären natürlich weitreichend. Was könnte er für das Bündnis der westlichen Nationen bedeuten? Die Frage stellt sich, ohne dass wir Zeit und Tinte verschwenden, um die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses einzuschätzen – es reicht, dass der wichtigste Partner unseres zentralen Militärbündnisses, der NATO, darin eine wichtige Herausforderung sieht. 

Es ist unbestreitbar, dass China bewusst eine amphibische Streitmacht aufbaut, die in der Lage ist, die 100-Meilen-­Zone der Straße von Taiwan zu überwinden und das Land zu überfallen. Während wir uns seit Langem auf die chinesische Marine konzentrieren, die inzwischen bezogen auf die Anzahl ihrer Kriegsschiffe größer ist als die amerikanische, ist auch die chinesische Luftwaffe schnell gewachsen. Die Investitionen in Hyperschallraketen und andere ballistische Raketen zielen nicht nur darauf ab, die Flugzeugträger der US-Marine auf Distanz zu halten, sondern bedrohen Taiwan auch direkt. Jüngste US-Kriegsszenarien haben die ­prognostizierte Wirksamkeit dieser Systeme demonstriert, wobei die Ergebnisse darauf hindeuten, dass bei der Vereitelung eines solchen ­Angriffs durch die USA nicht Flugzeugträger, sondern Atom-U-Boote und Langstreckenbomber an entscheidender Stelle zum Einsatz kämen.

Allerdings würden die Vereinigten Staaten viele wertvolle Ressourcen verlieren und erhebliche Verluste erleiden. Man kann sich daher nur schwer vorstellen, dass sie unter diesen Umständen einen Teil ihrer leistungsfähigsten Streitkräfte zurückhalten würden.

U-Boote und Langstreckenbomber gehören zu den Streitkräften, die für die Verteidigung der Seekommunikationslinien der NATO über den Atlantik und für die Stärkung der NATO vorgesehen sind, indem sie Russlands kritische Infrastrukturen bedrohen. Der Fall „Taiwan-Invasion“ würde daher unweigerlich alle militärischen Ressourcen der USA in Anspruch nehmen – und damit auch die für die Verteidigung Europas vorgesehenen Mittel. Es wäre fahrlässig, diese Planungsannahme nicht in unseren eigenen Eventualfallplänen zu berücksichtigen. Es käme den USA gegenüber der Aussage gleich, sie würden mit der Verteidigung Europas ihre Zeit verschwenden. Wir müssen darüber nachdenken, was dies für den europäischen Teil der NATO und für Deutschland bedeutet.



Eine koordinierte Antwort

Erstens ist es wichtig zu erkennen, dass sich das US-Militär bereits bis zu einem ­gewissen Grad – wenn auch derzeit eher konzeptionell und emotional – in Richtung Taiwan orientiert hat. Das wird sich wahrscheinlich fortsetzen, und so kann man sich nur auf wenige der amerikanischen Ressourcen, von denen die NATO-Pläne zur Verteidigung Europas abhängen, wirklich verlassen. Der Krieg in der Ukraine hat auf jeden Fall die Fiktion entlarvt, dass Uncle Sams Arsenal unerschöpflich sei und er seinen europäischen Partnern in letzter Instanz stets sein eigenes prallgefülltes Magazin zur Verfügung stellen werde, weil diese selbst nicht in Kriegsvorräte investiert haben. 

Mit seiner Kritik am europäischen Pfeiler der NATO war Trump nur insofern ein Ausreißer unter den US-Präsidenten, als dass er sie auf grobe Weise formulierte. Alle seine Vorgänger haben höflichere Vergleiche angestellt, die aber in Wahrheit ebenso wenig schmeichelhaft waren. Europa muss mehr Ressourcen in seine eigene Verteidigung stecken – es braucht keine massiv größeren Streitkräfte, aber sie müssen umfassend ausgerüstet werden. 

 

Eine chinesische Invasion Taiwans im Jahr 2027 gilt im gesamten US-Militär als  wahrscheinliches Szenario

 

In dieser Hinsicht spielen die neuen NATO-Mitglieder, allen voran Finnland, schon seit Langem eine Vorreiterrolle. Eine Standardisierung des Materials würde der NATO sowohl im Hinblick auf die Kosten als auch auf die Logistik sehr helfen, und Deutschland ist in der EU sowie in der NATO gut positioniert, um bei der Förderung einer solchen Effizienzoffensive eine führende Rolle zu übernehmen. 

Aufgrund seiner geografischen Lage ist Deutschland die zentrale Landmacht in der NATO, auch wenn Polen eifrig und eindrucksvoll aufrüstet (siehe dazu auch Szenario 5). Eine jahrzehntelange friedensbedingte Ruhe hat allerdings dazu geführt, dass sich administrative ­Hemmnisse auf­gebaut haben, wie beispielsweise Beschränkungen für Konvois und Bahntransporte, die verschiedene Bündnisländer durchqueren. Das würde Bemühungen um die rasche Verstärkung einer möglichen Ostfront behindern, sollte dies erforderlich sein. Bürokratische Probleme wie diese könnten mit dem notwendigen politischen Willen kostengünstig gelöst werden.  

All dies würde anderen europäischen Partnern die Möglichkeit geben, das zu tun, was sie am besten können. Großbritannien hat sich an der Veränderung des strategischen Gleichgewichts im Süd- und Ostchinesischen Meer bereits beteiligt, beispielsweise durch das AUKUS-Abkommen mit den USA und Aus­tralien über den Technologietransfer von atomgetriebenen U-Booten und anderen Hightech-Gütern. Auch wenn die von der Marine dominierte Führungsriege im britischen Verteidigungsministerium dies derzeit nicht versteht und die britische Neuausrichtung im Indo-Pazifik vor allem durch die Erhöhung der maritimen Präsenz anstrebt, sind es tatsächlich technologische Kooperationsprogramme, die einen echten militärischen Unterschied ausmachen, wenn es um die Stärkung der strategischen Lage geht.

 

Der schnelle Aufbau einer europäischen Halbleiter-industrie ist Teil der Abschreckung einer chinesischen Invasion Taiwans

  

Eine unmittelbare Auswirkung eines chinesischen Angriffs auf Taiwan wäre der Verlust der wichtigsten Quelle für Halbleiter, die die Grundlage für viele Produktionszyklen im digitalen Zeitalter bilden – auch für militärische Ausrüstung. Das EU-Programm zum Aufbau einer europäischen Halbleiterindustrie kommt also zur rechten Zeit und wird erhebliche sicherheitspolitische Auswirkungen haben. Eine Beschleunigung dieses Programms hätte wirtschaftlichen Nutzen und brächte Vorteile mit sich, die – was auch immer mit ähnlichem Mitteleinsatz an militärischer Ausrüstung gekauft werden könnte – bei weitem überwiegen werden. Eine solche Maßnahme ist Teil der Abschreckung „by denial“, da sie China einen Teil der Vorteile einer Invasion vorenthält, mit denen Peking ohne Zweifel rechnet.



Testfall Ukraine

Die Ukraine ist dabei aktuell ein Testfall für das Taiwan-Szenario. Obwohl die NATO nicht direkt involviert ist, haben die westlichen Großmächte, die das Rückgrat der politischen Führung der Allianz bilden, alle Position zur Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression bezogen. Anders als einige Stimmen in den USA, die die Auseinandersetzung um die Ukraine für ein Ablenkungsmanöver halten, würde es die Glaubwürdigkeit des Westens fundamental untergraben, die gegebene Zusage, die Ukraine mit allen notwendigen Mitteln zu unterstützen, wieder zurückzuziehen.

Russland würde sofort erkennen, dass es dem Westen an Entschlossenheit mangelt und die westliche Gemeinschaft in Ausein­andersetzungen dieser Art stets „zuerst blinzeln“, will heißen: zurückschrecken wird. China, das sich selbst als deutlich größere Herausforderung für den Westen als Russland betrachtet, wird nach Schwachpunkten Ausschau halten. Der sogenannte Globale Süden wird feststellen, wessen Rhetorik durch Taten untermauert wird. Es liegt daher eindeutig im langfristigen Interesse Deutschlands, bei der Unterstützung der Ukraine weiterhin eine Führungsrolle zu übernehmen und Russlands Präsidenten Wladimir Putin die Möglichkeit zu nehmen, zu behaupten, er habe der NATO erfolgreich die Stirn geboten. 

Das letzte Teil des Puzzles ist der Iran, ein Sponsor von Terrorismus gegen die freie Welt. Als Hauptarchitekt des Abkommens über das iranische Atomprogramm (bekannt unter der Abkürzung JCPOA) von 2014 hat sich die deutsche Politik weiterentwickelt, ohne die Grundprinzipien, die dem Abkommen zugrunde lagen, infrage zu stellen. Ob Bemühungen in Richtung von Handels- und Kulturbeziehungen den gewünschten Einfluss hatten, ist fraglich. Die Menschenrechtsverletzungen im Iran und eine iranische Außenpolitik, die deutschen Interessen zuwiderläuft, lassen eigentlich keinen Raum mehr für Illusionen. 

Seit den Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat Deutschland seine Werte und Normen in einer beispielhaften Klarheit kommuniziert. Vizekanzler Robert Habecks neunminütiges Video, in dem er erklärt, Deutschland werde Antisemitismus in keiner Weise tolerieren, erfuhr international große Anerkennung. Könnte Deutschland nun in seiner Verurteilung derjenigen, die die Hamas und ihresgleichen unterstützen, noch weiter gehen? Wenn wir uns gemeinsam gegen den vielschichtigen Druck zur Wehr setzen, der derzeit an verschiedenen Fronten gegen den Westen ausgeübt wird, so würde eine härtere Gangart gegenüber dem Iran sicher einen der Hauptverantwortlichen treffen. 

Kurzum: Bei der Zeitenwende geht es nicht nur um die singuläre Ungeheuerlichkeit des russischen Einmarschs in der Ukraine. Dieser kann nun als Teil eines eskalierenden Drucks gesehen werden, der im gesamten Westen zu spüren ist und der von einer noch nicht gefestigten, aber derzeit sehr wirksamen Allianz unter der Führung Chinas, Russlands und des Irans orchestriert wird. Der Globale Süden beobachtet dies mit großem Interesse. Die Art und Weise, wie der Westen darauf reagiert und versucht, die sich herausbildende Achse für alle Beteiligten kostspieliger und weniger effektiv zu machen, wird die zukünftige globale Ordnung bestimmen, die unsere bestehende Ordnung seit 1945 ersetzen wird – oder eben nicht. 

Um das westliche Bündnis zusammenzuhalten, müssen wir die multidimensionale Bedrohung verstehen: Der erste Teil der Zeitenwende ist also vor allem eine intellektuelle Aufgabe. Der zweite Teil besteht darin zu begreifen, wie Westeuropa einen größeren Teil der Last einer wirksamen Verteidigung auf sich nehmen und gleichzeitig Wege finden kann – sowohl in wirtschaftlicher und politischer als auch in militärischer Hinsicht –, um die USA dabei zu unterstützen, ihre Bemühungen stärker darauf zu konzentrieren, China von einem Angriff auf Taiwan abzuhalten. Es wäre ein Erfolg, wenn keiner der westlichen Pläne für den „Tag X“ jemals zur Anwendung käme. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen eben diese Pläne möglichst glaubwürdig erscheinen: Darin besteht der praktische Teil der Zeitenwende.

Aus dem Englischen von John-William Boer     

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2024, S. 38-41

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Air Marshall (ret.) Edward Stringer EJS, CB, CBE, war von 2018 bis 2021 Generaldirektor der britischen Verteidigungsakademie 
sowie Generaldirektor für Gemein-
same Streitkräfte-
entwicklung im Strategischen Kom-
mando der britischen Armee.

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