Strategie gegen Salamitaktik
Der Beginn schien verheißungsvoll: Bei seinem Treffen mit US-Präsident Trump am 12. Juni 2018 in Singapur zeigte sich Kim Jong-un bereit, über die Denuklearisierung seines Landes zu verhandeln. Doch im Nachgang zu dem Gipfel wurde schnell deutlich, dass Nordkorea wohl zu taktischen Zugeständnissen bereit ist, aber keine großen Abstriche machen will, wenn es um das geht, was man die „Byungjin-Politik“ nennt: die gleichzeitige Entwicklung von Atomwaffen und Wirtschaft. Nordkoreas Führung möchte das Land zwar für den Handel öffnen, sucht aber gleichzeitig Anerkennung als „virtueller“ Atomwaffenstaat: ein Staat, dem es theoretisch erlaubt ist, Nuklearwaffen herzustellen – auch wenn er zunächst keine Waffen baut, um etwaige Auflagen zu erfüllen.
Das außenpolitische Establishment in Washington ist skeptisch. Nur zu gut erinnert man sich dort daran, wie Nordkorea seit der ersten Nuklearkrise 1993 immer wieder gegen Abmachungen verstoßen hat. Kein Wunder, dass Kim Jong-un versucht, Trump von diesem Establishment zu lösen.
Zwar hat das nordkoreanische Regime seine Nuklear- und Raketentests eingestellt sowie das Testgelände in Punggye-ri geschlossen. Die vollständigen nuklearen Bestände wurden bisher allerdings noch nicht offengelegt. Die USA haben ihre jährlichen Militärübungen mit Südkorea ausgesetzt und verstehen dies als Gegenleistung für die Einstellung der Tests und die Schließung von Punggye-ri. Darüber hinaus erklärte sich Nordkorea bereit, Nukleareinrichtungen in Nyongbyon abzubauen – in Anwesenheit amerikanischer Beobachter und bei entsprechendem Entgegenkommen der USA.
Eines dieser Zugeständnisse wäre in den Augen Nordkoreas eine US-Erklärung, die den Korea-Krieg beendet. Bisher gibt es hier keinen Friedensvertrag, der über das Waffenstillstandsabkommen von 1953 hinausginge. Südkorea unterstützt Nordkoreas Position, die USA zögern, den Vorschlag anzunehmen. Man fürchtet, eine zu frühe Erklärung könnte unnötige Kontroversen um den Status des UN-Kommandos und das US-Militär in Südkorea provozieren. Das wiederum würde den Fokus auf die Denuklearisierung Nordkoreas schwächen.
Nordkorea zeigte sich in den Verhandlungen beweglich und war ersatzweise bereit, die Nukleareinrichtungen in Nyongbyon abzubauen, wenn die USA zumindest die Sanktionen gegen das Land lockern würden. Doch Washington will die Sanktionen aufrechterhalten, bis Nordkorea die letzte Phase der vollständigen nuklearen Abrüstung erreicht hat. US-Vizepräsident Mike Pence machte Mitte November 2018 deutlich, dass er als Ergebnis eines zweiten Gipfeltreffens zwischen den USA und Nordkorea einen Plan erwarte, der nicht nur die nuklearen Kapazitäten Nordkoreas offenlege, sondern auch Richtlinien zur Überprüfung und Demontage enthalte. Laut Pence wird dieses Treffen nur stattfinden, wenn Nordkorea einer Roadmap zur vollständigen Denuklearisierung zustimmt. Doch laut einer Reihe von geheimdienstlichen Berichten läuft Pjöngjangs Nuklearprogramm weiter.
Kim Jong-uns Strategie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Nordkorea wird einen „taktischen“ Dialog mit den USA fortsetzen, bis die Wirtschaftssanktionen aufgehoben werden. Es wird die Verschrottung von Interkontinentalraketen und nuklearen Sprengsätzen vorantreiben, die das US-amerikanische Festland erreichen können. Die Interkontinentalraketen dienen damit als Faustpfand, bis die USA eine Normalisierung ihrer diplomatischen Beziehungen zu Nordkorea akzeptieren. Indem Nordkorea technisch veraltete Nuklearanlagen wie Nyongbyon eigenverantwortlich abbaut, will es verhindern, dass Washington einen Ablaufplan erstellt, der die nachprüfbare Offenlegung seiner Nuklearprogramme verlangen würde. Das Regime wird außerdem mit Südkorea kooperieren, um es als Puffer zu den USA einzusetzen; gleichzeitig wird man von Präsident Trump fordern, dass er die US-Armee aus Südkorea abzieht oder zumindest ihre Stärke deutlich reduziert – als Gegenleistung für die teilweise (und nur scheinbar vollständige) Denuklearisierung Nordkoreas.
Ein strategischer Konkurrenzkampf
Möchte man Nordkorea zur Denuklearisierung bewegen, wird es unbedingt nötig sein, dass sowohl Südkorea mit den USA als auch die USA mit China kooperieren. Wenn Nordkorea seinerseits den Druck reduzieren will, der von den USA oder China ausgeübt wird, muss es die beiden gegeneinander ausspielen. Das kann funktionieren, solange beide ihren strategischen Konkurrenzkampf ausfechten und ihre bilateralen Beziehungen auch an Nordkorea geknüpft sind.
Insbesondere China sieht sein Verhältnis zu Nordkorea vor dem Hintergrund der Rivalität mit den USA. Von daher muss das nordkoreanische Nuklearproblem mit den strategischen Konflikten um Taiwan und das Ost- und Südchinesische Meer zusammengedacht werden. China wird Nordkorea so lange als „Pufferzone“ behalten, bis die USA Zugeständnisse machen. Nach Trumps und Kim Jong-uns Treffen in Singapur öffnete China sich ein Hintertürchen, um diesen Puffer aufrechtzuerhalten – Peking forderte gemeinsam mit Moskau die Vereinten Nationen auf, die Sanktionen gegen Nordkorea zu lockern.
Chinas Nordkorea-Albtraum sieht so aus: Das Regime in Pjöngjang kommt den USA zügig entgegen und wird de facto ein Alliierter, ohne dass es bereits vollständig nuklear abgerüstet hätte. Nordkorea wäre dann als Nuklearmacht mit den USA verbunden und müsste sich fortan keine Interventionen oder Demütigungen von Seiten Chinas mehr gefallen lassen. In diesem Szenario stünde China einer Allianz aus Japan und den beiden Koreas unter der Führung der USA gegenüber – Japan sowie Nord- und Südkorea würden so über ihre jeweiligen Beziehungen zu den USA näher aneinanderrücken. Es ist allerdings völlig offen, ob Südkorea seinen nördlichen Nachbarn als Quasi-Alliierten akzeptieren würde, ohne vorher eine Einigung über das Nuklearproblem erzielt zu haben. Ein erstarkendes Nordkorea könnte es dem Süden überdies erschweren, die Koreanische Halbinsel nach seinen Vorstellungen zu vereinen.
Auch China und Südkorea müssen zusammenarbeiten, um eine Denuklearisierung Nordkoreas und ein umfassendes Friedensregime auf der Koreanischen Halbinsel zu installieren. Zu einem solchen Friedensregime müssten neben der Denuklearisierung eine diplomatische Normalisierung zwischen den USA und Nordkorea sowie zwischen Nordkorea und Japan gehören. Darüber hinaus wären eine Normalisierung des Handels, eine Reduzierung der Waffen und ein Friedensvertrag nötig. Pjöngjang seinerseits würde wohl auf einem Rückzug der US-Truppen bestehen.
Doch letztlich dürfte Nordkorea bei seiner Salamitaktik bleiben, um die Vorteile jedes einzelnen Zugeständnisses zu genießen. Diese Taktik funktioniert so lange, wie die USA keine ernsthafte Unterstützung von Südkorea und China bekommen. Wenn Pjöngjang den Eindruck gewönne, dass Trump ungeduldig wird, könnte es seine Interkontinentalraketen abrüsten. Damit würde es einen Keil zwischen die USA, Japan und Südkorea treiben. Letztere fühlen sich eher von Nordkoreas Kurz- und Mittelstreckenraketen bedroht.
Die Vereinigten Staaten und Südkorea müssen ihr Möglichstes tun, um sich auf eine detaillierte Roadmap zur vollständigen nuklearen Abrüstung zu einigen. Wenn möglich, sollten beide Länder auch China mit ins Boot holen. Im Zentrum eines solchen Fahrplans stünde ein strategisches Gerüst, das es ermöglicht, die vollständige nukleare Abrüstung gegen ein Friedensregime auf der Koreanischen Halbinsel einzulösen, anstatt nur einen Friedensvertrag zu unterzeichnen.
Eine voreilige Verkündung des Kriegsendes sollte vermieden werden, da sie unnötige Kontroversen über dessen politische und rechtliche Wirkung auf die US-Streitkräfte in Südkorea und das Kommando der Vereinten Nationen hervorrufen würde. Sollte Nordkorea einwilligen, müssten die beiden Koreas, China und die USA über die Einführung eines Friedensregimes verhandeln. Dieser Prozess könnte durch die Unterzeichnung einer Erklärung „für“ das Kriegsende ermöglicht werden, die einen Plan zur Denuklearisierung und zum Friedensregime selbst enthält. Die Erklärung zum Ende des Krieges sollte erst in einem letzten Schritt folgen, wenn Nordkorea vollständig, überprüfbar und unumkehrbar nuklear abgerüstet hat.
Vom taktischen zum strategischen Dialog
Unsere wichtigste Aufgabe liegt darin, Nordkoreas „taktischen Dialog“ in einen „strategischen Dialog“ umzuwandeln. Nur so können wir Pjöngjangs Verzögerungstaktik überwinden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir uns darauf einigen, was wir von unseren Gesprächspartnern fordern und was wir ihnen dafür geben können. Wir benötigen eine gemeinsame Roadmap, die Pjöngjang auferlegt oder mit ihm ausgehandelt wird.
Nordkorea muss sein Atomprogramm einfrieren und Kontrollen zulassen. Darüber hinaus sollte unsere Politik auf eine Transformation des nordkoreanischen Regimes ausgerichtet sein. Eine solche Transformation unterscheidet sich von einem Regimewechsel; sie zielt darauf ab, das Verhalten der Regierung zu verändern, nicht darauf, sie auszutauschen. Da Kim Jong-un den Erhalt seines Regimes höher einstuft als die nationale Sicherheit, müssen wir weiter mit Sanktionen drohen, um die Regierung in die gewünschte Richtung zu lenken. Kim Jong-un wird das Atomwaffenprogramm erst dann einstellen, wenn er versteht, dass er damit den Bestand seines eigenen Regimes bedroht. Bestehende Sanktionen müssen während der Verhandlungen weiterlaufen, um dieses Verständnis bei Kim Jong-un zu schärfen.
Südkorea, Japan, die USA und China sind in der Pflicht, ihre Nordkorea-Politik zu koordinieren und ihre Folgen abzuwägen. Soll diese gemeinsame Politik gelingen, muss Washington seinen Handelskrieg mit China eindämmen, um dessen Einfluss auf das nordkoreanische Nuklearproblem zu begrenzen. Damit wüsste Kim Jong-un, dass er nicht beides haben kann: sein Nuklearprogramm und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Er müsste sich für eine Option entscheiden.
Sung-han Kim ist Dekan an der Korea University und ehemaliger Vizeminister für Auswärtiges.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2019, S. 30-34