Porträt

02. Jan. 2023

Stimme des Südens

Sie setzte Queen Elizabeth als Staatsoberhaupt von Barbados ab, ernannte Pop-Ikone Rihanna zur Nationalheldin und kämpft mit nie erlahmendem Mut für Klimagerechtigkeit: Mia Mottley ist eine in jeder Hinsicht bemerkenswerte Regierungschefin.

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Bild: Mia Mottley bei einer Rede vor der UNO in New York
„Die heutige Welt ähnelt zu sehr der Welt, die wir unter den Kolonialmächten hatten“: Mit Worten wie diesen spricht Mia Mottley vielen Menschen aus dem Herzen.
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There is so much trouble in the world“ – „Es gibt so viel Ärger auf der Welt“: Mia Amor Mottley baut gern Textzeilen von Jamaikas Reggae-Legende Bob Marley in ihre Reden ein. So wie Anfang Juni in Los Angeles auf dem Amerika-Gipfel, als sie in ihrer Ansprache mehrere Passagen aus dem Song zitierte.

Popzitate statt gesteltztem Politikerjargon – die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge in eine allgemein verständliche Sprache zu fassen, verschafft Mottley Gehör. Beim Glasgower Klimagipfel 2021 rieb sie den Vertretern der reichen Länder schonungslos deren Heuchelei unter die Nase. Seit 2008 hätten die G20-Staaten 25 Billionen Dollar ausgegeben, um die eigene Wirtschaft anzukurbeln – Geld, mit dem man die schlimmsten Auswüchse der Klimakrise hätte verhindern können. Gelinge es nicht, die Treibhausgasemissionen zu begrenzen, sei das ein „Todesurteil“ für kleine Inselstaaten wie Barbados.



Überwältigender Sieg

Diesen kleinen Inselstaat führt Mottley seit 2018 als erste weibliche Premierministerin. Im vergangenen Jahr sorgte sie für den endgültigen Bruch ihres Landes mit dem britischen Kolonialismus, indem sie die konstitutionelle Monarchie abschaffte und Queen Elizabeth als Staatsoberhaupt absetzte. Zugleich ernannte sie Pop-Ikone Rihanna zur Nationalheldin. Im Januar errang Mia Mottley, die in ihrer Heimat nur beim Vornamen gerufen wird, mit mehr als 70 Prozent der Stimmen einen überwältigenden Sieg und sicherte so ihre Wiederwahl.

Die heute 57-Jährige stammt aus einer Politikerfamilie: Ihr Großvater war Bürgermeister von Bridgetown, der Vater diente als Generalkonsul des Landes in den USA. Angeblich hatte Mottley einst ihrer Lehrerin prophezeit, dass sie die erste Premierministerin des Landes werden würde.

Ihren Jura-Abschluss erlangte Mia Mottley an der London School of Economics; mit 26 ging sie in die Politik. Bereits 1994 wurde sie mit gerade einmal 29 Jahren Ministerin für Bildung, Jugend und Kultur; sie war die erste weibliche Generalstaatsanwältin von Barbados und auch als erste Frau Oppositionsführerin, als sie 2008 den Vorsitz der Barbados Labour Party (BLP) übernahm.

Mottley war Mitvorsitzende des Entwicklungsausschusses der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF). UN-Generalsekretär António Guterres ernannte sie zusammen mit Kanadas Premier Justin Trudeau zur Co-Vorsitzenden seiner Advocacy-Gruppe für nachhaltige Entwicklungsziele. Von einigen wird sie bereits als künftige UN-Generalsekretärin gehandelt.

Das Time Magazine zählt sie zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt, neben den Präsidenten Joe Biden, Wladimir Putin oder Wolodymyr Selensky. „Mutig, furchtlos und mit großem Intellekt und Witz ausgestattet“, eine „brillante Politikerin, die weiß, wie man Dinge auf den Kopf stellt“, beschrieb Ngozi Okonjo-Iweala, Generaldirektorin der Welthandelsorganisation, Mia Mottley. Und Rachel Kyte, jahrelang bei der Weltbank und den UN tätig, hält sie für eine der kreativsten und charismatischsten Führungspersönlichkeiten in der Frage der Klimafinanzierung.

Für Mia Mottley ist Klimafinanzierung eine der grundlegenden Fragen von Klimagerechtigkeit. Viele Länder mit niedrigem Einkommen seien in einem Teufelskreis aus Verschuldung, steigenden Kreditkosten und mangelndem Zugang zu umweltfreundlichen Technologien gefangen, der ihre Fähigkeiten zur Bekämpfung der globalen Erwärmung unterminiere.

Bezeichnend dafür ist eine Anek­dote: Am späten 31. Mai 2018, fünf Tage nach ihrer ersten Vereidigung als Premierministerin, versammelten sich Mottley und ihre Top-Berater im Vorzimmer ihres Büros in Bridge­town. Sie stellte ihr Handy auf laut und wählte die Nummer von Christine Lagarde, der damaligen geschäftsführenden IWF-Direktorin. Mottley kam gleich zum Punkt: Barbados stehe kurz vor der Zahlungsunfähigkeit; sie brauche Lagardes Hilfe.

Neun Monate zuvor waren zwei starke Wirbelstürme über die Karibik hinweggefegt. Auch wenn Barbados selbst nicht getroffen wurde, hatten sie die Anfälligkeit kleiner Karibikstaaten für Extremwetterereignisse deutlich gemacht. Der Klimawandel würde all die Projekte, die sich Barbados ohnehin nicht leisten konnte, noch notwendiger und auch teurer machen. Mottley wollte mit Lagardes Unterstützung statt des üblichen Kürzungsdiktats über eine Umstrukturierung der Schulden verhandeln, um Geld für Investitionen freizumachen.

Tatsächlich zeigte sich La­garde aufgeschlossen. Am Ende stand eine erweiterte Kreditvereinbarung des IWF, und Barbados hatte Zeit und finanziellen Spielraum gewonnen, sich gegen die Folgen des Klimawandels besser zu wappnen. Vor allem aber hatte Mottley die Regeln des globalen Finanzsystems und seiner mächtigen Vertreter infrage gestellt, die oft nicht erkennen wollen, wie der Klimawandel die traditionelle Dynamik von Schulden und Entwicklung verändert. War bislang jede Klima­krise eine Wirtschaftskrise, würde in Zukunft jede Wirtschaftskrise eine Klimakrise sein. Und Mottley sollte von nun an auch auf der großen Weltbühne für einen radikalen Umbau des internationalen Finanzsystems kämpfen.



Marshall-Plan fürs Klima

Mit dieser Forderung wurde sie auch beim diesjährigen Weltklimagipfel in Ägypten zum Sprachrohr der Entwicklungsländer. „Wir waren es, die mit ihrem Blut, ihrem Schweiß und ihren Tränen die industrielle Revolution finanziert haben“, erklärte Mottley in Sharm el-Sheikh. „Sollen wir jetzt doppelt belastet werden, indem wir auch noch die Kosten für die gestiegenen Emissionen zahlen? Das ist zutiefst ungerecht.“

„Die heutige Welt ähnelt zu sehr der Welt, die wir unter den Kolonialmächten hatten“, warnte sie und wiederholte die Forderung nach einer gründlichen Reform von Weltbank und IWF. „Viele Länder, die hier vertreten sind, gab es noch gar nicht, als diese Institutionen gegründet wurden. Wir müssen dies verstehen, um zu begreifen, warum wir nicht in der Lage waren, Fortschritte beim Klimawandel zu erzielen.“

Mottleys Frustration wird von Staats- und Regierungschefs aus dem gesamten Globalen Süden geteilt. Die Menschen in armen Ländern tragen die Hauptlast der Klimaschäden in Form von extremen Wetterereignissen, während die reichen Länder, auf die vier Fünftel der weltweiten Treibhausgasemissionen entfallen, ihre Versprechen, die Emissionen zu senken und Finanzhilfen bereitzustellen, nicht eingehalten haben. „Der Globale Süden bleibt der Gnade des Globalen Nordens ausgeliefert“, so Mottley.

Viele von Mottleys Vorschlägen sind in der sogenannten ­Bridgetown-Agenda zusammengefasst, die auch als „Marshall-Plan fürs Klima“ bezeichnet wird. Sie sieht eine Reihe von Initiativen zur Schaffung neuer Mechanismen zur finanziellen Unterstützung der vom Klimawandel am stärksten betroffenen Länder vor. Dazu gehört ein Klimaschutz-Treuhandfonds (Global Climate Mitigation Trust), der durch eine Neuemission von Sonderziehungsrechten im Wert von 650 Milliarden Dollar durch den IWF kapitalisiert werden soll. In gewisser Weise greift der auf dem Klimagipfel mühsam erzielte Kompromiss, einen Fonds zum Ausgleich klimabedingter Schäden in den ärmsten und verletzlichsten Ländern einzurichten, Mottleys Vorschlag auf.

Die genaue Ausgestaltung des Fonds und die Frage, welche Länder wieviel einzahlen und ob sie es überhaupt tun, wurde allerdings vertagt. Man müsse endlich Wege für gemeinsames Handeln finden, sonst werde man gemeinsam untergehen, schrieb Mottley anlässlich des Weltklimagipfels in einem Gastbeitrag für den Economist. Sie wage das Gegenteil zu hoffen.

Oder wie Bob Marley sagen würde: „The way earthly thin’s are goin’, anything can happen.“ – „So wie die irdischen Dinge laufen, kann alles passieren.“

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2023, S. 9-11

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Andreas Knobloch lebt und arbeitet seit mehr als zehn Jahren in Havanna. Er schreibt als freier Journalist für deutschsprachige Zeitungen und Magazine über politische und ökonomische Themen in Lateinamerika.