IP Special

27. Juni 2022

Stärken, stützen, informieren und helfen

Was eine Stiftung für das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit leisten kann – und was nicht.

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Bild: Statue einer Justitia
Sie ist das Symbol der Gerechtigkeit und der Rechtspflege schlechthin: die Figur der Justitia, hier eine Statue aus dem niederländischen Delft.
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Auch wenn Europa viele Rechtstraditionen kennt, einen zentralen Konsens gibt es doch: Es gilt das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Jedes staatliche Handeln muss im Rahmen des Rechts stattfinden. Dazu gehören vor allem unabhängige Gerichte, eine transparente, verhältnismäßige und verbindliche Gesetzgebung sowie der Zugang für alle Menschen zu öffentlichen Gerichten. Rechtsstaatlichkeit ist zudem unerlässlich für den Schutz sämtlicher Grundwerte, insbesondere der Grundrechte und der Demokratie. Medienpluralismus, das ungehinderte Wirken einer freien Zivilgesellschaft und der Kampf gegen Korruption tragen dazu bei, Rechtsstaatlichkeit zu sichern.



Dieses Prinzip ist der EU-Bevölkerung sehr wichtig: In einer Eurobarometer-Umfrage von 2021 sprachen sich 81 Prozent dafür aus, EU-Mittel nur jenen Staaten zu gewähren, die Rechtsstaatlichkeit und demokratische Prinzipien schützen. Gleichzeitig beurteilen laut EU-Justizbarometer (ebenfalls 2021) etwa zwei Fünftel der Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit der Justiz skeptischer als in den Jahren zuvor. Empfinden Bürgerinnen und Bürger Gerichte als nicht mehr unabhängig, begründen sie dies am häufigsten mit Einmischung oder Druck seitens Regierungen und Politik.



Auch faktisch ist die Rechtsstaatlichkeit in einigen Ländern der EU seit Jahren auf dem Rückzug. Die größten Defizite sind bekanntermaßen in Ungarn und Polen zu verzeichnen, doch auch Entwicklungen in anderen Ländern sind besorgniserregend. Beispiele sind das Ignorieren von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), wie es etwa unser Projektpartner Democracy Reporting International in Zusammenarbeit mit dem European Implementation Network in einem kürzlich erschienenen Bericht beschreibt.



Aufgrund dieser Erosion der Rechtsstaatlichkeit – und damit der Basis unseres gemeinsamen Europas – hat die Stiftung Mercator in der seit 2021 geltenden Fünf-Jahres-Strategie den Schutz europäischer Rechtsstaatlichkeit zu einem Schwerpunkt gemacht. Die Bedeutung des Themas ist klar, ebenso die Dringlichkeit, dem begonnenen Abbau von Rechtsstaatlichkeit entgegenzuwirken, damit wir auch in Zukunft in einem Europa leben können, das auf gemeinsamen, verlässlichen Rechtsstandards basiert, und in dem Grundrechte und Demokratie nicht verhandelbar sind. Weniger klar ist, wie eine Stiftung überhaupt dazu beitragen kann, die Rechtsstaatlichkeit zu schützen. Als private, unabhängige Stiftung wollen und können wir nicht einzelne Mitgliedstaaten direkt beeinflussen. Wir können keine Justizsysteme verändern und nicht direkt in die Politik eingreifen.



Und so sind die Rahmenbedingungen entscheidend. Es muss eine aktive und freie Zivilgesellschaft existieren, die sich für Rechtsstaatlichkeit und damit verbundene Anliegen einsetzt, es muss freie Medien geben, die über Missstände frei berichten können, Politikschaffende müssen sich für Rechtsstaatlichkeit einsetzen und Maßnahmen gegen Korruption ergreifen.



Als Stiftung, die bereits lange im zivilgesellschaftlichen Austausch aktiv ist, war es für uns naheliegend, schwerpunktmäßig mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten. Auch aus anderen Zusammenhängen wie etwa aus unserer Arbeit in China und der Türkei haben wir gelernt: Menschen, die sich unter Druck zivilgesellschaftlich engagieren, brauchen Unterstützung. Sie brauchen finanzielle Ressourcen, müssen Kompetenzen wie Interessenvertretung, politische Kommunikation, Strategieentwicklung und ähnliches ausbauen. Vor allem aber brauchen sie geschützte Räume, in denen sie immer wieder erfahren können: Ich bin nicht allein. Ich kann mich vernetzen, wir können uns stützen. Dies hat bislang zu zwei Projekten geführt: re:constitution (mit unseren Partnern Forum für Transregionale Studien und Democracy Reporting International) sowie zu Recharging Advocacy for Rights in Europe (mit dem Hungarian Helsinki Committee, dem Netherlands Helsinki Committee und der Hertie School of Governance). Beide Projekte haben vor allem ein Ziel: Menschen zusammenzubringen, die sich europaweit mit Rechtsstaatlichkeit beschäftigen, sie zu unterstützen, sichtbarer zu machen und so wiederum ihre Resilienz und ihre Wirksamkeit in ihren Heimatländern und letztlich in der EU als Ganzes zu stärken.



Handlungsoptionen anbieten

Ein weiterer unserer Ansätze ist es, komplexe rechtsstaatliche Themen kommunikativ aufzubereiten. Davon sollen zum einen Medienschaffende profitieren, die so leichter verständliches Material erhalten, um über Missstände berichten zu können – gerade dann, wenn sich eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit erst abzuzeichnen beginnt. Wir unterstützen etwa die Arbeit der NGO Freedom House, die einen der weltweit bekanntesten Indizes zur Messung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit herausgibt. Und wir verstehen die Politik als Zielgruppe. Gerade das Entwickeln von Handlungsoptionen und konkreten Strategien setzt ein vertieftes Verständnis der Faktoren voraus, die Demokratien resilient gegen Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit machen. Hier können gut aufbereitete Analysen von Thinktanks eine wichtige Rolle spielen; so zum Beispiel im Projekt RESILIO – Resilience observatory on the rule of law in Europe unseres Projektpartners Institut für Europäische Politik (IEP).



Darüber hinaus unterstützen wir politische Kommunikation zum Thema Rechtsstaatlichkeit, zum Beispiel indem wir mit der European Stability Initiative (ESI) zusammenarbeiten. Letztlich geht es auch darum, im Wettbewerb der Aufmerksamkeitsökonomie, der Twitter-Gewitter und Talkshowhypes Themen so zu platzieren, dass sie nicht von der medialen und politischen Agenda rutschen.



Nach nur eineinhalb Jahren Laufzeit unserer neuen Strategie können wir festhalten: Die Förderung europäischer Rechtsstaatlichkeit ist eines unserer anspruchsvollsten Vorhaben, aber sicherlich auch eines der wichtigsten und dringendsten. Wir werden uns nicht entmutigen lassen, denn unsere Projektpartner tun dies auch nicht. Ihr Engagement gilt nicht nur ihren jeweiligen Ländern, sondern Europa als Ganzem.



Denn das überwölbende Ziel ist, dass das gilt, was alle Mitgliedstaaten durch Art. 2 EU-Vertrag allen Bürgerinnen und Bürgern zugesichert haben: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2022, S. 24-25

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Dr. Anne Duncker ist Politologin, arbeitet seit rund zehn Jahren bei der Stiftung Mercator und leitet dort den Bereich Europa in der Welt. Zuvor war sie im Hochschulbereich sowie im Auswärtigen Amt tätig.

Mira Luthe-Xu ist Regionalwissenschaftlerin und seit 2017 bei der Stiftung Mercator. Zuvor war sie in der internationalen Kooperation und einer politischen Stiftung in China tätig. Seit 2021 verantwortet sie bei der Stiftung Mercator das Rechtsstaatlichkeitsportfolio.