Stabiler Störenfried: Orbáns Wiederwahl stellt Europa auf die Probe
Ein Kommentar.
Viel hatte man im Vorfeld geschrieben über die Bedeutung der ungarischen Parlamentswahl von Anfang April: Sie sollte zu einer Abstimmung über die zwölfjährige Regierungszeit Viktor Orbáns werden, eine Richtungswahl zwischen Ost und West, zwischen Demokratie und drohendem Autoritarismus in Europa. Doch die Hoffnungen auf die Stärke der Opposition und die Wechselstimmung erwiesen sich als verfehlt. Die Ungarinnen und Ungarn entschieden sich für Kontinuität – und damit für Orbán. Für ihn geriet die Wahl zum Triumphzug, während das heterogene Sechsparteienbündnis der Opposition ein Desaster erlebte. Der regierende Bürgerbund Fidesz ist mit 53,3 Prozent so stark wie nie – und dies bei einer fast rekordhohen Wahlbeteiligung. Die für Orbáns Durchregieren entscheidende Zweidrittelmehrheit bleibt erhalten.
Entsprechend euphorisiert trat Ungarns alter und neuer Ministerpräsident am Wahlabend vor seine Unterstützer. „Unser Sieg ist so groß, dass man ihn sogar vom Mond her sieht“, rief er, „man kann ihn sicher von Brüssel aus sehen.“ Damit setzte das animal politique Orbán auch rhetorisch auf Kontinuität: Der Triumph sei trotz überwältigender internationaler Unterstützung für seine Gegner zustande gekommen. Nun habe die ganze Welt gesehen, dass das ungarische Volk sein Land liebe.
Orbáns Selbstdarstellung als Garant nationaler Souveränität und Stabilität gegen internationale Strippenzieher und deren ungarische Lakaien bleibt ein Erfolgsrezept. Seine Gegner, die ein demokratischeres, europafreundliches und prowestlicheres Ungarn versprochen hatten, scheiterten an ihrem Unvermögen und am auf den Fidesz zugeschnittenen politischen System. Einmal mehr kritisierten Beobachter, dass die Wahl zwar frei gewesen sei, das Regierungslager aber Zugang zu erheblich größeren Ressourcen gehabt habe. Die Grenzen zwischen Orbáns Partei, regierungstreuen Medien und Staatsapparat verschwämmen.
Diese demokratisch bedenkliche Situation macht einen Machtwechsel immer schwieriger. Dennoch scheint die Strahlkraft dieser „illiberalen Demokratie“ beschränkt, hängt doch in keinem anderen EU-Land das System so stark von einer Person ab. Im Gegensatz etwa zu Polens rechten Revolutionären geht Orbán nicht mit dem Schlachtschwert vor, sondern mit dem Florett. Innerhalb von zwölf Jahren hat er die Institutionen schrittweise so umgestaltet, dass er heute als alternativlos gilt. Er steht für einen relativen Wohlstand, der mit den vorhergehenden Krisenjahren kontrastiert.
Treue zum Kriegstreiber Putin
Ähnlich wie sein politisches Vorbild Putin kann es sich Orbán leisten, die Argumente der Herausforderer zu ignorieren und sich als über dem Parteiengetümmel schwebender Staatslenker zu inszenieren. Das ermöglichte es ihm auch, den Ukraine-Krieg zum Schlüssel für den Wahlsieg zu machen: Statt sich für seine Treue zum Kriegstreiber im Kreml zu rechtfertigen, nutzte der 58-jährige Orbán die Sorgen der Ungarn über den militärischen Konflikt. Die Kritik der Opposition nahm er als Anlass zum Gegenangriff: Seine Gegner wollten das Land in den Konflikt hineinziehen, er sei der Garant für Frieden. Die von ihm forcierte totale Abhängigkeit von russischem Gas wurde zum Argument für eine Wiederwahl, eine weniger unterwürfige Haltung gegenüber Moskau zur Gefahr für nationale Sicherheit und Energieversorgung.
Damit schlug Orbán zwei Fliegen mit einer Klappe: Seine Russland-Politik verkaufte er einer durch die Inflation verunsicherten Bevölkerung als Beitrag zur Preisstabilität. Gleichzeitig positionierte er sich außenpolitisch für die Zukunft, in der Annahme, dass die EU ihre harte Haltung gegenüber Moskau nicht durchhalten werde, sobald die sozialen Folgen der Sanktionen spürbar würden.
Wider den „westlichen Mainstream“
Innenpolitisch hat all das verfangen, zumal es ein breit verankertes Gefühl aufgreift, wonach Ungarn lang genug Spielball der Großmächte gewesen sei. Dazu kommt die Abgrenzung vom „westlichen Mainstream“: Ähnlich wie in Russland dominieren in Ungarn heute Medien, die davon leben, sich an den „doppelten Standards“ und den extremsten Ausprägungen des gesellschaftlichen Liberalismus in Westeuropa und den USA abzuarbeiten.
Damit spielt das EU- und NATO-Mitglied Ungarn in der Öffentlichkeit zwar oft eine wenig konstruktive Rolle, etwa durch die Weigerung, Russland zu verurteilen und weiteren Sanktionen zuzustimmen. Und doch ist der Vorwurf, Orbán sei ein trojanisches Pferd Moskaus, ziemlich verlogen: Zumindest wirtschaftspolitisch sind die Positionen, die Budapest vertritt, nicht allzu weit entfernt von jenen Berlins oder Wiens. Dort empört man sich zwar über Moskaus Kriegsverbrechen, lehnt aber Energiesanktionen ab. Diese Doppelzüngigkeit anzuprangern, ist eine sehr komfortable Verteidigungsstrategie für Orbán.
Es gehört allerdings auch zu den politischen Paradoxien Europas, dass Ungarns Haltung ausgerechnet den Beziehungen zu Polen schadet, dem wichtigsten Verbündeten. Die Regierung in Warschau, eine Schwester im Geiste der konservativen Gegenrevolution, steht für eine besonders harte Linie gegenüber Moskau. Die polnische Kritik war in den letzten Wochen hart, und die Absage des Visegrád-4-Treffens symbolpolitisch beladen.
Neu sind die Differenzen über den Umgang mit Russland, die bisher auch die Bildung einer schlagkräftigen, weit rechts stehenden Fraktion im Europaparlament verhindert haben, allerdings nicht. Orbán scheint überzeugt, dass die Spannungen temporär bleiben – bald wieder übertüncht von der gemeinsamen Verteidigung der staatlichen Souveränität gegen „Brüssel“ und dem Streit um Rechtsstaatlichkeit. Brüssel könnte durchaus versucht sein, die neue Ausgangslage zu nutzen, um den Störenfried Orbán weiter zu isolieren. Zwei Tage nach der Parlamentswahl aktivierte die EU-Kommission erstmals den neuen Rechtsstaatsmechanismus: Ungarn drohen nun Subventionskürzungen. Im Falle Polens sah sie hingegen von einem analogen Schritt vorläufig ab und setzte Warschau keine Deadline zur Erfüllung ihrer Forderungen nach Änderungen der Justizreformen.
Das differenzierte Vorgehen hat sicher damit zu tun, dass der polnische Präsident Kompromissbereitschaft signalisiert hat. Zu den Erwägungen dürfte aber auch gehört haben, dass Westeuropa und die USA auf Polen als Frontstaat und Aufnahmeland für Flüchtlinge angewiesen sind. Die Politiker in Warschau machen sich so ihre Gedanken darüber, wie bedingungslos ihre Unterstützung für Ungarn noch sein kann angesichts veränderter Prioritäten durch Putins Aggression. Vor diesem Hintergrund erwarten nicht wenige eine nahe Kehrtwende in Orbáns Ukraine- und Russland-Politik. Zumindest militärisch wäre das denkbar, leistet Ungarn doch bereits heute einen Beitrag zur Stärkung der NATO-Ostflanke. Zwar lehnt Budapest Waffentransporte durch sein Territorium ab, ist aber gegenüber der Stationierung von NATO-Truppen durchaus gesprächsbereit.
Dafür, dass der Graben zwischen Realpolitik und Regierungspropaganda vorläufig weiterwächst, sorgte Orbán indes selbst. In seiner Siegesrede nannte er den ukrainischen Präsidenten Selensky, der ihn zuvor hart kritisiert hatte, in einer Reihe mit seinen internationalen „Gegnern“. Damit bestätigt sich eine weitere Eigenschaft Orbáns: Mit seiner konfrontativen Art, zwischen Freund und Feind kaum Zwischentöne zuzulassen, sabotiert er immer häufiger Kompromisse, die durchaus im Interesse Ungarns wären.
Ivo Mijnssen arbeitet als Korrespondent Zentral- und Osteuropa für die Neue Zürcher Zeitung in Wien.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 112-113
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