Soziale Medien
Bedrohen Twitter und Co. durch Hass und Fake News den demokratischen Konsens? Oder sind sie nur neutrale Vermittler? Acht Thesen auf dem Prüfstand
„Soziale Medien bilden zuverlässig die politische Stimmung ab“
Falsch. Zunächst einmal nutzen neue, radikale politische Akteure – seien es die AfD in Deutschland oder die Altright-Bewegung in den USA – soziale Medien stärker als etablierte Parteien und Gruppierungen. „Das liegt unter anderem daran, dass ihnen die finanziellen und infrastrukturellen Mittel fehlen, um die klassischen Medien zu nutzen“, sagt Cornelius Puschmann, der am Hamburger Hans-Bredow-Institut zum Thema soziale Medien forscht. „Die AfD hat beispielsweise mehr Facebookfans als alle anderen Bundestagsparteien. Gleichzeitig können diese Akteure die sozialen Medien mehr oder weniger aus dem Stand sowohl zur Außen- als auch zur Innenkommunikation und zur Mobilisierung nutzen, als kostengünstiger One-Stop-Shop gewissermaßen.“
Hinzu kommt, dass Nutzer mit extremeren Ansichten – egal ob rechts oder links der Mitte – sich in den sozialen Medien überproportional stark betätigen. Höchstwahrscheinlich, weil der Aufwand, mehrere Stunden am Tag Postings zu teilen, zu kommentieren oder aus einem Netzwerk in ein anderes zu verbreiten, sich nur lohnt, wenn man glaubt, die eigene Meinung finde nicht genug Gehör.
Zudem begünstigt die Architektur von Netzwerken wie Facebook emotionale und radikale Äußerungen gegenüber sachlich-gemäßigten. „Aufgrund der ausschließlichen Finanzierung über Werbeeinahmen ist Facebook weniger daran interessiert, die Nutzer ausgewogen zu informieren, als vielmehr daran, sie möglichst lange auf der Seite zu halten“, sagt Axel Maireder, der das Social-Media-Forschungszentrum der Gesellschaft für Konsumforschung in Wien leitet. „Und dieses Engagement funktioniert nachgewiesenermaßen besser über Inhalte, die Emotionen ansprechen – selbst, wenn es Wut ist. Oder über Dinge, die krasser sind als das, was ich sonst so zu sehen bekomme.“
Gerade die Videoplattform Youtube steht immer wieder in der Kritik, weil sie den Nutzern durch ihren Empfehlungsalgorithmus immer extremere Videos vorsetze. Nach Videos über Donald Trump zeigt die Empfehlungsspalte immer mehr Videos über rechtsradikale Gruppierungen; wer Videos über Bernie Sanders ansieht, landet über kurz oder lang bei linken Verschwörungstheoretikern.
„Filterblasen gab es schon immer“
Ja und nein. Streng genommen meint das Konzept der Filterblase eine Auswahl von Onlineinhalten durch einen Algorithmus, die auf bisherigen Vorlieben basiert und diese verstärkt. Das ist durchaus etwas Neues. Was es hingegen schon gab, als sich Menschen am Kiosk noch zwischen der FAZ und der taz entschieden oder sich am Stammtisch ihre Meinung bestätigen ließen, sind selektive Wahrnehmung und kognitive Dissonanz. Also das Auswählen von Meinungen, die besser ins eigene Weltbild passen und das oft unbewusste Ausblenden von Informationen, die ihm widersprechen. Allerdings herrschte bislang selbst bei Medien einer unterschiedlichen ideologischen Haltung ein gewisser Grundkonsens. Man war sich vielleicht über die Interpretation uneinig, aber akzeptierte eine gemeinsame Faktenbasis. Das ändert sich gerade: „Der gemeinsame Horizont verschwindet“, sagt GfK-Forscher Maireder.
In einer umfangreichen Studie des Columbia Journalism Review (CJR) kamen Medienforscher um Yoshai Benkler zu dem Ergebnis, dass sich in den USA ein abgeschottetes rechtsgerichtetes Mediennetzwerk gebildet habe, „das Social Media als Haupttrasse nutzt, um ein extrem voreingenommenes Weltbild zu vermitteln“. Nach einer Auswertung von 1,25 Millionen Nachrichten und ihrer Verbreitung in sozialen Medien kamen sie zu dem Ergebnis, dass diese Polarisierung einseitig stattfand, es also kein vergleichbares Netzwerk auf der Seite der Clinton-Anhänger gab. Gleichzeitig habe es das radikal-konservative Mediennetzwerk mit Hilfe von Social Media geschafft, die eigenen Themen (Immigration, Angriffe auf Clinton) auf die Agenda des gesamten Medienbetriebs zu drücken.
„Mit Fake News und Social Bots lassen sich Wahlen manipulieren“
Der Nachweis steht noch aus. Zunächst einmal ist der Begriff Fake News inzwischen abgenutzt und überdehnt, weil er von unbeabsichtigten Falschmeldungen über Lügen bis hin zu unliebsamen Meinungen für nahezu alles verwendet wird. In der ursprünglichen Bedeutung waren Fake News – also absichtlich verbreitete Unwahrheiten – im US-Wahlkampf weniger einflussreich als angenommen. „Leute, die dafür sowieso empfänglich waren, haben solche Fake-News-Artikel gerne gelesen und geteilt“, sagt Martin Fehrensen, Gründer des Social-Media-Watchblogs. „Aber es wurde niemand davon ‚bekehrt‘.“ Die CJR-Studie kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Die am häufigsten geteilten Artikel seien Informationen gewesen, die zumindest teilweise korrekt waren, dann aber „absichtlich in eine Botschaft verwandelt wurden, die im Kern irreführend und falsch ist“. Falsche Interpretation statt Fake News also.
Auch bei Social Bots – Programmen, die automatisiert Inhalte in sozialen Netzwerken veröffentlichen, teilen, liken oder kommentieren – fehlt bislang der eindeutige Nachweis sowohl für ihre Verbreitung als auch für ihre Wirkung. Zwar können diese Programme für Masse sorgen, etwa einen bestimmten Hashtag sichtbarer machen. Doch ob das reicht, um die politische Haltung oder die Wahlentscheidung menschlicher Nutzer zu manipulieren?
Eher nicht, schreibt etwa das Büro für Technikfolgenabschätzung des Bundestags in einem Papier: „Bisher gab es noch keine wissenschaftlichen Studien, in denen der Nachweis erbracht wurde, dass die Beeinflussung von gesellschaftlichen Gruppen durch Social Bots tatsächlich gelingt.“
„Durch gezieltes Targeting in sozialen Medien sind Menschen extrem manipulierbar“
Fragt nach bei Ted Cruz. Es war eine moderne Gruselgeschichte, die vor einiger Zeit die Runde machte: Statistikern der britischen Firma Cambridge Analytica sei es gelungen, allein aufgrund von Wählerlisten und Facebooklikes extrem genaue Persönlichkeitsprofile zu erstellen. Und diese dann mit individuell maßgeschneiderten Informationen zum Trump-Wähler zu manipulieren.
„Die Statistiker haben die Wahl gewonnen“, schrieb das Magazin des Schweizer Tagesanzeigers über das so genannte Microtargeting von Cambridge Analytica. Doch schnell stellte sich heraus: Es gibt weder Nachweise, dass die Republikaner um Trump diese Methode tatsächlich eingesetzt haben, noch dafür, dass sie wirklich Resultate liefern kann. So erlaubt Facebook zwar eine gezielte Werbeansprache von bestimmten Zielgruppen (spanischsprachige Fans des FC Bayern unter 30), jedoch nicht von Einzelpersonen.
Zahlreiche unabhängige Experten kommen zu dem Schluss, dass auch im US-Wahlkampf lediglich die bekannten statistischen Methoden genutzt wurden. Sogar die Firma selbst nahm inzwischen ihre Behauptungen zurück, man habe individuelle Psychogramme erstellt und damit die Wahl für Trump gewonnen. Auch der Sieg Trumps taugt nicht per se als Beleg für die Fähigkeiten der Firma – denn sie hatte zuvor auch die gescheiterten Kandidaten Ben Carson und Ted Cruz beraten. Letzterer hatte die Firma gefeuert, nachdem ihre Prognosen und statistischen Modelle sich in den Vorwahlen als unpräzise erwiesen hatten.
„Die Anonymität im Netz ist schuld an der allgemeinen Verrohung“
Vermeintlich einleuchtend. Wer nicht unter seinem Klarnamen agiert, sondern als „Klardenker58“, wird leichter ausfallend, er muss schließlich keine negativen Folgen im Offlineleben fürchten. Aber: „Im Großen und Ganzen sehen wir keinen Zusammenhang zwischen Anonymität im Netz und aggressiveren Äußerungen“, sagt Social-Media-Forscher Cornelius Puschmann. „Auf rechten Facebookseiten beispielsweise ist der Anteil an Menschen, die Pseudonyme benutzen, nicht höher als insgesamt auf der Plattform. Die Angst vor sozialen Sanktionen, wenn man seinen realen Namen benutzt, scheint hier kaum ausgeprägt zu sein.“
Das bestätigt auch eine Studie von Katja Rost und anderen Soziologen der Universität Zürich, die über drei Jahre hinweg mehr als 530 000 Kommentare einer Onlineplattform für Petitionen auswerteten. Bei dieser Plattform haben Nutzer die Wahl, ob sie anonym oder unter Klarnamen agieren. Das Überraschende: Der Anteil der aggressiven Postings war bei anonymen Nutzern signifikant geringer als bei denjenigen, die unter ihrem echten Namen schrieben.
„Die Menschen nehmen das, was sie in den sozialen Medien lesen, für bare Münze“
Das lässt sich zumindest für Deutschland nicht bestätigen. Laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts Infratest dimap im Auftrag des WDR schätzen nur 5 Prozent die sozialen Medien als glaubwürdige Informationsquelle ein. Dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen und den Tageszeitungen sprechen sie mit 77 und 71 Prozent eine deutlich höhere Glaubwürdigkeit zu. 90 Prozent der Bundesbürger halten das Informationsangebot deutscher Medien für gut oder sehr gut. „Das Misstrauen in die etablierten Medien ist allerdings nicht über die Gesamtbevölkerung gleichmäßig verteilt, sondern findet sich geballt im Umfeld von Organisationen wie Pegida oder der AfD“, sagt Cornelius Puschmann.
Gleichzeitig gibt es Anzeichen, dass die Skepsis gegenüber Dingen, die man „irgendwo auf Facebook“ gelesen hat, bei den Jüngeren abnimmt. „In einer Studie unter 14- bis 17-Jährigen haben wir festgestellt, dass sich eine Verschiebung anbahnt: weg von einer Glaubwürdigkeit, die sich auf einen bestimmten Autor oder eine Autorität stützt, hin zu einer Glaubwürdigkeit durch Mehrheit“, sagt Axel Maireder. „Selbst faktisch falsche Informationen werden dadurch glaubwürdiger, wenn sie nur von genügend Menschen oft genug wiederholt werden.“ Soziale Medien verstärken dies womöglich, da sie einerseits die ursprüngliche Quelle einer Information nebensächlich werden lassen und andererseits darauf basieren, dem Nutzer das zu zeigen, was viele seiner Freunde geteilt, geliket oder zumindest angeklickt haben.
„Die sozialen Medien bewirken letztlich nichts“
Zu kurz gedacht. Als Facebook und Twitter vor zehn Jahren in Deutschland populär wurden, traute ihnen niemand viel zu. Gelangweilte Teenager würden sich dort virtuell „anstupsen“, planlose Twens Fotos ihres Biofrühstücks posten. Mehr sei dort nicht zu holen, so der Befund. Das änderte sich in den Jahren ab 2010, als Revolutionen in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Staaten die Timelines bestimmten. Plötzlich wurde eine aufklärerische Wirkung von Twitter und Facebook gepriesen.
Auch wirtschaftlich wurde Social Media immer bedeutsamer. Egal ob Medien oder Reiseveranstalter: Niemand, der im Netz wahrgenommen werden wollte, wollte auf den vermeintlich kostenlosen Traffic von Facebook verzichten. Wie es sich für jeden guten Hypecycle gehört, schien auf eine Unter- eine gewisse Überschätzung zu folgen, die sich anschließend nach einigem Hin und Her auf einem vernünftigen Mittelmaß einpendeln würde.
Doch dann passierte Donald Trump. Und Geschichten von mazedonischen Teenagern machten die Runde: Mit Webseiten, auf denen sie Clinton-feindliche Fake News verbreiteten und via Facebook auf Millionen von US-Bildschirmen schleuderten, hätten sie Trump erst ins Weiße Haus gebracht.
Heute wissen wir, dass es so einfach nicht ist und dass man den Einfluss der sozialen Medien nicht überschätzen darf. Doch der Umkehrschluss der kompletten Wirkungslosigkeit ist ebenfalls falsch. Allein Facebook kommt weltweit auf über 2,2 Milliarden regelmäßige, aktive Nutzer. Soziale Medien sind zu wichtigen Gatekeepern für die verschiedenen Informationsangebote geworden.
Wie die erwähnte Studie der Columbia Journalism Review nachwies, können soziale Medien Aufmerksamkeit generieren und bestimmte Themen auch in den traditionellen Massenmedien platzieren. Welche Auswirkungen ein Tweet haben kann, beweist Donald Trump regelmäßig, wenn er mit einer einzigen 280-Zeichen-Tirade den Aktienkurs von Unternehmen wie Lockheed Martin, Toyota oder diverser Pharmafirmen auf Talfahrt schickt. Oder wenn Japans Premier Shinzo Abe vor einem Treffen mit Trump japanische Unternehmen auffordert, ihm „twittertaugliche“ Zahlen ihrer US-Investments zu liefern.
Soziale Medien können den politischen Diskurs verändern, indem sie Standpunkten, die vorher als komplett randständig wahrgenommen wurden, dadurch Gewicht verschaffen, dass der Betreffende im sozialen Netz auf Gleichgesinnte trifft, selbst wenn das nur wenige sind. Cornelius Puschmann nennt das den „Long Tail der politischen Standpunkte“ in den sozialen Medien: „Wenn jemand eine Community findet, in der er sich beispielsweise rassistisch äußern kann oder die an dieselben Verschwörungstheorien glaubt, dann kann das dazu führen, dass er seine Meinung öffentlich äußert, was er vorher vielleicht nicht getan hat – und dadurch weitere Menschen mit ähnlicher Haltung mobilisiert.“
„Die großen sozialen Medien haben zu viel Macht“
Da ist was dran. Soziale Netze wie Facebook, Twitter oder Instagram kontrollieren immer stärker den Zugang zu Bürgern, Wählern und Konsumenten. Die Inhalte, die da verbreitet werden, sind durch die Digitalisierung und aufgrund ihrer Masse nahezu wertlos geworden. Die Kontrolle über Hunderte Millionen von Nutzern und über die Algorithmen, die bestimmen, wer was zu sehen bekommt und wer wen erreichen kann, ist es, die den Wert dieser Firmen ausmacht.
Dass die Macht derzeit in so wenigen Händen liegt, ist ein Problem. Es wäre sinnvoll, die weitere Oligopolisierung nach Vorbild von Facebooks Übernahmen von Whatsapp oder Instagram zu untersagen. Die Konzerne sollten zudem offenlegen, nach welchen Kriterien ihre Algorithmen Informationen anzeigen oder verbergen. Nutzer müssten leicht erfahren können, welche Daten über sie gesammelt und weitergegeben werden – um diese auf Wunsch löschen zu lassen.
Schließlich: Durch eine Verpflichtung, anderen Anbietern Zugriff auf den „sozialen Graphen“ – also das Freundesnetz – zu gewähren, ließe sich der Netzwerkeffekt abmildern. Dieser macht es derzeit schwierig, wenn nicht unmöglich, mit Facebook in Konkurrenz zu treten. Doch nur aus solchem Wettbewerb heraus könnten neue Geschäftsmodelle entstehen, die nicht allein auf Werbefinanzierung und den damit verbundenen Nachteilen basieren.
Die industrielle Revolution brachte vielen Wohlstand, raubte bestimmten Berufsgruppen aber auch ihre Existenzgrundlage. Im Ergebnis verbesserte sie aber die globale Lebensqualität dramatisch. Heute ermöglichen die sozialen Medien es Menschen, weltweit in Echtzeit und nahezu kostenlos miteinander zu kommunizieren – konzentrieren dabei aber immense Macht in den Händen von wenigen. Ein Fortschritt sind die sozialen Medien trotz allem.
Christoph Koch ist freier Journalist (u.a. für brand eins), Buchautor (u.a. „Ich bin dann mal offline“), Moderator und Vortragsredner.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 70-75