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01. Sep 2010

Sommer der Wahrheit

Die Brände um Moskau und das Versagen der russischen Regierung

Fehlende Warnungen, defektes Löschgerät und ein Bürgermeister im Urlaub: Moskaus Krisenmanagement bei der Bekämpfung der Waldbrände um die Hauptstadt ist gescheitert. Der brennende Sommer 2010 hat eines deutlich gemacht: Ein Regime, das die Grundbedürfnisse seiner Bürger nicht befriedigt, hat keine Existenzberechtigung.

Moskau im August. Seit Wochen schmort die Stadt bei Temperaturen von 40 Grad in schwerem, klebrigem Smog, der die Augen reizt und das Atmen schwer macht. Der Kohlenmonoxidgehalt der Luft ist sechs Mal so hoch wie die maximal zulässige Konzentration und hat damit ein kritisches Niveau erreicht. Bei anderen giftigen Substanzen sind die Werte sogar neun Mal höher als normal.

Anruf beim Büro des Moskauer Bürgermeisters. Ein Journalist bittet um Kommentare zur Situation. „Das Büro ist geschlossen“, wimmelt eine Frau aus der Presseabteilung ihn ab. Der Smog sei mittlerweile bis ins Rathaus gezogen. Man habe daher beschlossen, alle Mitarbeiter nach Hause zu schicken. „Ist es irgendwie möglich, einen Kommentar von Bürgermeister Juri Luschkow zu bekommen?“, fragt der Reporter nach. „Er ist nicht in Moskau“, lautet die Antwort. Anderen Journalisten gegenüber soll der Pressesprecher des Bürgermeisters erklärt haben, es gebe keinen Grund für den Bürgermeister, den Urlaub abzubrechen und nach Moskau zurückzukehren: „Warum sollte er? Gibt es eine Krise? Nein, gibt es nicht.“

Zur gleichen Zeit schreibt der Arzt eines örtlichen Krankenhauses in seinem Blog: „Es ist eine Katastrophe. Das Krankenhaus hat keine Klimaanlage, die Ventilatoren funktionieren nicht, der Smog dringt überall ein, auch in die Operationssäle. Jeden Tag sterben 16 bis 17 Menschen. Die Leichenhalle ist voll und es gibt nicht genügend Kühlhäuser für die Toten – die Leichen werden einfach entlang der Wände gestapelt.“

Laut der städtischen Gesundheitsbehörde hat sich die Zahl der Sterbefälle in Moskau in den Wochen nach Ausbruch der verheerenden Waldbrände verdoppelt. Und doch wäre das für den Bürgermeister kein Grund gewesen, seinen Urlaub im Ausland abzubrechen. Erst als die Kommentare seiner Presseabteilung für öffentliche Empörung sorgten, kehrte Moskaus erster Mann in die Stadt zurück.

Man fragt sich, was passiert wäre, wenn Luschkow kurz vor einer Wahl gestanden hätte; seine Amtszeit läuft bis Oktober 2011. Hätte er sich auch dann einen solchen Urlaub gegönnt, während seine Stadt verwüstet wird? Natürlich nicht. Aber weder Luschkow noch wer immer ihn ersetzen wird muss sich Gedanken um die Gunst der Wähler machen, da der Bürgermeister von Moskau nicht durch  Wahlen ins Amt kommt, sondern vom Kreml ernannt wird – eine Praxis, die vom damaligen Präsidenten Wladimir Putin für alle wichtigen Posten dieser Art in Russland eingeführt wurde.

Ein anderes Beispiel dafür ist die Region Nischni Nowgorod, 400 Kilometer östlich von Moskau, die von der Hitzewelle und dem Feuer hart getroffen wurde. Mindestens 36 Menschen, unter ihnen sieben Kinder, starben dort, mehr als 1000 Menschen verloren ihre Häuser und Existenzgrundlage. Ein Bericht des Staatsfernsehens zeigte Ministerpräsident Putin beim Besuch in einer der betroffenen Städte. Menschen, die alles verloren hatten, beklagten sich bei Putin, dass die regionalen und lokalen Behörden nicht vor dem Feuer gewarnt hätten. Zudem mangelte es nicht nur an so elementaren Dingen wie Löschwagen; mancherorts fiel auch noch der Strom aus, so dass die Wasserpumpen nicht funktionierten. „Niemand hat auch nur versucht, uns zu retten“, beschwerten sich die Einwohner bei Putin, der in Begleitung des Gouverneurs Waleri Schanzew in die Region gereist war.

Eine Woche später begann Schanzews zweite Amtszeit offiziell mit einer Zeremonie zur Amtseinführung. Wie alle anderen russischen Gouverneure wurde er nicht von den Menschen in seiner Region gewählt. Er wurde vom Präsidenten ernannt und ist denjenigen, denen er eigentlich dienen sollte, nicht rechenschaftspflichtig.

Die Brände im europäischen Teil Russlands haben 190 000 Hektar Wald zerstört. Forstfachleute machen dafür ein 2007 verabschiedetes Gesetz verantwortlich, das bei den Förstern eine Personaleinsparung um 90 Prozent vorsah. Das Gesetz wurde von der Regierung vorgeschlagen und schnell von der Duma verabschiedet, wo Putins Partei eine Zwei-Drittel-Mehrheit hat.

Um all das zu verstehen, müssen Russlands Bürger nur eins und eins zusammenzählen: Die tragische Situation, in der sie sich befinden, hat direkt damit zu tun, wie sie in der Vergangenheit gewählt haben. Die politische Apathie, die Russland heute kennzeichnet, ist eine gewaltige Hypothek für das Überleben des Landes. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass die Apathie zurückgeht. Der brennende Sommer 2010 hilft den Russen vielleicht zu verstehen, dass nichts weniger als ihre Existenz davon abhängt, ob die Behörden im Notfall helfen können. Ein Regime, das die Grundbedürfnisse seiner Bürger nicht befriedigen kann, hat keine Existenzberechtigung.

Copyright: Project Syndicate, 2010. www.project-syndicate.org. Aus dem Englischen von Eva Göllner-Breus

YEVGENIA ALBATS ist Professorin an der Moskauer Hochschule für Wirtschaftswissenschaften und Redakteurin des New Times Magazine.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2010, S. 66 - 67

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