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18. Dez. 2009

„So wichtig wie das tägliche Brot“

Vergangenheitspolitik in Kambodscha

Lassen sich die Verbrechen der Roten Khmer juristisch als Völkermord einstufen? Monika Lüke, Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, ist skeptisch. Doch jenseits aller Definitionsfragen gehe es bei den Prozessen darum, die Taten aufzuarbeiten, den Opfern Genugtuung widerfahren zu lassen und eine traumatisierte Gesellschaft zu befrieden.

IP: In den vier Jahren ihrer Schreckensherrschaft haben die Roten Khmer fast ein Viertel der Bevölkerung ausgelöscht. Ein klarer Fall von Völkermord, oder?

Lüke: Die Roten Khmer haben sehr schwere Verbrechen begangen, Verbrechen gegen die Menschheit. Ob es sich aber um Völkermord handelt, bezweifle ich. Denn dafür muss man nachweisen, dass die Absicht bestand, eine spezifische Gruppe zu vrnichten. Der Terror der Roten Khmer richtete sich jedoch gegen die Bevölkerung allgemein. Das ist zwar noch schrecklicher, fällt aber nicht unter die Völkermord-Konvention. Mit zwei möglichen Ausnahmen: gezielte Verbrechen gegen Mönche und die vietnamesische Minderheit.

IP: Die Roten Khmer haben die Bevölkerung gemäß ihrer Ideologie in neue Gruppen eingeteilt – wer bürgerlich war, musste sterben. Warum soll das nicht unter die Völkermord-Konvention fallen?

Lüke: Es ist juristisch sehr schwierig, hier eine konkrete Vernichtungsabsicht nachzuweisen. Man sollte sich auch gar nicht darauf versteifen. Denn es gibt ja gewichtige Indizien dafür, dass die Beschuldigten Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen begangen haben, die ein beinahe ebenso hohes Strafmaß nach sich ziehen können.

IP: Aber moralisch ist es eben doch nicht dasselbe.

Lüke: Man muss sich darüber klar werden, was man erreichen will. Letztlich geht es darum, die Schreckenstaten der Roten Khmer juristisch aufzuarbeiten, den Opfern Genugtuung widerfahren zu lassen und eine stark traumatisierte Gesellschaft zu befrieden. Dafür ist es nicht von Belang, ob Täter wegen Verbrechen gegen die Menschheit oder wegen Völkermord verurteilt werden.

IP: Sie haben sich darum bemüht, dass das Gericht sexuelle Gewalt als Straftatbestand im Verfahren zulässt. Warum?

Lüke: Seit dem Jugoslawien-Tribunal sind Massenvergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt als Verbrechen gegen die Menschheit anerkannt. Es gibt Zeugenaussagen, denen gemäß die Roten Khmer Frauen wie Männer durch verschiedene Formen sexueller Gewalt gequält haben. Wir wissen, dass Zwangsverheiratungen angeordnet und die Menschen zu Geschlechtsverkehr unter Aufsicht gezwungen wurden. Im ersten Verfahren spielten diese Verbrechen keine Rolle. Ich hoffe, dass sie im zweiten Prozess behandelt werden.

IP: In den kommenden Wochen wird das Urteil im Verfahren gegen Duch, den Kommandanten des Foltergefängnisses S-21, erwartet. Würden Sie von einem fairen Verfahren sprechen?

Lüke: Nach allem, was ich selbst beobachtet habe – und die Verfahren wurden sehr transparent geführt – kann ich darauf nur mit Ja antworten.

IP: Welches Strafmaß halten Sie für angemessen?

Lüke: Duch wird verurteilt werden. Das Strafmaß zu bestimmen, ist Sache der Richter – aufgrund der Eindrücke im Prozess. Für die Opfer ist wichtig, dass er eine deutliche Gefängnisstrafe erhält.

IP: Duch ist 67 Jahre alt, die zehnjährige Untersuchungshaft wird angerechnet. Gut möglich, dass er seinen Opfern und deren Nachfahren eines Tages als freier Mann gegenübertreten kann. Ist das kein Problem?

Lüke: Das kann ein Problem sein, natürlich. Es hängt davon ab, ob es bis dahin gelungen ist, die Vergangenheit aufzuarbeiten und zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion zu gelangen.

IP: Viele Opfer wünschen sich eine Entschädigung – ein berechtigtes Ansinnen?

Lüke: Wir müssen hier unterscheiden zwischen Entschädigung und Schadenersatz. Schadenersatz bedeutet, dass man den Verlust, den ein Opfer oder Angehöriger erlitten hat, in Geld aufwiegt. Aber wie soll man ein Menschenleben in Geld aufwiegen? Deshalb kann das Gericht nur über Entschädigung urteilen. Die Opfer fordern eine öffentliche Entschuldigung der Verurteilten, freie medizinische Behandlung, die Errichtung eines Mahnmals und die Erwähnung aller Nebenkläger im Urteil des Gerichts – das sind alles legitime Forderungen.

IP: Die Opfer wurden in diesem Verfahren erstmals systematisch erfasst und betreut. Hat sich die von Ihnen mit aufgebaute Einheit in der Praxis bewährt?

Lüke: Das ist ein großartiger Präzedenzfall für andere internationale Tribunale. Allein im Verfahren gegen Duch haben sich 90 Zivilparteien am Prozess beteiligt, 22 von ihnen wurden gehört. Für das zweite Verfahren, das Ende dieses Jahres oder 2011 beginnen soll, wurden bislang 170 Zivilparteien zugelassen. Vielen hat allein schon die Beteiligung am Verfahren Genugtuung verschafft.

IP: Was lässt sich in Zukunft noch verbessern?

Lüke: Es bleiben zwei Herausforderungen. Zum einen muss die Mittelschicht stärker aktiviert werden. Viele trauen sich nicht, an Verfahren teilzunehmen, aus Angst, etwas zu verlieren. Zum anderen wurden die Rechte der Opfer drastisch eingeschränkt. Sie dürfen sich im zweiten Verfahren nur bis zum Beginn der Hauptverhandlung einschalten, im Rahmen einer Massenklage und allein zu der Frage, ob ein Angeklagter schuldig ist oder nicht.

IP: Warum?

Lüke: Es hat für das anstehende zweite Verfahren mehr als 2000 Bewerbungen von Opfern gegeben, die am Prozess teilnehmen wollten. Das Gericht will nun verhindern, dass sich dieses Verfahren in die Länge zieht – was zwar nachvollziehbar, aber trotzdem falsch ist. Außerdem sorgen sich die kambodschanischen Richter und die Staatsanwältin, dass die Opfer Dinge an den Tag bringen, die nicht gewünscht sind.

IP: Zum Beispiel?

Lüke: Der Druck könnte sich erhöhen, in weiteren Fällen zu ermitteln. Bisher sind nur fünf ehemalige Funktionäre der Roten Khmer angeklagt. Gegen fünf weitere wird nach langem Tauziehen ermittelt. Es gibt natürlich noch viel mehr, auch Personen in Regierungsfunktionen.

IP: Ministerpräsident Hun Sen warnt vor Unruhen oder gar einem neuen Bürgerkrieg …

Lüke: … ist aber der kambodschanischen Verfassung verpflichtet, die sich klar zu den Menschenrechten und damit auch zum Recht auf ein faires Verfahren bekennt.

IP: Übertreibt der Regierungschef die Gefahren weiterer Ermittlungen?

Lüke: Zweifellos ist ein Großteil der Bevölkerung verstrickt in die Verbrechen der Roten Khmer, besonders im Mittelstand. In jeder Familie gibt es Täter und Opfer. Die Gesellschaft ist aber gerade deshalb so traumatisiert, weil darüber seit 30 Jahren kaum gesprochen wird.

IP: Hat der Prozess gegen Duch daran nichts geändert?

Lüke: Seit Sommer 2008 merken wir, dass sich immer mehr Kambodschaner für die Verfahren interessieren. Die Verhandlungen gegen Duch verfolgten insgesamt 25 000 Besucher im Gericht und noch viel mehr am Fernseher. Aber was 30 Jahre lang verschwiegen wurde, kann nicht in einem Jahr gelöst werden.

IP: Wieviel Vergangenheitsbewältigung verträgt ein Land, das bitterarm ist und in dem die Verbrechen gerade eine Generation zurückliegen?

Lüke: Ein solches Land verträgt nicht nur viel Vergangenheitsbewältigung, es braucht sie sogar, um endlich wieder zur Ruhe zu kommen und selbstbewusst seine eigene Identität zu finden.

IP: Ist die ökonomische Entwicklung, die Sicherstellung des täglichen Überlebens, nicht vordringlicher?

Lüke: Im Gegenteil. Gerade die verarmten Landbewohner haben sich an die Abteilung für Opferfragen gewandt, um sich an den Prozessen zu beteiligen. Die Vergangenheitsbewältigung ist so wichtig wie das tägliche Brot.

IP: Hat sich die Zwitterstruktur des Gerichts denn überhaupt bewährt?

Lüke: Ja und nein. Einerseits gibt es permanent politische und juristische Auseinandersetzungen zwischen den kambodschanischen und den internationalen Richtern und Mitarbeitern. Das hemmt den Arbeitsablauf und zieht die Verfahren in die Länge. Andererseits könnte diese Struktur trotzdem beispielhaft sein für weitere Gerichtshöfe in Entwicklungsländern, die sich entscheiden, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Schließlich lernen beide Seiten auch voneinander. Die UN-Mitarbeiter lernen, was es heißt, solch gravierende Verbrechen in einem völlig zerstörten und traumatisierten Land aufzuarbeiten. Die Kambodschaner dagegen erfahren, was Standards eines fairen Verfahrens sind. Bedenken Sie, dass die Roten Khmer bis auf zwei alle Richter des Landes ermordet haben!

IP: Die Vereinten Nationen haben Korruption am Tribunal untersucht, ihren Bericht aber nicht veröffentlicht. Haben Sie selbst solche Fälle erlebt?

Lüke: Nicht am Sondertribunal. Andere Richter haben mir gegenüber aber offen zugegeben, dass sie Geld kassieren, um Verfahren zu beschleunigen. Ein normaler Richter verdient 50 US-Dollar im Monat, davon kann er nicht leben. Das Problem liegt also im System.

IP: Die Roten Khmer durften Kambodscha bis 1992 in den Vereinten Nationen vertreten. Hat die internationale Gemeinschaft diesen Sündenfall durch ihre Mitwirkung an der Vergangenheitsbewältigung wettgemacht?

Lüke: Was da im Kalten Krieg geschehen ist, lässt sich nicht wieder gutmachen. Es gibt heute zahlreiche Entwicklungsprojekte in Kambodscha, und es fließen große Mengen an Geld ins Land. Die kambodschanische Regierung muss dazu angehalten werden, ein ordentliches staatliches System aufzubauen – das schließt auch eine ausreichende Bezahlung der staatlichen Bediensteten und Richter ein, so dass Rechtsbewusstsein gedeihen kann. Das gibt es bis jetzt überhaupt nicht.

IP: Was haben Sie in Kambodscha gelernt, was nehmen Sie mit in Ihre neue Funktion bei Amnesty International?

Lüke: Die Arbeit am Tribunal hat mir gezeigt, dass Rechtsbewusstsein und Streben nach Gerechtigkeit keine Fragen des Wohlstands sind, sonst hätten sich nicht so viele arme Menschen auf den Weg nach Phnom Penh gemacht. Außerdem, dass es sich auch nach 30 Jahren noch lohnt, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Und schließlich, dass das Strafrecht einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung eines Terrorregimes leistet, dass aber eine Bestrafung der Täter allein nicht genügt, um Traumata zu bewältigen und schließlich eine Gesellschaft zu befrieden.

Das Gespräch führte Thomas Gutschker.

Dr. MONIKA LÜKE ist Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. Zuvor hat die Völkerrechtlerin als GTZ-Projektleiterin die „Victims Unit“ am Sondertribunal für die Verbrechen der Roten Khmer mit aufgebaut.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 38 - 42

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