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01. Sep 2006

Schwarzmeer-Kooperation

Herausforderungen an die Politik für ein „europäisches Meer“

Die Anrainer des Schwarzen Meeres sind nicht nur Europas Öl- und Gaslieferanten, und geopolitisch geht es dort um mehr als strategische Pipeline-Trassen: Die Europäische Union sollte ihre regionenbezogenen Aktionspläne stärker vernetzen, damit allmählich eine europäische „Schwarzmeer-Dimension“ entsteht. Dann würde auch die EU von dieser Nachbarschaft politisch, kulturell und wirtschaftlich profitieren.

Mitte der neunziger Jahre stand der Kaspische Raum im Zentrum der internationalen Diskussion. Meere sind zwar keine „Räume“ oder „Regionen“, sondern diese beginnen, streng genommen, erst an ihren Küsten. Aber der Öl- und Gasreichtum des Kaspischen Meeres und der Anrainerstaaten bildete eine wirtschaftliche räumliche Konfiguration von erheblichem Gewicht. Sie warf die Frage nach belastbaren Vernetzungen und kooperativen politischen Strukturen auf. Die Überlegungen kreisten darum, wie gegenläufige politische Interessen ausbalanciert und attraktive „Win-Win-Situationen“ hergestellt werden könnten. Ökonomische Rationalität und geopolitische Koordinaten begannen jedoch bald, sich neu zu justieren.

Für das sich wandelnde politische Umfeld, das Stabilität und die Exploration neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten auch in Zukunft erlauben sollte, stehen heute einerseits das symbolträchtige und vor allem von den USA und der Türkei unterstützte Projekt der Baku-Tiflis-Ceyhan-Ölpipeline und andererseits die zwischen der Russischen Föderation und Zentralasien unternommenen Schritte hin zu verstärkter Integration. Als die spektakulärste Weichenstellung in diese Richtung wird meist der im April 2003 unterzeichnete „Jahrhundertvertrag“ zwischen Russland und Turkmenistan angeführt, der Russland die langfristige Nutzung der turkmenischen Gasvorräte sichert. Unter dem Dach der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (SCO) beanspruchen darüber hinaus China, Russland und die zentralasiatischen Staaten eine geopolitische Sphäre gemeinsamer Interessen.

Der Blick der Europäischen Union auf die „Kaspi-Region“ war nie ein isolierter. Er richtete sich immer zugleich auf das Schwarze Meer. Denn die über das EU-Transportkorridor-Programm TRACECA und die Energiegruppe INNOGATE angestoßenen Projekte zur infrastrukturellen Modernisierung zwischen der Union, dem Südlichen Kaukasus, Russland und Zentralasien berührten stets in besonderem Maße die Regionen um das Schwarze Meer. Die EU konnte sich dank ihrer projektorientierten Herangehensweise viel Goodwill sichern. Sie trat für eine Diversifizierung der Energietransportwege ein, die letztlich auf unternehmerischen Entscheidungen beruhen mussten.

Die Schwarzmeer-Region steht heute verstärkt im Blickfeld Europas und der USA. Dabei geht es nicht nur um Öl und Gas, sondern auch und zunehmend um die politische Zukunft der von Europa und Amerika unterstützten demokratischen Reformpolitik in der Ukraine, in Georgien und in Moldau. Hinzu kommt, dass Bulgarien und Rumänien bald Vollmitglieder der EU sein werden, auf diesem Weg erhebliche Anpassungsleistungen erbracht haben und außerdem die EU mit der Türkei Beitrittsverhandlungen führt. Das Schwarze Meer wird somit stärker als in der jüngsten Vergangenheit von europäischem Denken und europäischen Entscheidungen betroffen sein. Es wird jetzt erst recht ein europäisches Meer. Die Spuren aus der Ära des Kalten Krieges, in der es eine trennende Zone der Abgrenzung zwischen den antagonistischen Blöcken war, sollten damit endgültig überwunden werden können. Noch weiter zurück betrachtet, gehört vor allem der Krim-Krieg (1854–1856) zum Spektrum einer glücklicherweise obsoleten Außen- und Sicherheitspolitik in Europa: Er folgte einer politisch eskalierenden Machtdemonstration zur Veränderung des europäischen Machtgleichgewichts und begünstigte nach der zweijährigen Belagerung Sewastopols und der Niederlage Russlands dort eine innenpolitische Wende zugunsten slawophiler Strömungen. Wie anders ist dagegen heute die Ausgangslage: Die NATO, Russland und die Ukraine sind Partner geworden, und zwischen der EU und Russland eröffnen sich weitreichende Kooperationsfelder, wie sie in den „vier gemeinsamen Räumen“ vereinbart wurden. Eines ist für die Europäische Union klar: Eine zukunftsorientierte Schwarzmeer-Kooperation sollte alle Staaten der Region einbeziehen. Sie braucht einen tragfähigen multilateralen Rahmen, in dem sich die Impulse kreativ bündeln lassen.

Die von amerikanischen und europäischen Thinktanks zunehmend intensiv geführte Debatte um die „Wider Black Sea Area“ entzündete sich an dem verständlichen Wunsch, dem Enthusiasmus in Georgien und in der Ukraine nach der Rosen- und orangenen Revolution durch tatkräftige Transformationshilfe einen realitätsbezogenen Unterbau zu vermitteln. In diesem Kontext stellte sich bald die Frage nach einer gemeinsamen „Identität“ der Schwarzmeer-Region. Worauf konnte sie aufbauen, worin sich konstituieren? Damit waren zum einen die Megafragen der internationalen Politik berührt, wie die Beitrittsperspektiven zur NATO und der weitere Annäherungsprozess an die EU; wie sich bald herausstellte, konnten diese jedoch nicht im Rahmen von schwarzmeerbezogenen Strukturen erörtert oder gar entschieden werden, sondern nur im Dialog zwischen Brüssel und den Hauptstädten der interessierten Partner.

Die Suche nach einer gemeinsamen Identität betrifft zum anderen die sehr praktischen, für die Menschen in den Anrainerstaaten wichtigen Anliegen, mit welchen regionenbezogenen Instrumenten nachhaltiges Wirtschaftswachstum, demokratische Reformpolitik, Umweltschutz sowie Kommunikations- und Vermittlungsstrategien für Wissen und Innovation gestärkt werden können. Die Zukunft des Schwarzmeer-Raumes nur in neuen Pipelineführungen zu definieren, entspricht jedenfalls nicht ihren hohen kulturellen und zivilisatorischen Leistungen. Die Bausteine für eine gemeinsame Identität dürften wohl am ehesten von unten, also quasi durch einen „bottom-up-approach“ aufgeschichtet werden. Wirklichkeitsnah könnten daran zum Beispiel die Hafenstädte arbeiten. Viele haben eine eindrucksvolle Geschichte.

Die von den Präsidenten Georgiens und der Ukraine, Michail Saakasch-wili und Viktor Juschtschenko am 12. August 2005 im georgischen Kurort Borjomi unterzeichnete Erklärung begründete die „Community for Democratic Choice“. Sie versteht sich als eine Art Vorhut für demokratischen Wandel und schrieb auf ihre Fahnen, die Baltische sowie die Schwarzmeer-und Kaspi-Region mit einer neuen Vision von Demokratie, Freiheit und Prosperität zusammenzuführen. Diese neue Community sollte ein „starkes Werkzeug“ zur Befreiung der Region von alten Trennlinien und von den eingefrorenen Konflikten werden.  Auch „GUAM“, die Organisation zwischen Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldau, ordnet sich dieser Ziellinie zu.

Die Europäische Union hatte zur gleichen Zeit mit der Umsetzung ihrer Nachbarschaftspolitik begonnen. Und diese stützt sich maßgeblich auf die bilateral, also zwischen der EU und den Nachbarschaftspartnern ausgehandelten Aktionspläne. In der Substanz konvergieren sie sehr weitgehend mit den reformpolitischen Zielen der Ukraine, Moldaus und der drei südkaukasischen Staaten. Dennoch fehlt es bislang an einer regionenbezogenen Vernetzung der verschiedenen Aktionspläne, wie sie Deutschland im Februar 2005 angeregt hatte. Hieraus könnte allmählich eine „Schwarzmeer-Dimension“ der EU entstehen, die sich die Erfahrungen mit der Nördlichen Dimension der EU zunutze machen sollte. Zweifellos bleiben die Ostsee und der nördliche Raum  einschließlich der Barentssee ein überschaubareres Projekt, in dem vor allem die EU und Russland zueinander fanden und sich zudem auf die Expertise des Ostsee-Rates stützen konnten. Aber es sind in der Schwarzmeer-Region keine Gründe ersichtlich, die gegen die Übertragung der Philosophie der Nördlichen Dimension sprechen.

Als institutioneller Rahmen, der geeignet wäre, die EU mit den Anrainerstaaten zusammenzuführen, könnte die 1992 in Istanbul gegründete Organisation für wirtschaftliche Schwarzmeer-Kooperation (Black Sea Economic Cooperation, BSEC) als Dialogpartner noch stärker als bisher genutzt werden. Sie hätte den Vorteil, „inklusiv“ zu wirken, d.h. alle Anrainer sind einbezogen. Griechenland, Bulgarien und Rumänien repräsentieren drei BSEC-Mitglieder, die zugleich als EU-Mitglieder privilegiert wären. Gleichwohl ist die institutionelle Vernetzung vorerst eher sekundär. Es bleibt abzuwarten, welche Anstöße aus dem von Rumänien im Juni 2006 veranstalteten Schwarzmeer-Gipfel noch entstehen werden. Prioritär geht es heute für die EU um die regionenbezogene Fokussierung gemeinsamer europäischer Ziele, die Aktualisierung von Programmen angesichts sich wandelnder Prioritäten und um einen aktiveren regionalen Dialog. Die Konflikte um Abchasien, Berg-Karabach, Transnistrien und Südossetien wird eine fester zusammengefügte Schwarzmeer-Kooperation wohl nicht lösen können. Aber die Flankierung der Bemühungen in den etablierten internationalen Foren – den Vereinten Nationen und der OSZE – wäre vorstellbar. Warum sollte es zum Beispiel nicht möglich sein, die EU und BSEC gemeinsam in erste Überlegungen für eine Wiederaufbaustrategie Abchasiens frühzeitig einzubeziehen? Der deutsche Vorschlag für ein wirtschaftliches Treffen im UN-Rahmen, das erste konzeptionelle Anstöße geben könnte, liegt auf dem Tisch und findet die Zustimmung nicht nur Georgiens, sondern auch der übrigen Mitglieder der fünf Freunde des UN-Generalsekretärs, also neben Deutschlands auch Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, der USA und der Russischen Föderation.

Alles in allem: Es wird sich lohnen, mit einer europäischen Regionalstrategie im Schwarzmeer-Raum bald zu beginnen. Sie ist für Europas Zusammenhalt wichtig und bietet viele noch nicht ausgeschöpfte politische, wirtschaftliche und kulturelle Möglichkeiten.

Dr. NORBERT BAAS, geb. 1947, war bis Juli 2006 Beauftragter des Auswärtigen Amtes für Russland, Zentralasien, Kaukasus. Seit Juli 2006 ist er Botschafter in Südkorea. Der Autor gibt hier ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2006, S. 118‑120

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