Schwacher Messias
Ohne Brexit wäre Boris Johnson nie Premierminister geworden. Doch die Krise ebnete ihm den Weg. Die Briten sehnen sich nach einem starken Mann
Noch vor wenigen Jahren war es undenkbar, dass Boris Johnson in die Downing Street Nummer zehn einziehen würde. An seinem Ehrgeiz zweifelte niemand, aber der blonde Sprücheklopfer galt als vollkommen ungeeignet. Nie im Leben werde man zulassen, dass er Premierminister werde, schworen seine konservativen Abgeordnetenkollegen im Parlament von Westminster.
Über viele Jahre hinweg hatte Johnson sich einen Ruf als schamloser Lügner und Scharlatan erarbeitet. Zuletzt schienen seine zwei Jahre im Außenministerium zu bestätigen, dass ihm für höhere Ämter nicht nur nötige Gravitas, sondern auch das Können fehlt. Große politische Initiativen? Fehlanzeige. Stattdessen hatte sich ein Bild aus den Zeiten der Olympischen Spiele 2012 im öffentlichen Gedächtnis eingebrannt: als der damalige Londoner Bürgermeister hilflos an einem Seil in der Luft baumelte und mit zwei britischen Fähnchen wedelte.
Warum haben die Tories nun ausgerechnet diesen Mann mit der Jahrhundertaufgabe betraut, das Land unbeschadet aus der EU zu führen? Einen Mann, der auch in der ernstesten Situation noch einen Witz machen muss? Einen Mann, von dem nur 13 Prozent der Briten einen Gebrauchtwagen kaufen würden?
Journalist, Bürgermeister, Marke
Die Antwort ist vielschichtig. Zum einen ist da Johnsons persönlicher Lebensweg, der ihn schon vor dem Brexit zu einer internationalen Celebrity machte. Auf dem Papier erscheint sein Aufstieg wie eine schnurgerade Linie: Seine großbürgerlichen Eltern, Vater Stanley arbeitet für die EU, Mutter Charlotte ist Malerin, schicken den Jungen auf das Internat Eton, die Schule der englischen Upper Class. Seine Lehrer ahnen, dass einmal etwas Großes aus ihm werden wird und lassen ihn zum Abschied in Öl malen – eine Ehre, die nur den besten Absolventen zuteilwird.
Zum Studium der alten Geschichte geht Johnson nach Oxford. Als Präsident der Oxford Union ist er Gastgeber berühmter parlamentsartiger Debatten, zu denen Mächtige und Prominente aus dem In- und Ausland eingeladen werden. So legt er den Grundstein für eine politische Karriere. Schon damals will er Premierminister werden.
Zunächst macht er jedoch rasant Karriere im Journalismus. Zwar wird er bei der Times gefeuert, nachdem er Zitate für einen Artikel erfunden hat. Der Daily Telegraph schickt ihn dennoch als Korrespondent nach Brüssel. Hier begründet Johnson ein neues Genre: sensationalistische und teils erfundene Gruselgeschichten über verrückt gewordene EU-Bürokraten. Es ist ein Vorgeschmack auf die späteren Mythen der Brexit-Kampagne. Die Leser daheim sind begeistert, angeblich zählt auch Margaret Thatcher zu seinen Fans.
Johnson wird Chefredakteur des konservativen Wochenmagazins The Spectator, bevor er zu einem gleitenden Wechsel in die Politik ansetzt, weil, wie er einem Freund erzählt, für Journalisten keine Statuen errichtet werden. 2001 wird er Abgeordneter im Unterhaus, kurzzeitig auch Mitglied des Schattenkabinetts unter Oppositionsführer Michael Howard (der ihn entlässt, weil Johnson Berichte über eine außereheliche Affäre abstreitet, die sich als zutreffend herausstellen). Ab 2008 ist er acht Jahre lang Bürgermeister von London, 2016 bis 2018 Außenminister – letztere eine der wenigen Perioden, in der er nicht seine wöchentliche Telegraph-Kolumne schreibt, für die ihm die Zeitung umgerechnet mehr als 300 000 Euro im Jahr zahlt.
Die Stationen sind für sich genommen schon beeindruckend. Doch entscheidend ist, dass Johnson sich in diesen Jahren eine eigene Marke schafft. Selbst international ist er bald als „Boris“ bekannt. Bei öffentlichen Auftritten spielt er gern den Clown und kultiviert so seinen Ruf als liebenswerter englischer Exzentriker. Sein Celebrity-Bonus war im Juli ein wichtiger Erfolgsfaktor bei seiner Wahl zum Tory-Parteichef und Premierminister. Neben dem schillernden Johnson wirkte sein Konkurrent Jeremy Hunt blass, ein weiterer austauschbarer Karrierepolitiker.
Doch die Persönlichkeit allein hätte Johnson wohl nicht in die Downing Street gebracht. Schließlich gilt er schon seit 15 Jahren als „Geheimwaffe“ der Konservativen, war aber stets als zu unseriös für das höchste Amt befunden worden. Erst die aktuelle Brexit-Krise schuf die Umstände, die ihn im Nachhinein als unvermeidliche Wahl erscheinen lassen.
Der Frust ist groß
Nach drei Jahren Brexit-Verhandlungen unter Theresa May ist der Frust groß, nicht nur in der Konservativen Partei. Die ehemalige Premierministerin wurde zuletzt als schwache Anführerin gesehen, der von ihr ausgehandelte EU-Ausstiegsvertrag als Kapitulation des stolzen Königreichs. In Johnson hoffen die Konservativen nun auf einen starken Mann, der Bewegung in den nicht enden wollenden Stellungskrieg zwischen Briten und Kontinentaleuropäern bringt. Auf den Regionalkonferenzen im parteiinternen Wahlkampf wurde der Wunsch nach einem radikalen Neuanfang immer wieder laut. Man brauche kein „Weiter so“, sondern einen Paradigmenwechsel, hieß es.
Die Parteibasis feiert Johnson als Brexit-Messias, der es den Europäern zeigen und dann die politischen Gegner daheim hinwegfegen wird. Vor allem die Brexit-Partei von Nigel Farage wird als existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Deren Sieg bei der Europawahl versetzte die konservativen Ortsverbände durchweg in helle Aufregung.
Aus Angst vor dem Rechtspopulisten Farage und dem Linkspopulisten Jeremy Corbyn an der Spitze der Labour-Partei schluckten die Tories nun ihre Bedenken hinunter. Gegen die Gefahr von rechts und links wollen sie ihren eigenen Populisten setzen. Bei möglichen Neuwahlen, die noch in diesem Jahr stattfinden könnten, soll ihr bester Wahlkämpfer an der Spitze stehen.
Dass Johnson Wahlen gewinnen kann, hat er mehrfach bewiesen. Erst schaffte er es zweimal, als Konservativer in der Labour-Hochburg London zu siegen. Dann führte er die Brexit-Kampagne 2016 zum Erfolg, erneut mit einer parteiübergreifenden Wählerschaft. Seine Fähigkeit, Wechselwähler anzusprechen, soll den Tories nun eine absolute Mehrheit sichern.
Entscheidung in letzter Minute
Bis heute gibt es Zweifel, ob der 55-Jährige wirklich an den Brexit glaubt. Schließlich hatte er vor dem Referendum zwei Kolumnen geschrieben, eine dafür und eine dagegen, und sich erst in letzter Minute für den Brexit entschieden. Das wird als Beweis gesehen, dass er nicht aus Überzeugung, sondern aus Opportunismus handelte. Es ist jedoch zweitrangig, was er glaubt. Die Brexit-Hardliner in seiner Partei haben ihn in eine Ecke getrieben, aus der er kaum herausfinden wird – so wie May vor ihm. Johnson hat sich öffentlich verpflichtet, das Land zum 31. Oktober aus der EU zu führen, ohne Wenn und Aber. Da die EU ausgeschlossen hat, den Ausstiegsvertrag nachzuverhandeln, deutet die Dynamik auf einen ungeordneten Brexit hin.
Der Brexit-Prozess verlaufe wie eine Revolution, sagt Ivan Rogers, der ehemalige britische Botschafter in Brüssel. Die konservative Partei radikalisiere sich immer weiter und sei inzwischen zur „No-Deal-Partei“ geworden. Einzig der ungeordnete Brexit gilt noch als „sauberer Brexit“, alles andere als unzumutbarer Kompromiss. Die 160 000 Parteimitglieder haben Johnson gewählt, weil sie ihm zutrauen, den ungeordneten Brexit mit allen zerstörerischen Folgen auch durchzuziehen.
Johnson selbst hat seinen Ruf als Hardliner seit Sommer 2018 noch untermauert. Aus Protest gegen Mays Brexit-Kurs war er als Außenminister zurückgetreten und hatte sich an die Spitze der Brexit-Rebellen gesetzt. Als Premierminister gibt er sich nun alle Mühe, die radikale Rhetorik beizubehalten. Er stellt der EU Bedingungen und verweigert Gespräche, bis diese darauf eingeht. Er setzt Milliarden für No-Deal-Vorbereitungen ein und verkündet Durchhalteparolen.
Ähnlich wie Donald Trump in den USA scheint Johnson den Zeitgeist zu treffen. Er steht für den Trend zu Celebrity-Politikern, und er wirbt für ein nationalistisches Projekt. Manche Beobachter nennen ihn in Anlehnung an den früheren italienischen Premier Silvio Berlusconi auch „Borisconi“, weil er mit Telegraph und Spectator einflussreiche Claqueure in den Medien hat.
In den ersten Wochen im Amt hat Johnson bereits gezeigt, wie er seine Rolle versteht. Er wettert gegen „die Pessimisten, die Zweifler, die Neinsager“, die Großbritannien schlechtredeten. Gefragt seien nun Optimismus und Selbstbewusstsein, sagt er. Der Neuanfang im Land soll sich nicht auf den Brexit beschränken. Wie Trump verspricht Johnson große Steuersenkungen und Infrastrukturprojekte. Die schuldenfinanzierten Vorhaben würden die Staatsverschuldung wieder ansteigen lassen. So bricht er auch mit dem Sparkurs seiner konservativen Vorgänger David Cameron und Theresa May.
Johnsons anfänglicher Schwung wird aber wohl nicht lange anhalten. Bald schon dürfte er merken, wie eingeschränkt sein Handlungsspielraum tatsächlich ist. Eine knappe Mehrheit im Parlament scheint entschlossen, einen ungeordneten Brexit Ende Oktober zu verhindern. Zur Not soll Johnsons Regierung mit einem Misstrauensvotum gestürzt werden. Die Chancen stehen gut, denn Johnsons Regierungsmehrheit im Bündnis mit der nordirischen DUP beträgt nur noch eine Stimme. Wenn sich die Oppositionsparteien Labour, SNP und Liberaldemokraten mit proeuropäischen Tories verbünden, würde schnell deutlich, wie wenig Macht der vermeintlich starke Mann in der Downing Street derzeit wirklich hat.
Carsten Volkery ist seit August 2017 Handelsblatt-Korrespondent in London.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2019, S. 92-95