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01. Sep 2004

Schröders Russland-Politik

Die französisch-deutsche Freundschaft wurde in den letzten Jahren zu einer Dreierbeziehung mit
Russland ausgebaut, die vor allem von Bundeskanzler Gerhard Schröder vorangetrieben wird.
Trotz der strategischen Bedeutung Russlands für Deutschland – man denke nur an die russischen
Öl- und Gasimporte– darf der Kanzler seine ostmitteleuropäischen Nachbarn und die USA nicht
durch eine zu heftige deutsch-russische Liebschaft verschrecken.

Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in seiner Russland-Politik keinen leichten Stand. In vielen Intellektuellenkreisen und in den meinungsbildenden Medien stößt seine offensichtliche Russland-Affinität auf Unverständnis. Auch in der politischen Elite Berlins wird Schröders „Schmusekurs“ Richtung Russland kritisch gesehen.

Während Schröders Russland-Bild sich mit dem Machtaufstieg vonWladimir Putin zum Positiven wandelte, fürchtet der Großteil der politischen Klasse in Deutschland, dass Russland sich unter Putin zu einer neuen Diktatur entwickelt.

Wer hat nun Recht? Sicherlich weckt der autoritäre Kurs, den Putin in der Innenpolitik fährt, Unbehagen. Sorge bereitet vor allem, dass Putin einerseits den Anschluss seines Landes an Europa sucht, das westliche Wertesystem aber ablehnt. Die Art und Weise, wie Russland seit zehn Jahren Krieg in Tschetschenien führt, erinnert viele im Westen an den sowjetischen Afghanistan-Krieg. Die demütigende Vorführung des Ölunternehmers Michail Chodorkowskij in Handschellen im Käfig im Gerichtssaal weckt Erinnerungen an brutale sowjetische Dissidentenprozesse vor 20 Jahren. Die Gängelung von regierungskritischen Medien trägt zu einer Verstärkung des negativen Russland-Bildes in der deutschen Öffentlichkeit bei. Am meisten zeigte man sich hier zu Lande davon schockiert, mit welcher Leichtfertigkeit die russische Elite und Gesellschaft in den Duma- und anschließenden Präsidentschaftswahlen 2003/04 die zuvor mühsam errungenen liberalen Werte gegen eine autoritäre Ordnungspolitik wieder eintauschten.

Andererseits stimmt das Argument, dass der sich Ende der neunziger Jahre abzeichnende Absturz Russlands ins wirtschaftliche und politische Chaos nur durch die Rückkehr zur stärkeren staatlichen Kontrolle über die wichtigsten strategischen Wirtschaftszweige und gesellschaftlichen Institutionen aufzuhalten war. Das unter Boris Jelzin entstandene Machtkartell der Oligarchen behinderte jeglichen Fortschritt und begünstigte eine Plünderung des russischen Wirtschaftspotenzials. Schröder jedenfalls lässt keine Möglichkeit aus, Putins Leistung bei der Stabilisierung Russlands öffentlich herauszustreichen.

Angesichts der Probleme, die Schröder bei der Durchsetzung seiner Politik in Deutschland hat, können Putins Erfolge nur eifersüchtig stimmen. Putins Sympathiewerte sind in Russland unvermindert hoch, zu seiner Person und Politik gibt es weit und breit keine Alternative, die hohen Einnahmen aus dem Ölgeschäft füllen die Staatskassen und schaffen Spielräume für strategische Investitionen in den Energie-, Transport-, Forschungs- sowie Rüstungsbereich, aber auch für den Aufbau eines Sozialsystems, das in Russland nach dem Zerfall der UdSSR verloren gegangen war. Europäer, Amerikaner, Chinesen und Japaner drängen vehement auf den russischen Markt und konkurrieren miteinander um Wettbewerbsvorteile. Putin kann sich seine Partner aussuchen und politische Zugeständnisse der einen oder anderen Seite wirtschaftlich belohnen.

Im Bundeskanzleramt erkennt man mehr als anderswo die strategische Bedeutung Russlands für das Europa des 21. Jahrhunderts. Die früheren Abhängigkeiten Russlands vom Westen, die durch die Rückzahlung der Auslandsschulden herrührten, könnten in wenigen Jahren umgekehrt werden. Einige Experten sind der Ansicht, dass Russland angesichts der sich vorteilhaft entwickelnden Konjunktur auf dem Energiemarkt bald – ähnlich wie heute Saudi-Arabien – die Weltmarktpreise für Öl (und Gas) bestimmen wird. Aussichtsreiche Alternativen zu russischen Öl- und Gasimporten aus anderen Regionen besitzt der Westen nicht. Die meisten Experten gehen nämlich davon aus, dass die Energieexporte aus dem Persischen Golf künftig größeren politischen Risiken ausgesetzt sein werden. Bei einer weltweit steigenden Nachfrage an Energieträgern werden die Abhängigkeiten westlicher Konsumenten von Moskau stärker werden, auch weil Russland zielstrebig an seinem Pipelinemonopol für Energielieferungen in den Westen festhält. Die heute von der EU noch aus einer Position der Stärke heraus geführten Energieverhandlungen mit Russland könnten schon bald unter umgekehrten Vorzeichen ablaufen.

Zu einer breiten Energieallianz mit Russland gibt es für Deutschland und seine EU-Partner also kaum Alternativen. Eigentlich würde es deutschen Interessen dienlich sein, Putins Vorschlag der Verschmelzung des russischen Energiekomplexes mit dem technologisch höher entwickelten europäischen Raum sorgfältig zu prüfen und anzunehmen, wäre hier nicht die Angst vor der mangelnden Diversifizierung dieser russischen Energieimporte. Diese Angst hängt damit zusammen, dass ein Russland, welches unüberbrückbare politische Differenzen mit der EU aufweist, als ein unsicherer Partner angesehen wird.

Schröders Russland-Politik hat sich gegenüber ihren Skeptikern durchgesetzt. Fernab vom kritischen Russland-Bild in den Massenmedien hat sich in den letzten Monaten zwischen Berlin und Moskau eine Sicherheitspartnerschaft manifestiert, die es zwischen keinem anderen westlichen Staat und Russland gibt. Sie hatte ihren Anfang in der Friedensmission in Kosovo (1999–2003), wo russische und deutsche Truppen in einem gemeinsamen Sektor agierten. Während Moskau gegenüber der sich nach Osten erweiternden NATO immer größere Bedenken äußert, hat es Deutschland als erstem NATO-Land sein Territorium für militärische Transporte nach Afghanistan geöffnet. Die gemeinsame Opposition Deutschlands, Russlands und Frankreichs zum Irak-Krieg hat diese drei Länder in Fragen der europäischen Sicherheitspolitik und bezüglich der Idee einer künftigen Weltordnung eng zusammengeschweißt, und es wäre nicht verwunderlich, wenn diese „Troika“ in Zukunft eine größere Rolle spielen würde.

Über Berlin und Paris ist Putins Russland in die europäische Politik zurückgekehrt. Die Chefs der drei Länder treffen sich regelmäßig zu strategischen Gesprächen und stimmen sogar ihre Politik gegenüber den USA ab – was vor einigen Jahren noch als absurd gegolten hätte. Zwischen Frankreich und Russland funktioniert seit einigen Jahren ein Sicherheitsrat, zwischen Deutschland und Russland finden regelmäßig Konsultationen auf höchster Ebene statt. Beim letzten Dreiergipfel Ende August in Sotschi unterstrichen die Staatschefs die Notwendigkeit eines gemeinsames Vorgehens gegen den islamischen Terrorismus. Nach der jüngsten Terrorwelle in Russland und der Entführung französischer Journalisten in Irak sind die Positionen noch enger zusammengerückt

Ein strategischer Freund

Natürlich muss Schröder in seiner Russland-Politik Rücksicht auf andere EU-Mitgliedsländer und die Brüsseler Zentrale nehmen, in der künftig verstärkt eine gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik ausgearbeitet werden wird. Schon um die neuen EU-Mitgliedsländer aus Mittelosteuropa nicht zu verschrecken, die aus historischen Gründen eine latente Furcht vor einer „Sonderbeziehung“ zwischen Deutschland und Russland haben, sollte die deutsche Russland-Politik europäisch-multilateralen Charakter erhalten. Auch amerikanische Verdachtsmomente, dass eine enge deutsch-russische Freundschaft die transatlantische Gemeinschaft aufweichen würde, gilt es zu entkräften.

Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu Russland, einem schwierigen, aber in vielerlei Hinsicht lukrativen Partner, wird in der Zukunft Dividenden abwerfen. Möglicherweise werden die heutigen Maßstäbe der europäischen Partnerschaft, die vor allem auf demokratischen Werten basieren, angesichts der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit denen die EU und Russland konfrontiert werden, revidiert. Schon um das Jahr 2020 erwarten Experten weltweite kriegerische Auseinandersetzungen um Rohstoffe, Energieressourcen und Wasservorräte. Der islamische Extremismus – der Hauptgegner der Globalisierung – könnte sich bald zu einem noch gefährlicheren Feind des gesamten Westens aufschwingen. Wäre es dann nicht von großem Vorteil, das ressourcenreichste Land – Russland – politisch und wirtschaftlich als Verbündeten an der Seite der EU zu wissen?

Die strategische Freundschaft zwischen Schröder und Putin muss allerdings noch zahlreiche Proben bestehen. Sollte die deutsche Politik erkennen, dass Putin die politische Unterstützung und die Modernisierungshilfe des Westens ausschließlich dazu benötigt, um Russland wieder zur Großmacht zu führen, wäre das Vertrauen missbraucht. Eine Verstaatlichung von in den neunziger Jahren privatisierten Ölkonzernen wie Jukos oder Sibneft würde potenzielle Investoren abschrecken. Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnungspolitik hofft man im Westen darauf, dass Putin den Bogen nicht überspannt und nicht die Linie überschreitet, die eine Rückkehr des Landes zur Demokratie unmöglich machen würde.

Der von Putin und Schröder im Jahr 2000 ins Leben gerufene Petersburger Dialog muss zu einem realen Bindeglied nicht nur der Eliten, sondern auch der Zivilgesellschaften beider Länder werden. Dieser Zivildialog muss auf Zukunftsthemen gerichtet werden.

Schließlich muss ein ganz besonderer Aspekt der sicherheitspolitischen Partnerschaft angeschnitten werden, der für die Stabilität des künftigen europäischen Kontinents von entscheidender Bedeutung ist. Durch die Erweiterung von EU und NATO direkt bis an die russische Westgrenze bekommen die ehemaligen Sowjetrepubliken wie die Ukraine, Weißrussland, Moldau und Georgien eine neue strategische Bedeutung. Manche Experten sehen neue geopolitische Rivalitäten um Einflusszonen am Horizont aufkommen, denn beide – die EU und Russland – erachten diese Länder als jeweils ihr „nahes Ausland“. Die vier genannten Staaten sind instabil oder stehen vor grundlegenden politischen Veränderungen. Putin nutzt gegenwärtig die Pause, die sich die EU jetzt in Erweiterungsfragen auferlegt hat, um das Schlüsselland in dieser „Zwischenzone“ – Ukraine – näher an Russland anzukoppeln. Gleichzeitig versucht der durch die „Rosenrevolution“ in Georgien an die Macht gekommene Michail Saakaschwili, die gegenwärtigen westlichen Sympathien für sein Land dafür zu instrumentalisieren, um die abtrünnigen Republiken Süd-Ossetien und Abchasien nach Georgien zurückzuholen.

Die strategische Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland könnte, im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen im Kaukasus, auf eine harte Probe gestellt werden. Deutschland und die EU haben in der Vergangenheit Russland des Öfteren eine Zusammenarbeit bei der Lösung von eingefrorenen Konflikten im postsowjetischen Raum angeboten, sei es in Transnistrien – der abtrünnigen Republik in Moldau –, oder eben im Kaukasus, wo Russland selbst größte Mühe hat, das Tschetschenien-Problem zu lösen. Putin wehrt sich jedoch gegen eine „Internationalisierung“ von Konflikten in der russischen Einflusssphäre und lehnt eine EU- oder NATO-geführte Friedensmission in der GUS ab. Nach westlicher Einschätzung wird er aber nicht umhin kommen, mit der EU in dieser Hinsicht zusammenzuarbeiten. Früher oder später werden die oben genannten GUS-Länder wahrscheinlich in einen „gemeinsamen Sicherheitsraum“ EU-Russland integriert sein. Die Schaffung von „vier gemeinsamen Räumen“ zwischen der EU und Russland (Wirtschaft, Sicherheit, innere Sicherheit/Recht, Kultur/Bildung) wird deshalb von Berlin besonders unterstützt. Diese Strategie ist das bisher beste strategische Erfolgsrezept für die Anbindung Russlands an Europa.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2004, S. 91‑94

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