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01. Dez. 2007

Schneepflüge für Guinea

Warum die Entwicklungshilfe gescheitert ist und was wir daraus lernen können

Die Bilanz eines halben Jahrhunderts Entwicklungspolitik ist desaströs. Milliarden sind vom Norden in den Süden geflossen, aber sie haben das Los der Hilfsempfänger keineswegs verbessert – vielen Afrikanern geht es schlechter denn je. Nicht weitere Big-Push-Initiativen, sondern eine radikale Fehleranalyse tut not: Was ging schief? Was ist zu tun?

Es waren verheerende Jahre: Die Dürre, der Hunger, der Tod suchten die Menschen heim. Aber dann kamen die weißen Experten, um die biblischen Plagen im Nordosten Kenias zu beenden. Aus Norwegen kamen sie, und sie brachten eine grandiose Idee mit. Sie wollten die darbenden Nomaden am Turkana-See durch die Schenkung einer Fischfabrik vor den periodischen Katastrophen bewahren und nebenbei Jobs schaffen. Sie bauten die Fabrik, merkten allerdings erst später, dass die viehhaltenden Turkana sowohl den Fisch als auch die Lohnarbeit verschmähten. Und dass die Energiekosten für das Einfrieren der Tilapia-Filets in der Halbwüste ihren Handelswert um ein Mehrfaches übersteigen, wobei die Millionen für die neuen Straßen, die man braucht, um die Ware zum Verbraucher zu transportieren, noch gar nicht einkalkuliert waren. Und wieder kamen Fachleute aus Norwegen, um den Irrtum zu evaluieren. Und sie riefen: O je, wie konnten wir nur so einfältig sein!

Der Altruismus ist so alt wie sein Gegenteil, die Ausbeutung. Von den putzigen Nick-Negern der Kolonialzeit, die die Missionare in ihren Heimatkirchen aufstellen ließen, über Bundespräsident Heinrich Lübkes Idee, Holsteiner Kühe nach Pakistan zu fliegen, bis zur Vision von Microsoft, dass in jeder Hütte ein Laptop stehen müsse – all diese guten Absichten und Aktionen sind von der Philosophie des gütigen Urwalddoktors Albert Schweizer beseelt. Sie treibt den staatlichen Entwicklungsexperten ebenso um wie den Dritte-Welt-Bewegten; man will irgendwie kompensieren, was der „weiße Mann“ den Verdammten dieser Erde angetan hat. Und dabei setzt manchmal die Vernunft aus.

Die Fischmission am Lake Turkana Anfang der siebziger Jahre ist heute nur noch eine Anekdote. Wir schmunzeln darüber genauso wie über die äußerst nützlichen Schneepflüge, welche die Sowjetunion einst seinem tropischen Bruderland Guinea schenkte. Oder über die Schlafstatt aus Gold, die sich ein größenwahnsinniger Despot gegönnt hat. Aber solche und ähnliche Beispiele werden genannt, wenn die deutschen Stammtische fordern, die Entwicklungshilfe ersatzlos zu streichen, und neuerdings stimmen auch seriöse Blätter in ihren Chor ein. Was hat sie denn gebracht, die grob geschätzt rund eine Billion Dollar, die der entwickelte dem unterentwickelten Teil der Welt seit den 1950er Jahren überwiesen hat? Wieso wurden die Armen trotzdem ärmer? Warum hilft man einem erfolgreichen Tiger wie Thailand immer noch auf die Sprünge? Wieso erhalten die in Ölmilliarden schwimmenden Angolaner nach wie vor milde Gaben? Die Antwort lautet unisono: Hören wir doch endlich auf, in Zeiten der eigenen Finanznot Steuergelder für diesen Unsinn zu verschwenden! Aber auch seriöse Wissenschaftler wie William Easterly – er hat für die Weltbank gearbeitet und ist heute Dozent an der New York University – empfehlen, die Entwicklungshilfe radikal zu kürzen und ihre Strukturen zu überdenken. Der kenianische Ökonom James Shikwati schlägt gar vor, sie ersatzlos zu streichen; er nennt sie eine „Fehlentwicklungshilfe“, die nur korrupten Eliten nütze.1

Gleichzeitig plädieren Entwicklungsagenturen, Kirchen, humanitäre Organisationen und alle jene Bürger, die heutzutage gern als naive Gutmenschen verspottet werden, für mehr, für bessere Hilfe. Man möge endlich das Versprechen einlösen, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts der Wohlfahrt des Südens zu widmen. Immerhin strebt Heidemarie Wieczorek-Zeul, die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), das im Koalitionsvertrag vereinbarte Zwischenziel von 0,51 Prozent an. Und sie weist zu Recht darauf hin, dass die gesamten Transferleistungen des Nordens in einem halben Jahrhundert gerade einmal so hoch sind wie die globalen Rüstungsausgaben pro Jahr. Im Weltmaßstab geht es also um Peanuts.

Aber wer wollte bestreiten, dass von Anfang an ziemlich viel schief gelaufen ist, und dass man recht wenig dazugelernt hat, seit Brigitte Erler 1985 aus Bangladesch zurückkehrte, ihren Job im BMZ hinschmiss und ihr J’accuse in dem Buch „Tödliche Hilfe“ hinausschrie? Die Milliarden flossen weiterhin planlos in den Süden, man muss schließlich irgendwie helfen. Strümpfe stricken für die Negerkinder, so steht es schon in Thomas Manns Buddenbrooks. Die postmoderne Variante bei den Popkonzerten von Bob Geldof heißt: Gitarren zupfen für die Afrikaner. Man will gerechte, menschenwürdige Verhältnisse herbeiführen, aber die Resultate sind seit Jahrzehnten die gleichen: enttäuschte Hoffnungen, serienweise Fehlschläge, jede Menge „weiße Elefanten“, Projektruinen, die nutzlos in der Landschaft herumstehen.

Aber nun, mit dem Millenniumsplan der Vereinten Nationen, soll alles ganz anders werden. Diese Jahrtausendoffensive unter dem Kommando des Starökonomen Jeffrey Sachs will die Hilfe verdreifachen und bis zum Jahr 2015 die extreme Armut auf der Welt halbieren. Ein ehrgeiziges, ein ehrenwertes Programm mit vielen guten Ideen. Aber es ist beseelt von der verstaubten Geber-Orthodoxie: Hier der edle Samariter, dort der ewige Bettler, der von außen gerettet wird, indem man ihn mit Wohlstandsgütern überschüttet. Viel hilft viel, lautet das Credo. Aber wie könnte dieser „Marshall-Plan“ auf der Grundlage einer Strategie funktionieren, die seit einem halben Jahrhundert versagt?

Die Entwicklungshilfe wurde in den späten 1950er Jahren erfunden, in der Phase der Dekolonialisierung, um den jungen Staaten des Südens aufzuhelfen. Hinter dem philanthropischen Motiv verbarg sich das strategische Kalkül des Kalten Krieges: Im Ringen um die geopolitische Hegemonie beglückten die beiden großen Machtblöcke, der Westen und der Osten, die so genannte Dritte Welt mit ihren kapitalistischen respektive realsozialistischen Modernisierungsmodellen. Man erkaufte sich die ideologische Bündnistreue der Eliten des Südens durch großzügige Zuschüsse und Sachleistungen, Panzer und Raketen inklusive – und förderte en passant die eigene Exportindustrie. Die Satrapen in Afrika, Asien und Lateinamerika griffen dankbar zu. Die Hilfe sicherte ihre Macht und entmündigte sie zugleich. Denn sie hingen an ihrem Tropf, sie wurden abhängig von den Infusionen.

Vom nehmenden zum „gebenden Kolonialismus“

Aus dem nehmenden sei ein „gebender Kolonialismus“ geworden, befand der Philosoph Alexandre Kojève. Natürlich strebten die Industriestaaten auch an, dass es die Entwicklungsländer nach ihrem Vorbild zum Wohlstand bringen. Aber die Praxis wollte ihrer Theorie nicht folgen, und so dachte man sich neue Theorien aus, neue Modelle, neue Paradigmen, keynesianische, neoklassische, marxistische; es entstanden Mischformen und Gegenentwürfe wie die Dependenzlehre, und manchmal sprossen akademische Blüten, deren Name allein schon furchterregend war: Neofaktorproportionentheorem, das muss man sich, wenn man in irgendeinem armseligen Dorf in der Savanne steht, auf der Zunge zergehen lassen.

Am Anfang wurde das Prinzip der Importsubstitution als Allheilmittel propagiert: Die rückständigen Staaten sollten durch eine eigene, diversifizierte Produktion die Abhängigkeit von Einfuhren reduzieren. Sie ließen sich gewaltige Kredite aufdrängen und waren bald in der Schuldenfalle gefangen. Am Ende überstiegen die geleisteten Schuldendienste die erhaltene Entwicklungshilfe – es floss mehr Geld vom Süden in den Norden als umgekehrt. Die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds schrieben den kranken Staatspatienten neoliberale Rezepte vor: Privatisiert! Dereguliert! Liberalisiert! Die „unsichtbare Hand des Marktes“ werde alles richten. Aber in der Mehrzahl der Entwicklungsländer blieb die Hand des Marktes unsichtbar, und die Reformmedizin wirkte mitunter tödlich. Heute empfinden viele Menschen im Süden den entfesselten Kapitalismus als letzte Stufe einer Ausbeutungsgeschichte, die vor 500 Jahren begann. Sie reden von der „globalen Apartheid“, von einer Weltklassengesellschaft. Mittlerweile haben die Päpste des Washington Konsensus ihre Dogmen still und leise abgemildert, manche widerrufen gar: „Das politische Regelwerk, das wir im Ausland vorangetrieben haben, half unseren Unternehmen, erfolgreich zu sein“, bilanziert der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz. Er war Chefökonom der Weltbank.

Zwei Merkmale kennzeichnen die meisten Denkschulen: Sie setzten auf industrielles Wachstum und vernachlässigten die Landwirtschaft. Und sie versagten alle. Die Agenturen der Entwicklungszusammenarbeit, von den Vereinten Nationen über die Ministerien der einzelnen Staaten bis hinunter zu den Nichtregierungsorganisationen, bildeten gleichsam die Speerspitze der Modernisierung. Sie machten die Moden mit oder verwarfen sie, änderten ihre Prioritätenmatrix, erdachten alternative Strategien, setzten neue Oberziele. Armutsbekämpfung. Grundbedürfnisorientierung. Partizipation. Gute Regierungsführung. Es half alles nicht viel, selbst in Staaten nicht, die flächendeckend mit Hilfe bombardiert wurden und sich in regelrechte Projekt-- -landschaften verwandelten. Als das kleine Benin den Sozialismus abgeschafft hatte, schwoll die Zahl der Hilfsorganisationen auf 3000 an.

In regelmäßigen Abständen wurden neue Großrettungspläne im Namen der einen und einzigen Welt produziert: die Pearson-Studie von Weltbankpräsident McNamara 1969, der Nord-Süd-Report unter Willy Brandt 1980, und 1992 – erinnert sich noch jemand? – der Erdgipfel von Rio, auf dem sogar Helmut Kohl die nachhaltige Entwicklung entdeckte. Die Mächtigen des Nordens beten die Appelle in ihren Sonntagsreden nach. Manchmal bedauern sie sogar ihre Agrarsubventionen und Handelsschranken, die den Ländern des Südens Entwicklungschancen rauben, aber sie bleiben handlungsresistent. Und so gilt unverändert, was ein indischer Bauer einmal sagte: Er wolle als Kuh in Europa wiedergeboren werden. Die erhält nämlich mehr Wohltaten. Seit der Jahrtausendwende erleben wir eine Renaissance der Big-Push-Philosophie: die G-8-Initiative, Tony Blairs Commission for Africa, der Stufenplan der Europäischen Union, die Millenniumsziele. Hinzu kommen milliardenschwere Stiftungen von Philanthropen wie dem Microsoft-Gründer Bill Gates. Aber kein einziges dieser Mammutprogramme hinterfragt ernsthaft, warum all die gut gemeinten Anläufe bislang so jämmerlich gescheitert sind. Die Abhandlungen zu diesem Thema füllen unterdessen ganze Bibliotheken, und die meisten Kritiker stimmen in einem Punkt überein: Es gibt kein universelles Modernisierungsmodell. Entwicklung kann man nicht von außen aufpfropfen und wie ein Impfprogramm exekutieren. Es handelt sich um einen äußerst komplexen Prozess, in dem unsteuerbare Parameter immer wieder die Ausgangslage verändern. Das kann ein Staatsstreich sein. Oder der Einbruch der Kaffeepreise. Oder die milliardenschwere Intervention eines mächtigen Akteurs wie China. Eine gelungene Maßnahme kann sogar das Gegenteil bewirken. Da baut ein Land wie Ghana mit ausländischer Unterstützung ein brauchbares Gesundheitswesen auf – und schon setzt der Braindrain ein: Seine gut ausgebildeten Ärzte und Krankenschwestern laufen weg, weil in England das Gras grüner ist.

Experten handeln oftmals so, als fände Entwicklung quasi unter Laborbedingungen statt. Sie wissen in der Regel viel zu wenig über die Sozialstrukturen, Kulturen und Traditionen ihrer Einsatzgebiete. Sie verdrängen massive Entwicklungshemmnisse wie den allgegenwärtigen Aberglauben und die „Ökonomie der Hexerei“. Über Mentalitätsbarrieren zu reden verbietet ihre Political Correctness. Und dann wundern sie sich, warum die Leute lieber in den Busch gehen anstatt auf die mustergültigen Biotoiletten. Zugleich müssen sie sich an ihrer karitativen Tonnenideologie und ihren überzogenen, bisweilen utopisch anmutenden Zielen messen lassen. „Entwicklungshilfe, die wahllos überdimensionierte Ziele verfolgt, funktioniert nicht“, sagt der indische Politologe Pratap Bhanu Mehta. „Nötig ist eine umfassende Umgestaltung der politischen Ökonomie dieser Länder – ein Wandel, den keine externe Macht herbeiführen kann.“ Das vieltausendköpfige Heer der Helfer mit ihren bürokratischen Apparaten aber ist getrieben von einer regelrechten Machbarkeitsobsession. Häufig überlappen sich die Programme der UN-Filialen, bilateralen Geber und rivalisierenden Organisationen, es kommt mangels einer kohärenten Strategie zu absurden Doppel- oder Mehrfachförderungen, die mitunter die Absorptionsfähigkeit der Empfängerländer übersteigen. Allein die Vereinten Nationen kostet die miserable Koordination ihrer Agenturen nach eigenen Schätzungen rund sieben Milliarden Dollar pro Jahr.

Das technokratische Vokabular der Vergeblichkeit

Richtig abenteuerlich wird es, wenn man eines dieser Armutsbekämpfungsstrategiepapiere durchliest: Prioritätenmatrix, Querschnittsaufgabe, Vorfeldinstitutionen, übersektorales Präventionskonzept – man lernt dabei das technokratische Vokabular der Vergeblichkeit. Aber es spielt ja ohnehin keine Rolle, wenn ein Projekt in den Sand gesetzt wird, die Akteure werden nicht abgestraft wie in der freien Wirtschaft, sondern für ihren diffusen Aktivismus auch noch belohnt. Motto: Besser irgendetwas tun als gar nichts tun, Hauptsache der Mittelabfluss ist gewährleistet. In Somalia lief uns ein Amerikaner auf der verzweifelten Suche nach einem Projekt über den Weg. Es war Dezember, er hatte noch 50 000 Dollar zu vergeben und musste sie unbedingt im alten Jahr loswerden, weil sonst sein Etat im neuen Finanzjahr entsprechend geschrumpft wäre. Man kann sich denken, dass dabei das vielbeschworene Prinzip der Nachhaltigkeit auf der Strecke bleibt. Die Maßnahmen enden häufig wie der vorbildliche Lehrpfad in Libreville, Gabun, der die Menschen über den Raubbau am Regenwald aufklären sollte: Sobald der deutsche Forstfachmann verschwunden ist, überwuchern die Tropen den Pfad. War was?

Wenn die Helfer ihre Fehler erkennen, stellen sie sich selber an den Pranger. Manchmal macht sie das Scheitern auch zynisch. Man hört sie dann beim Sundowner die Thesen des Kritikers William Easterly zitieren. Oder sie witzeln über Solarkocher, die man in Afrika seit Expertengedenken zur Lösung der Energiefrage propagiert hat, um festzustellen, dass die Lamellen des Geräts als Spiegel in den Hütten verwendet werden. Schlecht gelaufen, auf zu neuen Taten. Der Wettbewerb mit den Samaritern aller Länder ist hart, man muss seine Pfründe sichern, das klimagekühlte Büro, die Dienstflüge, den schicken Geländewagen. Man erfindet neue Funktionen in der Verteilungsschlacht der internationalen Hilfsindustrie, den Kompetenzfeldleiter zum Beispiel oder den Leistungsschwerpunktmanager. Tony Vaux, der lange bei Oxfam gearbeitet hat, spricht von „selbstsüchtigen Altruisten“. Sie gerieten, böse gesagt, selber in Not, wenn sie die Not abschaffen würden. Das Geschäft mit der Armut sichert Arbeitsplätze – im reichen Norden.

Ausländische Experten und einheimische Eliten verbindet ein gemeinsames Interesse: Sie leben von der Hilfe. Entwicklungsgelder, neuerdings bevorzugt als direkte Budgetzuschüsse überwiesen, sind oft die einzigen flüssigen Mittel, die Kleptokraten zur Erhaltung ihrer Macht zu verteilen haben. Bei den wirklich Bedürftigen kommen sie allerdings nur tröpfchenweise an. Die Weltbank fand heraus, dass in Uganda nur 13 Prozent eines Bildungsprogramms zu den Schulen gelangten, ein Gutteil versickerte in den Taschen von ghost teachers, von Lehrern also, die gar nicht existieren. Aber auch Nichtregierungsorganisationen, die gern als zivilgesellschaftliche Alternative zum korrupten Staatsapparat gepriesen werden, veruntreuen oftmals Spenden. Gut dokumentiert ist der Fall von BOMA, einer Selbsthilfeinitiative der Massai-Hirten in Tansania. Sie wurde zu einem Liebling der Geber und kassierte mehrere Hunderttausend Dollar – sehr zur Freude der leitenden Mitarbeiter, die eine Flotte von Landcruisern anschafften, sich immer öfter in der Stadt vergnügten oder ihre private Karriere als Lokalpolitiker finanzierten.

Die schwerwiegendste Folge der Hilfe aber ist, dass sie die Eigeninitiative lähmt und eine regelrechte Bettlermentalität erzeugt; das gilt für die Mächtigen und die Ohnmächtigen gleichermaßen. Alle erwarten, dass ihre Probleme von externen Akteuren gelöst werden und milde Gaben wie in einem modernen Cargo-Kult auf sie herabregnen. „Ich brauche fünf Lastwagen, eine Schubraupe und ein paar Tonnen Zement“, erklärte vor Jahren ein Bürgermeister in Mosambik und überreichte mir eine Bestellliste. Diese Haltung ist eine Folge des Samaritertums, sie ist in allen Schichten anzutreffen, vom Straßenkind bis hinauf zum Präsidenten, und paradoxerweise wird sie durch erfolgreiche Maßnahmen verstärkt. Eine typische Geschichte erzählte mir ein Pater in Mathare, einem Slum von Nairobi. Nachdem seine kirchliche Hilfsorganisation endlich eine Trinkwasserleitung mit öffentlichen Zapfhähnen verlegt hatte, beschwerte sich ein alter Mann bei ihm: „Wer zahlt eigentlich mich, wenn ich den vollen Wassereimer zu meiner Hütte schleppe?“

Nun läuft also der Millenniumsplan unter der Federführung von Jeffrey D. Sachs, ein neuer Big Push, eine neue Schocktherapie, angetrieben von den alten paternalistischen Weltrettungsphantasien. Man muss nur viel genug hineinwerfen in das Nick-Negerlein, und alles wird gut. Ein schlichtes Universalrezept mit dem Mantra „Mehr Hilfe und mehr Handel“. Renommierte Nord-Süd-Experten wie Robin Broad von der American University in Washington, D.C. kritisieren, dass durch die Hintertür die fragwürdigen Heilslehren der Neoliberalen rehabilitiert werden. Zum Beweis für deren Erfolg betont Sachs nämlich gern den weltweiten Rückgang der extremen Armut von 1,5 auf 1,1 Milliarden Menschen seit 1981. Dieser Trend ist vor allem dem Aufstieg Chinas und Indiens geschuldet, zweier Wirtschaftsriesen, die keineswegs die reine Lehre angewandt haben. In Afrika hat derweil die Not dramatisch zugenommen, denn Millionen von Armen haben einfach nichts, was sie auf dem Weltmarkt anbieten könnten. Sie brauchen moderne Technologien, predigt Sachs, dann werden sie irgendwann automatisch hochklettern auf der Himmelsleiter der Modernisierung. In jede Hütte gehört ein Laptop. Fragt sich nur, was Kinder, die des Lesens und Schreibens unkundig sind, damit anfangen sollen …

„West is best“, heißt die Maxime

Jeffrey D. Sachs, der mächtigste Entwicklungsberater unserer Zeit, betrachtet die Welt mit jenem ethnozentrischen Blick, der Armut mit Elend verwechselt und nicht wahrhaben will, dass es sich auch in bescheidenen Verhältnissen menschenwürdig leben lässt. „West is best“, heißt die unerschütterliche Maxime. Da erübrigt sich der Einwand, ob unsere ressourcenfressenden und umweltvernichtenden Produktions- und Konsummuster überhaupt noch zukunftsfähig sind. Man schmeißt die Probleme einfach mit Geld zu. Wie wirksam das Modell von Milliardentransfers ist, kann man übrigens auch in den sterbenden Regionen der neuen Bundesländer besichtigen.

Der Millenniumsplan wiederholt einen Konstruktionsfehler aller Hilfskonzepte: Er ignoriert die realen, die Macht- und Besitzverhältnisse in den Empfängerländern. Die größten Modernisierungsbremser sind nicht die Armen, sondern die Reichen, die korrupten Machteliten und ihre repressiven und räuberischen Methoden. Sie dürfen sich auf drei Mal so viel Hilfe freuen. Denn sie wird, wie es aussieht, weiterhin nach den Regeln eines externen Systems transferiert, das seit 50 Jahren mehr schadet als nutzt. Und deshalb warnt ein unorthodoxer Ökonom wie der Peruaner Hernando de Soto ganz eindringlich: Leute wie Sachs seien schädlich für die Lösung des Armutsproblems.

Was tun? Einen Masterplan, der in einer aus den Fugen geratenen Welt menschenwürdige Verhältnisse herstellt, gibt es nicht. Aber es wird allmählich Zeit, Entwicklungspolitik jenseits der humanitären Selbstverpflichtung als globale Strukturpolitik zu begreifen. Die obszöne Ungleichheit gebiert Krieg und Terrorismus, verstärkt Flüchtlingsströme, zerstört die Lebensgrundlagen, und nur eine gerechtere Welt ist eine sichere Welt. Immerhin messen die Machtzentren des Nordens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 Entwicklungsfragen eine sicherheitspolitische Relevanz bei. Zugleich spüren sie die Verschiebungen in der Hilfslandschaft: Ihre Interventionsmacht schwindet, weil neue, selbstbewusste Geber wie China, Indien oder Brasilien auftreten.

Jenseits der maximalen Wünschbarkeiten wäre schon viel erreicht, wenn die 107 Industrie- und Entwicklungsländer, die 2005 die so genannte „Paris Declaration on Aid Effectiveness“ beschlossen haben, die dort formulierten und gar nicht so neuen Erkenntnisse konsequent umsetzen würden. Es kann zunächst nur darum gehen, die überkommenen Institutionen, Instrumente und Methoden der Entwicklungszusammenarbeit radikal zu reformieren und erst dann die Hilfe zu verstärken. Das beginnt bei uns im Norden, bei unserer kriminellen Wirtschafts- und Handelspolitik, bei unserer Almosenindustrie, bei der Geldvernichtungsmaschine der Vereinten Nationen. Diese Wende wäre allerdings zwecklos, wenn die Eliten des Südens in ihrer bewährten Opferhaltung die Einsicht verweigerten, dass zuallerst sie selber für das Wohl ihrer Nationen verantwortlich sind. Man muss den Druck auf die Mächtigen gewaltig erhöhen. Denn sie sind keine Opfer, sondern Mittäter, und sie sind nicht arm. Allein in Afrika verfügen 75 000 Millionäre über rund 700 Milliarden Dollar, und noch einmal 400 Milliarden befinden sich in afrikanischen Privathänden außerhalb des Kontinents.

Die vorläufige Bilanz der Entwicklungspolitik ist desaströs. Trotz aller Kritik aber sollte man nicht vergessen, dass es Abertausende von engagierten Helfern und sinnvollen Projekten gibt, ohne die es in mancher Krisenregion noch düsterer aussehen würde. Man könnte von ihnen ebenso lernen wie von der Kreativität der Armut, vom Unternehmergeist der informellen Ökonomie in den Slums zum Beispiel. Man könnte das bewährte System der Kleinkredite ausweiten oder die Extractive Industries Transparency-Initiative (EITI) für ein vernünftiges Ressourcenmanagement stärken. Man könnte für abgeworbene Spitzenkräfte des Südens wie bei Fußballern eine Transfergebühr einführen. Man könnte, wenn man nur wollte. Wenn man so viel schöpferische Energie aufwenden würde wie etwa bei der Erfindung von Marssonden.

BARTHOLOMÄUS GRILL, geb. 1954, ist seit 2000 Leiter des Afrika-Büros der ZEIT in Kapstadt, seit 2005 Mitglied im Afrika-Beraterkreis von Bundespräsident Horst Köhler. Sein jüngstes Buch: „Gott, AIDS und Afrika. Eine Streitschrift“ (2007).

  • 1James Shikwati: Fehlentwicklungshilfe, Internationale Politik, April 2006, S. 6–15.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2007, S. 8 - 15.

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