IP

01. Sep 2020

Scheitern oder neu erfinden?

Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen steht auf dem Spiel. Mit Joe Biden wäre eine Neubegründung möglich – wenn Europa bereit ist, mehr zu leisten.

Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa stehen an einem historischen Scheideweg. Die transatlantische Partnerschaft ist seit dem Zweiten Weltkrieg das Fundament der multilateralen Weltordnung. Die Wahlen in den USA im November entscheiden darüber, ob diese Partnerschaft gestärkt und umgebaut werden kann, um neuen Herausforderungen zu begegnen, oder ob sie weitere Risse bekommt und zerbricht.



Partnerschaft, die nicht funktioniert

Das gegenwärtige, beispiellose Zusammenfließen von globaler Gesundheitskrise, begleitender Wirtschaftskrise und neuen Sicherheitsbedrohungen erfordert transatlantische Führungsstärke. Doch das Verhältnis ist mittlerweile in weiten Teilen dysfunktional.



Donald Trump mobbt Verbündete wie Angela Merkel und umarmt Autokraten wie Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan oder Viktor Orbán. Mal bezeichnet er die NATO als „obsolet“, dann als eine „Präzisionsmaschine“. Er nutzt die Allianz wie eine mafiöse Organisation zur Erpressung von Schutzgeldern, indem er die US-Unterstützung für Verbündete von den Verteidigungsausgaben der NATO-Mitglieder abhängig macht. Trump hat Zölle auf Stahl und Aluminium für Importe aus europäischen Partnerländern eingeführt, dies mit der „nationalen Sicherheit“ gerechtfertigt und angekündigt, dass weitere folgen könnten. Er hat die EU einen „Gegner“ genannt und „schlimmer als China, nur kleiner“. Er hat nichts übrig für das, was den Europäern wichtig ist: den Kampf gegen den Klimawandel, den Nahost-Friedensprozess oder die Verbesserung der weltweiten Gesundheit, den Schutz der Menschenrechte oder Entwicklungshilfe. Trumps Rückzug aus dem Nuklearpakt mit dem Iran, aus dem Klimaabkommen von Paris, aus dem INF-Vertrag zur Abschaffung nuklearer Mittelstreckenraketen, aus dem Open-Skies-Abkommen und aus der WHO haben den Glauben der Europäer daran erschüttert, dass sie eine gemeinsame politische Basis mit ihrem wichtigsten Verbündeten teilen.



Diese transatlantische Unordnung und Verwirrung sind nicht allein Trump geschuldet. Europa könnte auseinanderfallen oder näher zusammenrücken – im Moment scheint beides gleich wahrscheinlich. Covid-19 hat gesellschaftliche und ökonomische Verwüstungen von unglaublicher Härte und ungekanntem Ausmaß angerichtet. Die EU-Mitgliedstaaten haben im Juli ein Rettungspaket und ein mehrjähriges Budget beschlossen. Aber die Debatten haben bestehende Uneinigkeiten offengelegt, die sich verstärken könnten, sobald die Pandemie ihren Höhepunkt überschritten hat.



Eine Union, deren Gesellschaften sich voneinander abgrenzen, ist keine Union, die in der Lage ist, zusätzliche Gesellschaften zu integrieren, die an ihre Tür klopfen. In den großen europäischen Gebieten, die jenseits von EU und NATO liegen, gibt es mehr Gewalt, weniger Freiheit und weniger Sicherheit als noch vor einem Jahrzehnt. Bundeskanzlerin Merkel erkennt diese Lage, wenn sie sagt, dass Europa fragiler sei, als manche meinen.



Wenn Trump gewinnt

Würde Donald Trump wiedergewählt, hätte die amerikanische Öffentlichkeit seine Ansicht bestätigt, dass die Amerikaner daheim unter vielen sozialen und wirtschaftlichen Problemen leiden, weil die Vereinigten Staaten gegenüber dem Rest der Welt zu großzügig waren: indem sie zum Beispiel Einwanderer aufnehmen und für die Verteidigung undankbarer Verbündeter bezahlen. Nach dieser Lesart gehört zu dieser Großzügigkeit auch, dass die amerikanische politische Elite eine Reihe von schlechten internationalen „Deals“ gemacht hat, die jetzt der US-Wirtschaft und den einfachen amerikanischen Arbeitern schaden. Eine zweite Trump-Regierung wird wahrscheinlich ihre Anstrengungen verdoppeln, ihre nationalistische Agenda in Wirtschaftsfragen durchzudrücken und sich ihrer internationalen Verpflichtungen zu entledigen.



Donald Trump würde noch rücksichtsloser auf eine Strategie der Leistung und Gegenleistung gegenüber Verbündeten setzen. Diejenigen, die nicht „zahlen“, bekommen auch keinen Schutz. Zweifel an den Sicherheitsgarantien der Vereinigten Staaten würden die NATO untergraben. Trumps ehemaliger Sicherheitsberater John Bolton schrieb kürzlich, er halte es für „höchst fraglich“, ob Trump die USA weiter in der NATO belassen werde, wenn er für weitere vier Jahre gewählt würde.



EU-Optimisten glauben vielleicht, dass die europäischen Verbündeten schnell enger zusammenrücken würden, um einen neuen EU-Rahmen für ihre gemeinsame Sicherheit zu schaffen. Es ist aber wahrscheinlicher, dass die einzelnen europäischen Länder sich aneinander vorbeidrängeln würden, um bilaterale Sicherheitsabkommen mit Washington zu vereinbaren. Ohne die USA würden die NATO-Verbündeten in unterschiedliche Richtungen steuern.



Die britische Regierung würde mit großer Eile versuchen, ein festes bilaterales Bündnis mit Washington zu schließen. Das wiederum würde die nukleare Abschreckungsfähigkeit Europas weiter schwächen. Europäische Länder, die glauben, dass ihre Sicherheit eher von Osten bedroht wird, würden Länder, die sich eher vom Süden her in Gefahr sehen, nur zurückhaltend unterstützen – und umgekehrt. Durch diese Bruchlinien droht der europäische Kontinent in genau die historischen Muster zurückzufallen, die im vergangenen Jahrhundert zu ungeahnten Tragödien in Europa, Amerika und der ganzen Welt geführt haben.



Der Zusammenbruch der transatlantischen Beziehungen würde außerdem Moskau und Peking darin bestärken, ihre eigenen Kampagnen der Disruption und der Desinformation mit noch größerer Entschlossenheit zu betreiben. Xi würde Europas politische und ökonomische Verwundbarkeiten austesten. Sowohl Russland als auch China würden mit Hochdruck daran arbeiten, die Regeln der internationalen Ordnung neu zu formulieren. Kurz gesagt würde die transatlantische Partnerschaft so aus den Angeln gehoben. Europa und die Vereinigten Staaten wären weniger sicher, weniger wohlhabend und schlechter positioniert, ihren enormen Herausforderungen zu begegnen.



Wenn Biden gewinnt

In seiner Zeit als Vizepräsident betonte Joe Biden, dass „Europa der Grundpfeiler unseres Engagements in der Welt ist“ und „unser Katalysator für die globale Zusammenarbeit“. Biden wird sich instinktiv zuerst Europa als Amerikas unverzichtbarem Ansprechpartner zuwenden, wenn es darum geht, internationale Probleme zu lösen. Er ist ein leidenschaftlicher Transatlantiker.



Aber wenn Biden gewählt wird, liegt die größte Bedrohung für den lebenswichtigen transatlantischen Schulterschluss womöglich in der Versuchung der Europäer zu glauben, dass die Beziehung einfach wieder in den Modus „business as usual“ zurückgesetzt wird. Das wäre ein Fehler. Das transatlantische Bündnis, wie wir es kennen, ist tot. Eine Biden-Regierung würde wahrscheinlich die transatlantische Partnerschaft nicht einfach wiederherstellen wollen, sondern sie neu erfinden. Die Aufgabe wird sein, sich beiderseits des Atlantiks neu zu positionieren – gegenüber einer Welt, die von schweren Krisen, Klimawandel, diffuserer Macht, schwindelerregenden technologischen Innovationen, wachsenden Unsicherheiten und einem härter gewordenen globalen Wettbewerb geprägt ist.



Eine neu begründete transatlantische Partnerschaft wird mehr von den Europäern fordern, nicht weniger. Amerikaner und Europäer müssen deshalb gemeinsam ein neues Modell der Globalisierung entwickeln, das weniger auf Markteffizienz und mehr auf die Stärkung der Resilienz und des Wohlstands einer Gesellschaft ausgerichtet ist. Einige internationale Institutionen, beispielsweise die Welthandelsorganisation (WTO), müssen neu aufgestellt werden. Andere Institutionen, zum Beispiel die Weltgesundheitsorganisation (WHO), brauchen neue Befugnisse und Zuständigkeiten. So muss die WHO in der Lage sein, Echtzeitinformationen zu erheben und weiterzuverbreiten. Und sie muss in den Mitgliedstaaten ermitteln, wenn diese zu betrügen versuchen.



Andere Institutionen müssen erst geschaffen werden – zum Beispiel eine Organisation zur globalen Seuchenüberwachung und ein Krisenreaktionssystem, das ähnlich wie unser vernetztes System zur weltweiten Wetterprognose funktioniert. Es müssen neue Mechanismen entwickelt werden, um den Klimawandel zu bekämpfen und die Verbreitung von Waffen und Mitteln zur Massenvernichtung einzudämmen. Auch den Herausforderungen durch die Revolutionen im Bereich des digitalen und biologischen Computing und der Quantencomputer lässt sich mit den bestehenden Mechanismen nicht beikommen. Der alte, auf Staaten zentrierte Multilateralismus wird dazu nicht ausreichen. Ein neuer, vernetzter Multilateralismus wird gebraucht: offener, flexibler, agiler.



Höhere Erwartungen

Eine Biden-Regierung würde einen weit größeren Beitrag von Europa erwarten, als den Europäern momentan bewusst zu sein scheint. Biden wird den Wert der transatlantischen Partnerschaft zum Großteil anhand von Europas Bereitschaft bewerten, eine größere Führungsrolle zu übernehmen, wenn es um die Bewältigung der eigenen Herausforderungen geht. Ein zweiter Gesichtspunkt würde die europäische Fähigkeit sein, zusammen mit den Amerikanern eine Reihe von Problemen in Angriff zu nehmen, die weit über den Kontinent Europa hinausgehen.



Die größte Herausforderung für Biden ist das Management mehrerer paralleler Krisen im eigenen Land: die gegenwärtige Pandemie, große soziale Spannungen, die andauernde Rezession und die astronomische Verschuldung der öffentlichen Haushalte. Das sollte Amerikas Partner nicht überraschen; sie sollten es vielmehr begrüßen, dass ein Präsident Biden zunächst seinen Fokus auf die Lösung von Problemen daheim richten würde. Schließlich ist es unwahrscheinlich, dass die Vereinigten Staaten der beständige Partner sein können, den Europa braucht und sich wünscht, wenn es den USA nicht gelingt, Covid-19 zurückzudrängen, die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen und ihre tiefen gesellschaftlichen Spaltungen zu überwinden. Amerika kann anderen nicht helfen, wenn es nicht einmal sich selbst helfen kann.



Hilfe könnte eine gemeinsame transatlantische Anstrengung bringen, internationale Koalitionen aufzubauen, die das Corona-Virus bekämpfen und ökonomische Wege aus der Rezession weisen. Ein erster Schritt könnte ein amerikanisch-europäisches Abkommen sein, alle Handelsbarrieren für Arzneimittel und Medizinprodukte zu beseitigen. Ein anderes Mittel wäre eine transatlantische Wirtschaftsinitiative zur Unterstützung des Aufschwungs, die die gemeinsamen Anstrengungen bündelt, um Jobs und Wachstum zu schaffen und die Wirtschaft auf beiden Seiten des Atlantiks wieder aufs Gleis zu setzen.



Biden würde darüber hinaus wahrscheinlich schnell verkünden, dass die Vereinigten Staaten wieder dem Pariser Klimaabkommen beitreten. Eine neu begründete transatlantische Partnerschaft würde zügig einen Weg definieren müssen, um gemeinsame Klimaverpflichtungen einzugehen, die sich mit dem Ziel vereinbaren lassen, bis zum Jahr 2050 die Netto-CO2-Emissionen auf null zu senken.



Biden würde ebenfalls wieder gemeinsam mit den Europäern die Initiative ergreifen, wenn es darum geht, den Iran bei der Entwicklung von Nuklearwaffen zu stoppen. Amerikaner und Europäer könnten Gespräche mit dem Iran über das Raketenprogramm, Menschenrechte, Maßnahmen gegen den Terrorismus und Teherans destabilisierende Aktivitäten in Nachbarstaaten wie dem Irak beginnen.



Biden will, wie Trump, die „ewigen Kriege“ in Afghanistan, im Irak und in anderen Gebieten der Welt beenden. Eine neue transatlantische Partnerschaft hätte auch die Aufgabe, Beziehungen zu anderen Akteuren aufzubauen, die den Menschen in den Krisenregionen ein Mindestmaß an Stabilität und einen Funken Hoffnung geben könnten.



Neudefinition der NATO

Biden würde den Wert der NATO und der Bündnis- und Verteidigungsverpflichtungen der Vereinigten Staaten wohl bekräftigen, aber die Allianz eher mit Blick auf die Zukunft als auf die Vergangenheit definieren wollen. Ein neues Strategiekonzept für die NATO und für eine echte strategische Partnerschaft zwischen USA und EU könnte das herausragende Kennzeichen des neuen Transatlantizismus sein.



China wird ein früher Test für eine neu begründete transatlantische Partnerschaft sein. Der entscheidende Unterschied zwischen Trump und Biden ist, dass Trump seine Verbündeten dazu zwingen will, sich seinem Konfrontationskurs zu unterwerfen. Biden dagegen würde darauf setzen, mit den Europäern und gleichgesinnten Demokratien eine Koalition von Staaten aufzubauen, die ähnliche Befürchtungen bezüglich China haben.



Die transatlantische Partnerschaft neu zu erfinden, erfordert mühevolle, akribische Arbeit. Es ist unklar, ob die Europäer den Willen und die Amerikaner die Geduld dazu haben. Im Erfolgsfall wird die Partnerschaft gleichberechtigter, globaler und effektiver sein. Scheitert sie, sind Amerikas und Europas Sicherheit, Wohlstand und Demokratien in Gefahr.

 

Daniel S. Hamilton ist Austrian Marshall Plan Professor an der Johns Hopkins University School of Advanced International Studies und Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin. Dieser Artikel gibt seine persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2020; S. 20-24

Teilen