Online exklusiv

24. Okt. 2023

Sandkastenspiele für klügere KI

Wie die EU mithilfe von Reallaboren einen innovativeren KI-Ansatz entwickeln könnte.

Bild
Bild: Europäische Flagge mit Platine
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Nach der Einigung des Europäischen Parlaments auf die KI-Verordnung der Europäischen Union wird der sogenannte „AI Act“ voraussichtlich bis Ende des Jahres verabschiedet werden. Zwar hätte Europa damit das weltweit erste Gesetz für KI-Regulierung, jedoch fehlt es dem Vorschlag an Mechanismen zur Förderung von Innovation und zur Gestaltung eines flexibleren Rechtsrahmens für KI-Anwendungen. Kein geringer Mangel, gerade angesichts des wachsenden Risikos, dass Europa im globalen KI-Wettbewerb hinter China und die USA zurückfällt. Was tun?

Eine mögliche Lösung wären Programme, die im Englischen als „regulatory sandboxes“ und im Deutschen als „Reallabore“ bezeichnet werden. In solchen Laboren, der Vergleich zu Sandkastenspielen liegt nicht fern, lassen sich Innovationen für eine befristete Zeit unter möglichst realen Bedingungen testen. Start-ups und Unternehmen können innovative Produkte und Dienstleistungen anbieten und sich dabei von Regulierungsbehörden beraten und unterstützen lassen.

Im Jahr 2016 wurde das weltweit erste Reallabor dieser Art von der britischen Financial Conduct Authority (FCA) in der Finanztechnologie eingeführt, woraufhin mehr als 50 Länder ähnliche Fintech-„Sandkästen“ eingerichtet haben. Während die größten EU-Volkswirtschaften bislang nur begrenztes Interesse an diesen Laboren zeigen, haben mehrere zukunftsorientierte Staaten – darunter Hongkong, Singapur und Südkorea – durch derartige Programme die Innovation im Finanz- und Versicherungssektor vorangetrieben.

Entdecke die Möglichkeiten

Reallabore bergen für die KI ein erhebliches Potenzial. Und das nicht nur, weil es die Innovation fördert, wenn Regulierungsbehörden eng mit innovativen Start-ups und Unternehmen zusammenarbeiten, damit Produkte angeboten werden können, die es auf dem Markt noch nicht gibt. Sondern auch, weil die Regulierungsbehörden durch die Zusammenarbeit mit den Firmen besser verstehen können, wie KI-gestützte Geschäftsmodelle mit bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen interagieren. Dadurch können die Verantwortlichen in diesen Behörden ihr Wissen über Zukunftstechnologien erweitern und besser konzipierte Vorschriften für bestimmte Sektoren entwickeln.

Und so ist es kein Wunder, dass innovationsfreundliche Regierungen in Großbritannien, Norwegen und der Schweiz bereits an der Entwicklung solcher Programme arbeiten. Im Rahmen ihres Weißbuchs zur KI hat die britische Regierung mehrere Modelle für KI-Reallabore vorgelegt, die derzeit geprüft werden.

Auch die Europäische Kommission hat in ihrer KI-Verordnung die Einrichtung solcher Reallabore vorgeschlagen; im Juni 2022 wurde das erste KI-Reallabor der EU in Spanien eingerichtet. Die französische Datenschutzbehörde CNIL kündigte im Juli 2023 die Einrichtung eines KI-Labors für Innovationen im öffentlichen Sektor an, während das deutsche Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) derzeit die bundesweite Reallabore-Strategie überprüft. In den kommenden Monaten dürften weitere EU-Mitgliedstaaten diesem Beispiel folgen und KI-Labore auf nationaler Ebene einrichten.

Anreize schaffen

Das Innovationspotenzial solcher Labore kann jedoch nur ausgeschöpft werden, wenn sie richtig konzipiert sind – und genau hier weist der europäische Ansatz Mängel auf. Die EU-Strategie für KI-Reallabore birgt vier große Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt.

Erstens muss ein Reallabor regulatorische Erleichterungen, einen beschleunigten Registrierungsprozess oder andere Anreize bieten, um innovative Unternehmen anzulocken. Im Unterschied zu den erfolgreichen Reallaboren in Großbritannien, Singapur und den USA sehen die in der EU-Verordnung angedachten KI-Reallabore keine solchen Erleichterungen vor. Ohne derartige Maßnahmen werden die Anreize für die Teilnahme begrenzt sein, wie das bisher geringe Interesse des Privatsektors am spanischen KI-Reallabor verdeutlicht.

Zweitens scheint Innovation nicht die oberste Priorität des KI-Konzepts der EU zu sein. Im Gegensatz dazu hat die britische Regierung konkrete Maßnahmen vorgelegt, wie Reallabore Teil eines innovationsfreundlichen, flexiblen Ansatzes für KI sein können.

So könnten die in einem Reallabor gewonnenen regulatorischen Erkenntnisse zur Aktualisierung und Flexibilisierung des Rechtsrahmens genutzt werden. Deshalb sollte die europäische KI-Strategie Mechanismen einführen, mit deren Hilfe die EU-Kommission die Erkenntnisse aus diesen Reallaboren überprüfen und die KI-Vorschriften entsprechend anpassen kann.

Komplizierte Koordinierung

Drittens hat die Europäische Kommission vorgeschlagen, statt sektorspezifischer umfassende Reallabore auf nationaler Ebene zu schaffen. KI-Anwendungen können sich aber je nach Sektor stark unterscheiden. In Anbetracht dessen wäre die Einrichtung sektorspezifischer KI-Reallabore eine bessere Vorgehensweise, wie ich in meinen Stellungnahmen an die britische Regierung und das Weiße Haus ausgeführt habe.

Mit nur einem sektorübergreifenden Reallabor in jedem Land stünden die EU-Mitgliedstaaten zudem vor dem gewaltigen Problem der regulatorischen Koordinierung. Wie würden die jeweiligen Behörden bei der Regulierung etwa der KI-gestützten Produktion in verschiedenen Wirtschaftszweigen zusammenarbeiten? Ohne eine rechtliche Festlegung von Mechanismen zur regulatorischen Koordinierung dürften Europas Sandkastenspiele nicht so effektiv sein wie die in Großbritannien und anderswo.

Viertens sollten die KI-Labore auch für Unternehmen aus dem Nicht-EU-Ausland zugänglich sein, um ihr Innovationspotenzial zu maximieren. Vorschriften wie die im vergangenen Jahr vorgeschlagene Forderung, dass keine Daten, die innerhalb eines Reallabors gewonnen werden, in ein Drittland übertragen werden dürfen, könnten die Teilnahme ausländischer Start-ups und Unternehmen erheblich erschweren. Deshalb müssen die EU-Gesetzgeber verhindern, dass innovative Unternehmen aus Nicht-EU-Ländern durch schwerfällige Verordnungen davon abgehalten werden, an KI-Laboren teilzunehmen.

Ein Sprungbrett in den Binnenmarkt

Für ausländische Start-ups und Unternehmen, die versuchen, ihre Produkte mit dem KI-Act in Einklang zu bringen, dürften solche Reallabore verlockend sein. Die verschiedenen KI-Labore auf nationaler Ebene könnten für diese Firmen auch ein Sprungbrett für den Eintritt in den europäischen Binnenmarkt sein. Dies würde dazu beitragen, innovative Unternehmen anzuziehen – und das zu einer Zeit, in der EU-Länder wie Deutschland und Frankreich dringend verstärkte Investition und mehr KI-Fachkräfte benötigen.

Schließlich sind die regulatorischen Bemühungen der EU zu begrüßen, die weltweit erste umfassende KI-Gesetzgebung zu schaffen. Doch für einen flexibleren KI-Ansatz sind Überarbeitungen erforderlich. Insbesondere sollte die EU sorgfältiger abwägen, wie sich ihre vorgeschlagenen Vorschriften auf Innovation auswirken. Ein sorgfältig konzipiertes Reallabor wird Europa helfen, KI-Vorschriften zu aktualisieren und Innovation zu fördern. Als führendes Zentrum für Künstliche Intelligenz in der EU sollte Deutschland eine Vorreiterrolle einnehmen und sich für einen innovationsfreundlichen europäischen KI-Ansatz einsetzen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, online exklusiv, 17. Oktober 2023

Teilen

Ryan Nabil ist Direktor für Digitalpolitik und Senior Fellow bei der National Taxpayers Union Foundation, einer US-Denkfabrik in Washington, DC. Zuvor war er als leitender Redakteur beim Yale Journal of International Affairs und Fox Fellow am Institut d'Études Politiques de Paris (Sciences Po) tätig.