IP Special

27. Juni 2022

Säulen der Freiheit

Wie wichtig Gesetze zum Informationszugang für funktionierende Demokratien in Europa sind, wird fahrlässig unterschätzt.

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Bild: Ein Journalist meldet sich bei einer Pressekonferenz im EU-Parlament
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Welche Algorithmen werden in öffentlichen Körperschaften eingesetzt, um zu entscheiden, wer Energiesubventionen erhält? Wer waren die Experten in wissenschaftlichen Gremien, die europäische Regierungen während der Corona-Pandemie zu Rate zogen, wie lauteten ihre Empfehlungen? Was genau diskutierten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Pfizer-CEO Albert Bourla via SMS, an deren Ende der Kauf von 1,8 Milliarden Dosen eines Corona-Impfstoffs stand? Diese Fragen sind auf den ersten Blick ohne Beziehung zueinander. Doch alle wurden jüngst von Journalisten aus verschiedensten Teilen Europas im Rahmen des Gesetzes über die Informationsfreiheit gestellt – und danach von öffentlichen Stellen zurückgewiesen, wahlweise wegen des Schutzes der Privatsphäre oder angeblicher Gefährdung der nationalen Sicherheit.



Informationsfreiheitsgesetze, manchmal auch Gesetze über den Zugang zu Informationen oder Transparenzgesetze, erlauben es Bürgerinnen und Bürgern, öffentliche Stellen um die Herausgabe von Informationen zu ersuchen. Meist erlegen diese Gesetze der Regierung die Pflicht auf, Informationen von sich aus zu veröffentlichen (aktive Transparenz), etablieren ein Recht der Bürgerinnen und Bürger, die Herausgabe bestimmter Daten zu verlangen (reaktive Transparenz) und legen fest, welche Daten und welche staatlichen Stellen in den Geltungsbereich des Gesetzes fallen. Zumeist legen sie darüber hinaus auch fest, in welchen Zeitrahmen der Staat die Gesuche seiner Bürgerinnen und Bürger zu beantworten hat.

In der Praxis allerdings ist das nicht so einfach. Dazu kommen erhebliche Unterschiede zwischen den europäischen Staaten. Untersuchungen zeigen, dass europäische Regierungen auf ein und dieselbe Anfrage sehr unterschiedlich reagieren und ihre Bürgerinnen und Bürger dadurch sehr unterschiedliche Möglichkeiten erhalten, ihre Regierungen so zur Rechenschaft zu ziehen. Die Fristen unterscheiden sich enorm. Einige weigern sich sogar, Informationen herauszugeben, die im Nachbarland frei zugänglich sind.



Die jüngsten Medienanfragen zeigen, wie zeitaufwendig der Prozess zumeist ist und wie kompliziert es sein kann, zufriedenstellende Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Der Journalist Alexander Fanta von Netzpolitik.org bat vor einiger Zeit darum, die Nachrichten einzusehen, die von der Leyen und Pfizer-CEO Bourla über Impfdosen ausgetauscht hatten. Die New York Times hatte zuvor darüber berichtet. Die Kommission verweigerte die Herausgabe der Nachrichten, da sie „von ihrer Natur her kurzlebig“ seien und „prinzipiell keinerlei Informationen enthielten, die sich auf Politikvorschläge, Aktivitäten oder Entscheidungen der Kommission beziehen“. Somit seien sie „normalerweise keine Dokumente, die die Kriterien der Registrierung erfüllen“. Auf diese Weise schließe die Archivierungspolitik der Kommission Textnachrichten wie SMS ganz grundsätzlich aus. Der Fall wanderte zum Europäischen Ombudsmann, der der Kommission widersprach und klarstellte, dass Textnachrichten wie SMS sehr wohl unter das europäische Informationsfreiheitsgesetz fallen (Regulation 1049/2001) .



In Spanien illustrierte jüngst ein weiterer Fall die Notwendigkeit, den Umfang der Informationen und Dokumente, die unter Informationsfreiheitsgesetze fallen, so großzügig wie möglich zu definieren. Journalisten der Non-Profit-Plattform Civio fragten nach dem Quellcode eines Algorithmus, der Anträge auf Energiesubventionen bearbeitete. Ihnen waren potenzielle Fehler aufgefallen, die dazu führen könnten, dass berechtigte Anträge zurückgewiesen werden. Nachdem die Regierung sich weigerte, den Code herauszugeben, zogen die Journalisten erst vor den Transparenz-Rat und dann vor Gericht. Diese wiesen die Beschwerde ab: Der Algorithmus sei durch Regelungen zum geistigen Eigentum vor der Veröffentlichung geschützt, außerdem gefährde eine Herausgabe die öffentliche Sicherheit sowie die nationale Verteidigungsfähigkeit.



Covid-19 verschärfte das Problem

In Malta stellten Journalisten von „The Shift News“ unbequeme Fragen zu Verträgen und Zahlungen, die von öffentlichen Stellen an Saviour Balzan, den Mitinhaber von Malta Today, und seine Unternehmen gegangen waren. Mehrere staatliche Stellen verweigerten die Herausgabe der Informationen. Die Zeitung blieb hart, und der Informations- und Datenschutzbeauftragte der Insel ordnete die Weitergabe der Informationen an. Rund 30 Ministerien und andere staatliche Stellen weigerten sich weiterhin, die Informationen zu teilen und legten gegen die Entscheidung Berufung ein, was die Zeitung dazu zwang, sich auf riskante Gerichtsprozesse vorzubereiten – ein zeitintensives Unterfangen, das nur durch Crowdfunding und die Unterstützung der Leserschaft möglich war.



Schon diese wenigen Fälle zeigen, dass das Recht auf volle Informationsfreiheit noch lange nicht in allen Staaten Europas garantiert ist. Obwohl es oftmals ähnliche Gesetze gibt, unterscheidet sich die Praxis doch deutlich. Der „Media Pluralism Monitor“ des Centre for Media Pluralism and Media Freedom am European University Institute zeigt, dass es sich dabei keinesfalls um Einzelfälle handelt. Der Bericht listet zahlreiche Probleme auf, denen Journalisten immer wieder begegnen, wenn sie Anfragen unter dem Informationsfreiheitsgesetz stellen. Darunter sind lange Antwortfristen, demonstratives Schweigen, eine hohe Rate an Zurückweisungen und oft ineffektive Beschwerdestrukturen.



Hinzu kommt, dass die Covid-19-Pandemie viele dieser Probleme noch steigerte. In der frühen Phase der Pandemie verabschiedeten viele Staaten Notstandsgesetze, die entweder die Antwortfristen neuerlich deutlich in die Länge zogen (Ungarn) oder die vorgesehenen Rechte einfach für mehrere Wochen ganz aussetzten (Spanien, Italien). In der Praxis hatte das zur Folge, dass den Bürgerinnen und Bürgern relevante Informationen darüber, wie ihre Regierungen Entscheidungen trafen, die tief in ihre Grundrechte eingriffen, nicht zur Verfügung standen.



Der Zugang zu Informationen ist ein essenzielles Grundrecht, das die Partizipation an politischen Debatten im öffentlichen Raum überhaupt erst ermöglicht. Darum sollte dieses Grundrecht auch in unseren Diskussionen über Rechtsstaatlichkeit eine Rolle spielen. Tatsächlich wäre eine offene Debatte darüber sinnvoll, ob diese Art von Gesetzen nicht harmonisiert werden sollte, um in allen Mitgliedstaaten ein vergleichbares Niveau an Transparenz zu schaffen – ganz ähnlich wie es im Bereich des Datenschutzes durch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) gelungen ist.



Der Pluralismus und die Freiheit der Medien werden als wichtige Säulen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anerkannt. Es ist notwendig, dass Informationsfreiheit als eine der wichtigsten Säulen von Medien- und Pressefreiheit wahrgenommen wird. Wird dieses Recht nicht garantiert und geschützt, wird es Journalisten nicht mehr gelingen, alle notwendigen Daten und Informationen zusammenzustellen, um vertrauenswürdige Berichterstattung und eine effektive Kontrolle der Regierenden leisten zu können. Dabei ist genau das die Rolle der Medien in einer Demokratie.   

    

Aus dem Englischen von John-William Boer

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2022, S. 42-43

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Neus Vidal Martí arbeitet als Journalistin und Politikwissenschaftlerin am Media Freedom Monitoring Officer beim European Centre for Press and Media Freedom in Leipzig.