Russland 2004
Der russische Politologe wirft einen sarkastischen, bitterbösen Blick auf den „Putinismus“, unter
dessen Ägide das Jahr 2004 verspricht, für Russland zum „Gipfel des Triumphs“ zu werden.
Das Jahr 2004 wird in Russland zum Jahr des größten Erfolgs und Jubels, zum Gipfel des Triumphs und zum goldenen Jahr der Blüte des neuesten russischen politischen Ideologems – des Putinismus – werden. Der Putinismus stellt das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus der Banditenbürokraten in Russland dar; er ist die natürliche und folgerichtige Mutation seines Vorgängers, des Modells von Boris Jelzin.
Es ist ein Kapitalismus der Gendarmen und Bürokraten, mit einem Vater der Nation an der Spitze. Es bedeutet die Ablösung der Oligarchengeneration von Jelzins Gnaden durch so genannte patriotisch orientierte ehemalige Geheimdienstler, hauptsächlich aber durch einen riesigen kollektiven Oligarchen – die Bürokratie und ihre bewaffneten Sturmabteilungen, die Machtstrukturen (Silowiki). Nicht allein die ästhetische und intellektuelle Dürftigkeit dieses Ideologems und des Modells, das es hervorgebracht hat, ist erschütternd. Damit könnte man sich noch abfinden. Das Problem aber liegt darin, dass es absolut ineffizient ist und alle Krankheiten des russischen Kapitalismus – die Verschmelzung von Geld und Macht, ihre Kriminalisierung, die Institutionalisierung der Korruption – nicht kuriert, sondern verstärkt.
Ein solches Modell ist nicht dazu geeignet, nachhaltiges Wachstum zu gewährleisten, die ungeheure soziale Kluft zu überwinden und den Durchbruch in die postindustrielle Gesellschaft zu ermöglichen. Dieses Modell des peripheren Kapitalismus verurteilt Russland zum wirtschaftlichen Niedergang, zur Marginalisierung und letztlich zum Zerfall. Es wird nicht in der Lage sein, Jahrzehnte zu überdauern wie die Sowjetunion unter Josef Stalin und Leonid Breshnew. Vielleicht aber ist es Russland bestimmt, in dieser Putinschen Sackgasse seine letzten Reserven an geschichtlicher Zeit zu vergeuden.
Doch das Jahr 2004 wird, wie gesagt, zum Gipfel des armseligen Triumphs dieses Modells werden. Die nach wie vor (aber nur noch in diesem Jahr) hohen Erdölpreise werden die Illusion eines relativen wirtschaftlichen Wohlstands aufrechterhalten können.
Der triumphale Wahlsieg von Wladimir Wladimirowitsch Putin im März des Jahres 2004 über den Sargfabrikanten German Sterligow wird den technischen Abschluss der totalen Säuberung des russischen politischen Raumes bilden, wonach es in Russland nur noch einen Politiker geben wird.
Die heuchlerische „gelenkte Demokratie“ wird in das gesetzmäßige Stadium eines unverhohlen autoritären Regimes übergehen, das von punktuellen und selektiven Repressionen Gebrauch macht.
Inhaltlich wurde diese Säuberung eigentlich schon im Jahr 2003 abgeschlossen, dem Jahr, das ein geschichtliches Remake des Jahres des Großen Umbruchs darstellte. Das neue politische Zeitalter, das Ergebnis des liberalen Reformjahrzehnts in Russland, wurde durch das filmreife Remake des XVII. Parteitags der KPdSU (B) symbolisiert – den historischen stürmischen Beifall auf dem 13. Kongress des russischen Unternehmerverbands RSPP.
Auf diesem Kongress hatten sich doch die Stoßarbeiter unseres kapitalistischen Aufbaus zusammengefunden, genau jene freien, emanzipierten Menschen, die während des Reformjahrzehnts hätten heranwachsen müssen. Aber was wir sahen, war ein Haufen Sklaven, die vor Angst zitterten. Die zehn Jahre der liberalen Revolution haben keine freien Menschen hervorgebracht, sondern eine neue Generation von Sklaven. Und nunmehr, im Gegensatz zu den kommunistischen Sklaven, handelt es sich um Gesinde, dem das neu erworbene Eigentum eine zu große Bürde ist und das darum noch viel mehr katzbuckeln und noch viel niederträchtiger sein kann.
Im Jahr 2004 wird sich unsere Gesellschaft weiterhin politisch und geistig konsolidieren. Man wird vergleichbare Kongresse der Kulturschaffenden, Polittechnologen und Vertreter sonstiger ältester Gewerbe abhalten. Auf jedem wird eine neue Puffmutter Wolskaja verlegen dastehen und voll erstaunter Begeisterung immer wieder sagen: „Ich kann sie nicht aufhalten, Wladimir Wladimirowitsch.“
Und sie werden in der Tat nicht mehr aufzuhalten sein. Die Renaissance der Traditionen höchster Geistigkeit und Kirchlichkeit der russischen Gesellschaft wird dem Gottträgervolke nicht nur Liebe zum gesalbten Präsidenten, sondern noch höhere Formen genuinster Staatsbürgerlichkeit abverlangen. Die Leute werden meilenweit laufen und stundenlang in der Kälte ausharren, um sich während einer Fernsehübertragung bewegt nach dem Gesundheitszustand der geliebten First Bitch zu erkundigen, die am historischen Tage der Parlamentswahlen höchst staatstragend mehrere kräftiger Welpen zur Welt bringen wird. Wenn das nicht eine Verkörperung der These von Gleb Pawlowski, seines Zeichens „Spin Doctor“ bei Hofe, von der „mystischen Verbindung Wladimir Putins mit den Massen“ ist!
Die mystische Verbindung zwischen Putin und den Massen der Uniformträger wird sich von Zeit zu Zeit in TV-Sendungen manifestieren, in denen politisch beschlagene Dienstgrade dem Oberbefehlshaber über die unausweichliche Katastrophe der Amerikaner in und ihre schmachvolle Flucht aus Irak Bericht erstatten. Das außenpolitische Jahr wird durch die rachsüchtige Erwartung dieser Katastrophe und die frohlockende Schadenfreude der Fernsehnachrichten gekennzeichnet sein, in denen über die Verluste der Alliierten berichtet wird.
In der Tat werden es die Amerikaner im Jahr 2004 in Irak nicht leicht haben. Ihnen stehen noch hohe Verluste bevor. Aber sie werden bleiben. Das frondierende Europa wird, obwohl es Vieles von dem, was die amerikanische Regierung macht, nicht gutheißt, seine Unterstützung für sie verstärken, weil es sehr wohl weiß, welche Weichen dort jetzt gestellt werden. Langsam, aber stetig wird es in Irak wieder aufwärts gehen. Irak wird nicht das zentrale Thema des Präsidentschaftswahlkampfs in den USA sein. George W.Bush wird die Wahlen ohne größere Probleme gewinnen, weil er sich auf das rasante Wachstum der amerikanischen Wirtschaft im Jahr 2004 wird stützen können.
Die russische Diplomatie wird im Jahr 2004, während sie auf die Niederlage unseres „strategischen Partners im Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ wartet, tatkräftig Hand an den „Ausbau ihrer Positionen im postsowjetischen Raum“ legen. Die im neoimperialen Fieber vereinte politische Klasse Russlands von Dmitrij Rogosin bis Anatolij Tschubais wird mit wichtiger Miene in ihren Sandkastenimperien herumspielen.
Die Regierung des am 4. Januar 2004 als Wahlsieger hervorgegangenen georgischen Staatspräsidenten, Michail Saakaschwili, wird für russlandfeindlich erklärt werden, woraufhin alle traditionellen Mittel eingesetzt werden, um sie zu destabilisieren. Der ukrainische Präsidentschaftskandidat Viktor Juschtschenko wird ebenfalls für russlandfeindlich erklärt, wonach Moskau verzweifelte Versuche unternehmen wird, die verhindern sollen, dass er die Wahlen gewinnt. Aber es wird eben diese verlorene Liebesmüh’ sein, die Juschtschenko siegen lassen wird.
Die russischen Politiker werden nach wie vor nicht in der Lage sein, sich objektiv zu betrachten, um zu begreifen, dass ihre neoimperialen Reflexe und Kraftakte im gesamten postsowjetischen Raum einzig und allein Ablehnung hervorrufen können. Dabei würde es genügen, die Erfahrungen der „Wiedervereinigung“ mit Alexander Lukaschenko unter die Lupe zu nehmen, der die kollektiven Komplexe der gesamten russischen politischen Elite geschickt ausgenutzt und sie zehn Jahre lang an der Nase herumgeführt hat.
Gegen Ende des Jahres 2004 werden die Beziehungen der Russischen Föderation zu den USA, der EU und ihren nächsten Nachbarn so abkühlen, wie es während der gesamten postsowjetischen Zeit nicht der Fall war. Offiziell wird man das als Festigung der Staatlichkeit des sich von seinen Knien erhebenden Russlands bezeichnen.
Die Aufgabe, Portugal in 15 Jahren einzuholen, wird verworfen werden, weil unwürdig und ein Affront für ein großes Land, das sich in seinen Träumen als liberales Imperium sieht. Die stolzen russischen Achillesse werden das Unterfangen, die portugiesische Schildkröte einzuholen, aufgeben und ihr zeigen, was eine asymmetrische Herausforderung ist.
Zum Mann des Jahres 2004 wird der Fußballer Wadim Jewsejew gekürt werden. Bei der Abreise aus Portugal, wo sich die russische Nationalmannschaft bei der Europa-Meisterschaft im Fußball nicht mit Ruhm bekleckert haben wird, wird er, wie schon seinerzeit in Wales, den westlichen TV-Kameras sein Markenzeichen entgegen schmettern, nämlich den aus den Tiefen der geheimnisvollen russischen Seele kommenden Schrei „L.m.a.A.!!!“
Internationale Politik 3, März 2004, S. 73-76
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