IP

01. Okt. 2016

Rette sich, wer kann

Bessere Frühwarnung allein führt nicht zu besserer Krisenprävention

Trotz konzeptioneller und technischer Fortschritte bei der Informationsgewinnung ist es heute immer noch sehr schwierig, Erkenntnisse in politisches Handeln zu übersetzen, um Krisen zu bewältigen. Denn wo Unklarheit über Interessen und Ziele möglicher Handlungsoptionen herrscht, kann es keine konzertierte Aktion geben.

Nennen wir sie einfach Sarah Miller. Vor drei Jahren hat es sie in eine Friedensmission der Vereinten Nationen verschlagen. Draußen die Hitze und der Staub Afrikas, drinnen auf dem Bildschirm Tabellen mit wichtigen Geschehnissen „ihres“ Landes, denen sie je nach Bedeutung eine Farbe zugewiesen hat. Tausende zivile Mitarbeiter und Blauhelmsoldaten sollen einen fragilen Frieden überwachen.

Sarahs Aufgabe ist es, Informationen darüber zu sammeln, ob sich irgendwo etwas zusammenbraut: Sie ist für Frühwarnung in der Mission zuständig. In ihren Tabellen sind Indikatoren eingearbeitet wie Viehraub mit anschließender Vergeltung und fünf Toten, eine Demonstra­tion wegen nicht ausgezahlter Löhne oder dass der Posten des Provinzgouverneurs im Norden des Landes schon zum dritten Mal innerhalb eines Jahres neu besetzt wurde. Einmal in der Woche legt Sarah die Tabelle dem Senior Management der Mission vor. Selten kommt es zu intensiveren Diskussionen, eher schon zeigt man sich erstaunt, dass Rinder mehr Wert haben können als ein Menschenleben.

Dass die Lage eines Tages eskaliert, trifft Sarah dennoch unvorbereitet. Weil es zu ethnischen Säuberungen mit unzähligen Toten und Vertriebenen kommt, entscheidet der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, weitere Blauhelme zu entsenden. Die Diplomaten betonen zudem, wie wichtig eine effektive Früh­warnung in der Mission sei. Sarah bekommt in den folgenden Wochen weitere Kollegen zugeteilt. Gemeinsam versuchen sie noch besser zu erkennen, wo es zu weiteren Eskalationen im Land kommen kann. Denn weitere Überraschungen soll es nicht mehr geben.

Bessere Mechanismen zur Früh­warnung aufzubauen, war auch das Ziel, das sich der Review-Prozess 2014 des Auswärtigen Amtes gesetzt hat. Dabei versuchte das Amt, im Austausch mit Öffentlichkeit und Experten die Rolle Deutschlands in der Welt neu zu bestimmen. Aber wo stehen wir mehr als anderthalb Jahre nach dieser Absichtserklärung für ­effektivere Krisenprävention?

Die richtigen Schlüsse ziehen

Das Ziel, durch geeignete Methoden besser auf Krisen zu reagieren oder diesen vorzubeugen, ist nicht neu. Im Gesundheitsbereich bemühten sich Wissenschaftler schon in den zwanziger Jahren, basierend auf Klima­daten ein Frühwarnsystem für Malariaerkrankungen in Indien zu entwickeln. Für die Außen- und Sicherheitspolitik kam mit dem Ende des Kalten Krieges ein wichtiger Wendepunkt. Zwar endeten viele Stellvertreterkriege, aber Gewalt brach entlang neuer Konfliktlinien aus; das Feld der Beteiligten wurde unübersichtlicher. Gleichzeitig stieg das Interesse in Zivilgesellschaft und Politik, Gräueltaten und Vertreibung durch bessere Informationen zu verhindern. Das Versagen der internationalen Gemeinschaft beim Völkermord in Ruanda und auf dem Westlichen Balkan stieß wichtige Debatten und Ini­tiativen an. Vieles blieb bei Absichtserklärungen. Aber es gab auch ernsthafte Bemühungen, Frühwarn- und Reaktionsmechanismen in Behörden und in der Zivil­gesellschaft aufzubauen.

Viel Energie wurde in die Entwicklung quantitativer Methoden investiert. Wissenschaftler versuchten, empirische Daten, Konflikttheorien und Datenverarbeitung zu verbinden und gemeinsam weiterzuentwickeln. Parallel dazu wurde an der Erweiterung qualitativer Konfliktanalysemethoden gearbeitet, die auch Stakeholder- und Friedensanalysen einbezogen. Forschung zu fragiler Staatlichkeit kam bald nicht mehr ohne die Schlagworte human security, peacebuilding, governance, development performance und insecurity aus. Auf dieser Basis arbeiteten Forschungsinstitute, Denkfabriken und Nichtregierungsorganisationen Dutzende Indizes aus. Sie sollten dazu dienen, Entwicklungshilfe oder humanitäre Hilfe besser zu priorisieren. Organisationen aus der Entwicklungszusammenarbeit, der humanitären Hilfe und der Sicherheitspolitik zeigten sich sehr interessiert an diesen Methoden und trieben deren Entwicklung aktiv voran. So sind Frühwarnsysteme entstanden, die zumeist die qualitative und quantitative Auswertung verbinden. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede, je nachdem, ob sie „im Feld“ stehen oder in Ministerien oder Denkfabriken (meist west­-l­icher Hauptstädte). Auch die Handlungsempfehlungen sind dementsprechend unterschiedlich.

Trotz dieser methodischen und inhaltlichen Entwicklungen war der Putschversuch in der Türkei das jüngste Ereignis in einer Reihe von vielen, von denen man nicht nur im Auswärtigen Amt überrascht wurde. Dabei gibt es durch das eigene Netz von Botschaften, Geheimdienstinformationen und externer Beratung eher ein Übermaß denn einen Mangel an Informationen. Die Herausforderung ist, die richtigen Schlüsse aus der Fülle von Daten und Einschätzungen zu ziehen. So rechneten die Diplomaten weder mit dem Ausmaß an Gewalt im Zusammenhang mit den Wahlen in Kenia im Jahr 2007, noch konnten sie sich vorstellen, dass sich der interne Machtkampf im Südsudan 2013 zu einem mehrjährigen Konflikt mit ethnischen Säuberungen entwickelt. Nicht nur die deutsche, auch andere europäische Regierungen waren ratlos, als „grüne Männchen“ auf der Krim erschienen und Putin auch noch in Syrien intervenierte. Viele Diplomaten geben zu, in ihrem jeweiligen Einsatzland eher graduelle Veränderungen zu erwarten als einen fundamentalen Wandel. Länder wie der Libanon dagegen, denen seit Jahren der Kollaps vorausgesagt wird, schafften es zumindest bisher, die internen Spannungen nicht weiter eskalieren zu lassen. Selbst Deutschland ist fähig, seine Partner zu überraschen, so mit der Reaktion auf die Flüchtlinge im Sommer 2015.

Als Teil von Krisenprävention fordert Richard Gowan in dieser IP-Ausgabe (S. 46 ff.) richtigerweise ein besseres Verständnis von Vorgängen und Denkmustern bei Sicherheitskräften in fragilen Staaten. In einem Land wie Südsudan sind Armee und Rebellengruppen der stärkste sozialisierende Faktor; die Armee untersteht nur formell der Regierung. Vor der im Dezember 2013 ausgebrochenen Krise waren internationale Beobachter noch beeindruckt, dass Präsident Kiir zahlreiche Rebellengruppen in die Regierungsarmee Sudan People’s Liberation Army (SPLA) integriert hatte. Wenige Monate später galten aber gerade diese Integra­tion und die dadurch entstandenen Interessenkonflikte innerhalb der SPLA als Ursache für den landesweiten Zusammenbruch des wackeligen Friedens. Inzwischen gibt es Zehntausende von Toten, es kam zu Kriegsverbrechen, 1,6 Millionen Menschen sind im Land vertrieben und mehr als 700 000 in Nachbarländer geflüchtet.

Raus aus der Komfortzone

Ein besseres Verständnis davon, wie bewaffnete Konfliktparteien denken, welche informellen Machtstrukturen, politischen Absichten und wirtschaftlichen Interessen es gibt – ob nun in Burundi, Jemen, Ägypten oder der Türkei –, hilft nicht nur, auf mögliche Entwicklungen besser vorbereitet zu sein, sondern auch geeignetere Krisenvorbeugung zu leisten. So ist es in vielen fragilen Staaten nicht allein mit dem typischen Werkzeugkasten internationaler Sicherheits- und Entwaffnungsprogramme getan.

Ende Mai 2016 diskutierten Sachverständige, Abgeordnete und Regierungsvertreter in einer Anhörung des Bundestagsunterausschusses „Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln“ über neue Leitlinien der Bundesregierung für Krisenengagement und Friedensförderung. Diese Leitlinien sollen im Frühjahr 2017 den seit 2004 gültigen Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ ablösen. Ein Sachverständiger forderte, dass internationale Ausbildungsmissionen von Soldaten und Polizisten nicht nur militärische Fähigkeiten und Strukturen stärken sollten. Sie müssten auch den Blick der Sicherheitskräfte für andere Teile der Gesellschaft öffnen, Beziehungen zu zivilen Akteuren stärken und somit langfristig die gesellschaftliche ­Dominanz von ­Sicherheitskräften verringern.

Statt wie in Berlin von Informationen überschwemmt zu werden, verfügen UN-Mitarbeiter in Krisengebieten eher über zu wenig Informationen zu ihrem Einsatzgebiet. Statistisches Material, wenn überhaupt vorhanden, ist oft wenig belastbar. Gesprächspartner sind meist Regierungsmitarbeiter, deren Informationen vorgeprägt sind. Eine Zivilgesellschaft gibt es nicht in Ländern, in denen Menschen damit beschäftigt sind, um ihren Lebensunterhalt zu kämpfen oder sich vor politischer Verfolgung fürchten müssen. Zudem wird der analytische Blick getrübt durch fehlende Distanz zu „Bekannten“ in lokalen Verwaltungen, zu denen internationale Beobachter enge Kontakte pflegen. Diese erliegen dann oft der Illusion, dass ihre Stabilisierungs- und Aufbauagenda von den politischen Eliten des Landes geteilt wird. Nur weshalb findet sich „ihr“ Land dann ganz oben auf der Liste korrupter Länder?

Der Beitrag von Richard Gowan ist deshalb als Aufruf zu verstehen, ­diplomatische Kontakte breiter aufzustellen. Gowan hält es für unerlässlich, die Expertise über periphere ­Regionen und dortige Akteure zu stärken. Dann wäre es aber auch wichtig, das Gespräch eben nicht nur zu jenen zu suchen, die aus einem einzigen Grund die lokalen Machthaber sind: weil sie über Waffengewalt verfügen.

Aber auch die Analyse von isoliert betrachteten wirtschaftlichen Indikatoren eines Landes ist irreführend. In einer Analyse zum Arabischen Frühling vom Oktober 2015 konstatierte die Weltbank, dass man sich durch die hohen Wachstumsraten in vielen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zu falschen Schlussfolgerungen über die gesellschaftliche Entwicklung arabischer Länder habe verleiten lassen. Der hohe Grad an Unzufriedenheit mit der Lebensqualität durch fehlende Jobs, schlechte öffentliche Dienstleistungen und verantwortungslos Regierende wurde schlicht unterbewertet. Die Schlussfolgerung kann nur sein: raus aus der Komfortzone klimatisierter Büros und Hotellobbys und hin zum Viehmarkt an der Stadtgrenze.

Inzwischen setzen internationale Organisationen auch auf technische Aufklärung zur Informationsgewinnung. So nutzen die Special Monitoring Mission der OSZE in der Ukraine oder die UN Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali (MINUSMA) Drohnen, um Waffenstillstandsabkommen zu überwachen oder Bedrohungen für die Bevölkerung und die eigene Mission zu erkennen. Die militärische Führung von MINUSMA setzt zudem auf ein effizienteres Informationsmanagement in der derzeit weltweit gefährlichsten UN-Mission. Die All Source Information Fusion Unit soll Informationsmonopole von Unterstrukturen überwinden und eine gemeinsame Nutzung von Informationen organisationsweit ermöglichen.

Richard Gowan fordert mit seinem Konzept der „framework diplomacy“ zwar die konzertierte Einbindung regional relevanter Akteure im Fall einer Krise. Aber wie steht es um die Koordinierung genau dieser Aktivitäten in Berlin oder im Hauptquartier einer internationalen Mission im Krisengebiet? Trotz der konzeptionellen und technischen Fortschritte steht Frühwarnung bei der Umsetzung der Erkenntnisse in politisches Handeln vor ähnlichen Herausforderungen wie vor 20 Jahren. Bessere Frühwarnmethoden allein machen noch keine bessere Krisenpräven­tion. Wo Unklarheit über Interessen und Ziele möglicher Handlungsoptionen herrscht, kann es keine konzertierte Aktion geben. Selbst wenn im Auswärtigen Amt künftig alle Zeichen auf eine Hungersnot, politische Unruhen oder den Zusammenbruch von Finanzmärkten im Land X hindeuten, ist nicht gesichert, dass das Amt oder andere Ressorts Gelder bereitstellen, politische Vermittler umgehend in die betroffene Region geschickt werden oder die Bundestagsmitglieder von der Notwendigkeit einer Intervention der Bundeswehr überzeugt sind.

Langfristig und ressortübergreifend

In der einschlägigen Literatur wird immer wieder betont, wie schwierig es ist, Frühwarnung in politisches Handeln zu übertragen. Es fehle häufig an politischem Willen; auch müssten Hindernisse auf persönlicher, institutioneller und politischer Ebene überwunden werden. Das verdeutlicht, wie mühsam ein solches Unterfangen ist. Im Alltagsgeschäft steht Frühwarnung zwar in Konkurrenz zu anderen Informationskanälen und Instrumenten operativer und struktureller Krisenprävention beziehungsweise des Krisenmanagements. Sie kann aber Entscheidungsträgern Fakten an die Hand geben, um mittel- und langfristig Strategien sowie Budget- und Personalplanungen zu beeinflussen. Frühwarnung wirkt, wenn sie langfristig und kontinuierlich ­Lageeinschätzungen und Handlungsoptionen mit relevanten Akteuren diskutiert, damit im Fall einer Eskalation alle mit der Situation und möglichen Schritten vertraut sind und dadurch Entscheidungen zeitnah getroffen werden können.

Ressortübergreifende Kooperation ist mühselig und Verwaltungen tun sich mit Veränderungen schwer. Aber mehr als ein Jahr nach dem Aufbau der Abteilung S „Krisenprävention, Stabilisierung und Konfliktnachsorge“ im Auswärtigen Amt ist ein guter Zeitpunkt, um ressortübergreifende Zusammenarbeit nachzu­justieren und zu intensivieren. Die Steuerungsgruppe muss ihrem Namen gerecht werden und nicht nur Informationen austauschen. Die Erarbeitung der neuen Leitlinien Krisen­engagement und Friedensförderung kann ein Vehikel sein, um gemeinsame Planungsprozesse und Ziele für Handlungsschritte aus Sicht der verschiedenen Ressorts zu entwickeln.

Das Unmögliche denken

Szenarienplanung hilft, Unerwartetes durchzuspielen. Solche Planungen sollten nicht nur Mitarbeiter aus den Zentralen, sondern auch aus dem Feld einbeziehen, um deren Gespür für wichtige Entwicklungen vor Ort zu stärken. Deutsche Behörden sollten sich regelmäßig mit ihren europäischen Partnern, EU-Institutionen und internationalen Organisationen über Frühwarnmethodik, Erkenntnisse und jeweilige Stärken bei Reaktionskapazitäten austauschen. Analog muss der Austausch mit zivilgesellschaftlichen Partnern ausgebaut werden. Die Erarbeitung der Leitlinien Krisenengagement und Friedensförderung ist die Chance, um aus den Erfahrungen des Beirats Zivile Krisenprävention die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Das PeaceLab 2016 ist in diesem Zusammenhang ein interessantes Forum zum gegenseitigen Austausch.

Viele der derzeitigen Konflikte zeigen die Grenzen unserer eigenen Mittel auf. So fließen seit Jahren Milliarden Euro in den Aufbau regionaler ­Sicherheitsstrukturen in Afrika, um zivile und militärische Fähigkeiten im Krisenmanagement vor Ort zu stärken. Soziale Spannungen, Epidemien wie Ebola oder Hungersnöte müssen vor Ort rechtzeitig erkannt werden. Deshalb muss Deutschland Behörden und zivilgesellschaftliche Initiativen in diesen Ländern unterstützen, um lokale Frühwarnsysteme und Reaktionsfähigkeiten auszubauen.

Und wie ging es mit unserer ­Sarah Miller weiter? Sie und ihre Kollegen wurden mit der Zeit immer frustrierter, trotz aller schönen Worte zur Frühwarnung im UN-Mandat ihrer Mission. Die Leitung verlor das Interesse, durch Sarahs Tabellen regelmäßig die eigenen Grenzen aufgezeigt zu bekommen. Denn oft konnten eigene Kräfte aufgrund fehlender Hubschrauberkapazitäten nicht in Einsätze geflogen werden oder die schlechte Ausbildung der Blauhelme führte den Auftrag zum Schutz der Bevölkerung ad absurdum. Intern betonte die Mission, wie wichtig Erwartungsmanagement gegenüber der lokalen Bevölkerung aufgrund der ungenügenden Kapazitäten sei. Das war als eine Art Frühwarnung zu verstehen: Zählt nicht auf uns! Das aber sollte nicht Maßstab deutscher Krisenpräventionspolitik sein.

Sebastian Gräfe ist Associate Fellow der DGAP und arbeitet als Analyst am Zentrum Zivil-Militärische Zusammenarbeit in Nienburg/W. Der Artikel gibt seine persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2016, S. 52-57

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