Ressourcen-Fluch
Warum der neue Gas-Boom den Sprung ins solare Zeitalter gefährdet
Immer neue Öl- und Gasfunde mittels immer neuer Fördertechniken scheinen die These von der Endlichkeit der Ressourcen ad absurdum zu führen. Doch zu welchem Preis? Auf absehbare Zeit liegen die kritischen Grenzen des Wachstums nicht in einer Erschöpfung der Energiequellen und Rohstoffe – sondern in der Überlastung zentraler Ökosysteme.
Seit Denis Meadows und sein Autorenteam 1972 ihre berühmte Studie „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichten, ist die These von der bevorstehenden Erschöpfung der Rohstoffe zu einer scheinbar unumstößlichen Gewissheit geworden. Dass die bekannten Reserven der allermeisten Industrierohstoffe heute höher liegen als vor 40 Jahren, erscheint nur als zeitliche Verzögerung einer finalen Mangelkrise.
Ein genauerer Blick auf die Energieversorgung, den Blutkreislauf der Industriegesellschaft, zeigt jedoch ein anderes Bild. Anfang der siebziger Jahre lagen die erfassten Ölreserven bei rund 600 Milliarden Barrel. Knapp 40 Jahre später belief sich die seither geförderte Menge bereits auf 760 Milliarden Barrel Öl; die globalen Reserven lagen bei 1,2 Billionen Barrel. Mit dem steigenden Ölverbrauch vermehrten sich zugleich die verfügbaren Reserven.
Wie kommt dieses Paradox zustande? Durch neue Fördertechniken, eine effektivere Ausbeutung von Ölfeldern, die Entdeckung neuer Vorkommen, die Erschließung bisher unzugänglicher Gebiete (Tiefsee, Arktis) und die Nutzung unkonventioneller Reserven (Teere und Ölsände). Bei steigenden Preisen lohnt sich auch die Ölgewinnung an entlegenen Standorten und mit aufwändigen Verfahren. Aus ökologischer Sicht ist das eine schlechte Nachricht. Denn mit dem Ausweichen auf unkonventionelle Vorkommen steigen Energieaufwand und Emissionen ebenso wie die zerstörerischen Auswirkungen auf empfindliche Ökosysteme. Gleichzeitig führen steigende Preise zu Effizienzgewinnen und damit zu einer geringeren Ölabhängigkeit unserer Volkswirtschaft. Dies ist in den hochentwickelten Industriestaaten seit dem Jahr 2005 bereits zu beobachten: Das Wirtschaftswachstum koppelt sich vom Ölverbrauch ab.
Die energiepolitischen Realitäten Amerikas und Europas driften auseinander. Die USA, jahrzehntelang von Ölimporten abhängig wie der Junkie vom Dealer, werden wieder zu einer Petro-Großmacht. Trotz der verheerenden Ölpest, die sich 2010 im Golf von Mexico abspielte, werden immer neue Lizenzen zur Ölförderung vergeben. Gleichzeitig erleben die Vereinigten Staaten einen regelrechten Erdgas-Boom. Insbesondere ihre Vorräte an Schiefergas sind gewaltig. Mit der Fracking-Technik steht ein Verfahren zur Verfügung, das ihre Ausbeutung wirtschaftlich macht.
Laut einer Studie der Harvard Business School wird die Ölproduktion in den USA bis zum Jahr 2020 von derzeit acht auf 11,6 Millionen Barrel pro Tag steigen. Tritt das ein, verdrängen sie Russland von Rang zwei der Ölförderländer, nur Saudi-Arabien käme noch auf eine höhere Förderung. In der Folge verringert sich die Abhängigkeit der USA von Importen. Im Jahr 2005 wurden 60 Prozent des Ölbedarfs importiert, 2012 waren es nur noch 42 Prozent, mit stark fallender Tendenz.
Revolution mit Schattenseiten
Bei Umweltschützern stößt Fracking auf massive Kritik. Befürchtet wird das Einsickern chemischer Substanzen in grundwasserführende Schichten, darunter krebserregende Substanzen wie Benzol. Auch die Klimabilanz von Schiefergas ist zweifelhaft. Die Förderung ist energieintensiv und kann zur Freisetzung von Methan führen. Außerdem ist Fracking mit einem gewaltigen Wasserbedarf verbunden. Das könnte der Euphorie über den neuen Gas-Boom einen heftigen Dämpfer versetzen. Gerade im mittleren Westen und den südlichen Regionen der USA wird Wasserknappheit zu einem akuten Problem, wie zuletzt in der großen Dürre des Sommers 2012 sichtbar wurde.
Im Gegensatz zur überwiegend kritischen Öffentlichkeit in Europa stehen die lokalen Proteste gegen Fracking in Amerika bisher auf verlorenem Posten. Zu verlockend scheint die Aussicht auf einen neuen Öl- und Gas-Boom. Die USA fördern inzwischen mehr Erdgas als Russland. Der Gaspreis hat sich seit 2004 glatt halbiert. Aktuell zahlen industrielle Großverbraucher in den USA zwei Drittel weniger als in Deutschland, beim Strom liegt die Ersparnis bei 40 Prozent. Das macht Amerika wieder als Industriestandort interessant, insbesondere für energieintensive Branchen wie die Chemie- oder Aluminiumproduktion.
In einigen Jahren werden die USA zum Nettoexporteur von Erdgas werden. Wenn der Ausbau des Panama-Kanals abgeschlossen sein wird, ist für Flüssiggastanker der Weg nach Japan und China frei. Nimmt man Kanada hinzu, das offenbar entschlossen ist, trotz aller umweltpolitischen Einwände die Ausbeutung seiner Teersände voranzutreiben, wird Nordamerika auch seinen Ölbedarf aus eigenen Quellen decken können. Das ist eine geopolitische Revolution. Manche Stimmen sprechen sogar von einer neuen Ära des Öl-Überflusses, in der die OPEC ihre Macht verliert.
Die Kehrseite des neuen Petro-Booms ist allerdings, dass Kosten und Risiken steigen. Die Zeiten billigen Öls sind vorbei. Während die Erschließung neuer Quellen immer kostspieliger wird, gehen die günstig abzubauenden Vorkommen zurück. Im Unterschied zu den USA nimmt für Europa die Versorgungssicherheit ab. Die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Öls stammt aus der Nordsee. Dort geht die Förderung kontinuierlich zurück. Ihren Höchststand erreichte sie 1999 mit rund sechs Millionen Barrel pro Tag. Prognosen gehen davon aus, dass dieser Wert bis zum Jahr 2020 auf zwei Millionen sinken wird. Damit steigt die Abhängigkeit von krisenhaften Förderländern. Niemand kann heute voraussagen, wie es in zehn Jahren um die Stabilität der Golf-Region bestellt sein wird. Aber auch ohne akute Versorgungsengpässe bleiben genügend ökologische, wirtschaftliche und politische Gründe, um den Übergang von fossilen zu regenerativen Energien voranzutreiben.
Drill, Baby, drill!
Wenn Rohöl teurer wird, steigt die Wettbewerbsfähigkeit alternativer Brennstoffe. Dazu zählt in erster Linie Erdgas. Obwohl der Erdgas-Verbrauch im vergangenen Jahrzehnt um 31 Prozent gestiegen ist, liegen die nachgewiesenen Reserven derzeit fast 60 Prozent über dem Stand von 1991, und ständig werden neue Vorkommen entdeckt. Bei der Stromerzeugung hat Erdgas den Vorteil, dass es im Vergleich zur Kohle nur etwa die Hälfte an Kohlendioxid abgibt. Gaskraftwerke können gut mit erneuerbaren Energien kombiniert werden, weil sich ihr Betrieb flexibel steuern lässt. Schließlich kann Erdgas auch als Grundstoff in der Chemieindustrie oder als Kraftstoff für Fahrzeuge eingesetzt werden.
Der neue Gasboom hat aber auch eine gefährliche Seite. Vor allem die USA sind in Versuchung, in eine Erdgas-Falle zu stolpern. Der aktuelle Preis in Amerika ist derart niedrig, dass Energieeffizienz und erneuerbare Energien völlig ins Hintertreffen zu geraten drohen. Die erratische staatliche Förderpolitik für erneuerbare Energien trägt das ihre zu diesem Debakel bei. Statt auf Effizienz und regenerative Energien zu setzen, ist die Versuchung groß, lediglich die Gas- und Ölförderung hochzufahren: Drill, Baby, drill! (so ein Slogan der US-Republikaner im Wahlkampf 2008).
Man kann nur hoffen, dass Präsident Obama seine Ankündigungen in die Tat umsetzt und künftig eine ambitioniertere Energie- und Klimapolitik verfolgt. Sonst bleibt die Aussicht auf ein globales Klimaabkommen trübe. Und Amerika verpasst erneut die Chance, sich an die Spitze der grünen Energierevolution zu setzen, obwohl das Land alle Voraussetzungen dafür mitbringt: Hightech, Wagniskapital, Unternehmergeist und reichlich Sonne und Wind.
Auch wenn eine physische Erschöpfung der Ölvorräte nicht absehbar ist, wird Erdöl seine dominante Rolle in der weltweiten Energieversorgung verlieren. Erneuerbare Energien und Gas werden an Bedeutung gewinnen. Im Transportsektor wird Öl nach und nach durch Elektrofahrzeuge, Gas und Agrotreibstoffe der zweiten Generation verdrängt werden. Aus der Gebäudeheizung und Stromproduktion wird es verschwinden. Seine Nutzung sollte auf Bereiche begrenzt bleiben, in denen die höchste Wertschöpfung erzielt wird und ein „feed stock change“ (also ein Wechsel der Rohstoffbasis) längere Zeiträume erfordert. Das gilt besonders für die Chemie- und Pharmaindustrie.
Sowenig die Steinzeit aufgrund eines Mangels an Steinen zu Ende ging, wird das Ölzeitalter aufgrund des Versiegens der Ölquellen enden. Das gilt erst recht für die Verwendung von Kohle, die noch in riesigen Mengen verfügbar ist. Wir werden aufhören, fossile Energiequellen zu nutzen, weil wir künftig über umweltfreundlichere und kostengünstigere Alternativen verfügen.
Vergleichbares gilt für andere Schmierstoffe des Industriesystems, auch für die so genannten Seltenen Erden, die so selten gar nicht sind: Die globalen Reserven werden auf bis zu 99 Millionen Tonnen geschätzt – ein reichlicher Vorrat bei einem jährlichen Verbrauch von aktuell rund 140 000 Tonnen, selbst wenn die Nachfrage weiter anziehen wird. Engpässe bei einigen dieser Rohstoffe gehen nicht auf ihre physische Erschöpfung, sondern auf die restriktive Exportpolitik Chinas zurück. Peking kontrolliert zwar gegenwärtig 95 Prozent des Weltmarkts für Seltene Erden, verfügt aber nur über rund ein Viertel der bekannten Reserven.
Wachsende Nachfrage und steigende Preise werden zur Reaktivierung alter und zur Inbetriebnahme neuer Abbaustätten führen. Gleichzeitig wird – wie bei anderen Metallen – die Recyclingquote steigen, mit denen die natürlichen Vorräte gestreckt werden können. Statt massenhaft Elektroschrott aus Europa nach Afrika zu verschiffen, wo er ohne Rücksicht auf Mensch und Natur ausgeschlachtet wird, müssen die enthaltenen Wertstoffe vor Ort wiederaufbereitet werden.
Fazit: Auf absehbare Zeit liegen die kritischen Grenzen des Wachstums nicht in einer Erschöpfung der Energiequellen und Rohstoffe, sondern in der Überlastung zentraler Ökosysteme: Klima, Böden, Meere und Grundwasser. Das drängendste Problem ist die Anreicherung von Treibhausgasen in der Atmosphäre. Denn der Klimawandel hat wiederum negative Rückwirkungen auf alle anderen tragenden Ökosysteme.
Angesichts der Bedürfnisse einer wachsenden Weltbevölkerung liegt der Ausweg aus dem ökologischen Dilemma nicht in einer Reduktion von Produktion und Konsum. Nicht ob die Weltwirtschaft wächst, ist die entscheidende Frage der kommenden Jahrzehnte, sondern wie schnell ihre Dekarbonisierung gelingt. Es geht um nichts weniger als den großen Sprung aus der fossilen in eine solare Zivilisation. Sie basiert auf zwei zentralen Voraussetzungen. Erstens einer systematischen Steigerung der Ressourceneffizienz: mehr Wohlstand aus weniger Energie, Rohstoffen und Fläche. Zweitens auf der sukzessiven Substitution von Kohle, Öl und Gas durch erneuerbare Energien. Deshalb ist die Energiewende in Deutschland ein Pilotprojekt mit weltweiter Signalwirkung. Sie ist zum Erfolg verdammt – und bietet uns die Chance, zum Zentrum einer neuen industriellen Revolution zu werden.
Ralf Fücks ist Vorsitzender der Heinrich-Böll-Stiftung. Der Artikel basiert auf einem Kapitel seines Buches „Intelligent wachsen. Die grüne Revolution“, das soeben bei Hanser erschienen ist.
Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 36-41