Titelthema

02. Sep 2024

Reich der Mittler: China und der Globale Süden

Die Selbstinszenierung Chinas als kommende Weltmacht und Anwalt der vom Norden Unterdrückten öffnet dem Land viele Türen im Globalen Süden. Doch mit einem Stagnieren der Wirtschaftsleistung könnten die Stimmen derer lauter werden, die 
Peking etwas nüchterner sehen: als einen Partner, der viel verspricht, aber wenig hält.

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Bild: Bahnhof in Kenia
Großer Bahnhof: Im Rahmen von Chinas Seidenstraßen-Initiative wurden einige Mega-Infrastrukturprojekte ins Werk gesetzt, darunter Kenias Normalspurbahn von Nairobi nach Mombasa (Bild: Mombasa Terminus).
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Supermacht und Teil des Globalen Südens: China nimmt auf der internationalen Bühne eine bemerkenswerte Doppelrolle ein. In seinen Beziehungen zu Entwicklungsländern ist das für das Land von großem Vorteil, denn hier wirken sich beide Faktoren positiv aus. Zum einen kann Chinas Regierung auf den Erfolg verweisen, in den vergangenen Jahrzehnten Hunderten Millionen Menschen aus der Armut verholfen und ein einzigartiges Wirtschaftswachstum erreicht zu haben. Zum anderen kann sich das Land jederzeit auf seine postkoloniale Identität und auf eine antiimperiale Geschichte berufen, die es mit dem Rest des Globalen Südens teilt. 

Durch diese Kombination kann sich Peking gegenüber Ländern des Globalen Südens nicht nur als leuchtendes Beispiel für wirtschaftliche und ­soziale Entwicklung, sondern auch als Vorbild für eine ­politische Öffnung mit Augenmaß positionieren. 


Praktikable Alternative

Dass Chinas Wirtschaftswachstum im Globalen Süden seit Jahrzehnten bewundert wird und man seinen Aufstieg zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt – bei gleichzeitiger Ablehnung neoliberaler und demokratischer Traditionen – feiert, hat aber auch mit der Wahrnehmung des Westens zu tun. Die Strukturanpassungsprogramme, die im Globalen Süden maßgeblich von Weltbank und Internationalem Währungsfonds durchgesetzt wurden, haben den USA und anderen westlichen Beteiligten einen erheblichen Imageschaden beschert. Auch das hat zu der wachsenden Begeisterung für Chinas alternativen Entwicklungsweg beigetragen. 

Gerade für Regierungen, die sich nicht von den Bretton-Woods-Institutionen abhängig machen wollen und demokratische Normen ablehnen, ist das Beispiel China interessant. Pekings Mantra „Recht auf Entwicklung“, bei dem Wirtschaftswachstum mehr zählt als politische Freiheit, ist für sie eine praktikable Alternative zu politischem Wandel und neoliberalen Reformen. 


Tiefe Wurzeln

Neben seiner Doppelrolle als Supermacht und Entwicklungsland profitiert China stark von der jahrzehntelangen Geschichte seiner Beziehungen zum Globalen Süden. Denn während das chinesische Engagement in Afrika hierzulande oft als Phänomen der vergangenen 20 Jahre diskutiert wird, haben die Beziehungen zwischen China und dem Kontinent tatsächlich viel tiefere Wurzeln und gehen mindestens bis zur ersten asiatisch-afrikanischen Konferenz in Bandung im Jahr 1955 zurück. 

Damals war Chinas Außenpolitik von ideologischen Interessen getrieben – insbesondere vom Ziel, im In- und Ausland für die Legitimität der KPCh zu werben. In den 1980er Jahren durchlief China dann seinen eigenen wirtschaftlichen und politischen Öffnungsprozess; Ideologie wurde mehr und mehr von Marktinteressen und geopolitischen Erwägungen abgelöst. Heute sind die Beziehungen zwischen China und den Staaten des Globalen Südens ebenso von ideologischen wie von marktwirtschaftlichen Interessen geprägt.

Da der Globale Süden, wie oft zu Recht bemerkt wird, kein homogenes Gebilde ist, gestalten sich die Beziehungen zu und die Wahrnehmung von China ganz unterschiedlich, je nachdem, in welcher Region man sich bewegt – etwa, was die Beurteilung der Ambitionen Pekings im Südchinesischen Meer angeht.

In Afrika genießt China einen einzigartigen historischen Vorteil, den es geschickt in sein außenpolitisches Narrativ integriert: Da Peking sich in der Vergangenheit mit den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen solidarisiert hat, werden Projekte wie der Bau der Tansania-Sambia-­Eisenbahn oft als Symbole einer zeitlosen Freundschaft zwischen China und Afrika angeführt. Nicht zufällig führt die erste Auslandsreise eines jeden chinesischen Außenministers seit 34 Jahren dorthin. Eine Tradition, die in diesem Januar von Amtsinhaber Wang Yi fortgesetzt wurde, der Ägypten, Tunesien, Togo und die Elfenbeinküste besuchte. In Afrika werden diese regelmäßigen Stippvisiten als Zeichen der guten und vertrauensvollen Beziehungen zu Peking gewertet. 


Sprache des Antikolonialismus

Auch ansonsten sind Solidaritätsnarrative für Chinas Außenpolitik im Globalen Süden von entscheidender Bedeutung. Nicht zuletzt deshalb bedienen sich Pekings Vertreter immer wieder der Sprache des Antiimperialismus und des Antikolonialismus – und das nicht nur im Kontext der Vergangenheit, sondern auch mit Blick auf die Gegenwart. So ist es kein Zufall, dass diese Rhetorik auch im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina wieder verstärkt aufkommt.

Dass China sich in der 
Vergangenheit mit Afrikas Unabhängigkeitsbewegungen solidarisiert hat, kommt ihm heute zugute

So haben Chinas Vertreter die jüngsten UN-Abstimmungen, bei denen die Vereinigten Staaten ihr Veto gegen Waffen­stillstandsforderungen eingelegt haben, genutzt und Grundsatzkritik an der internationalen Ordnung geübt, um die eigenen Forderungen nach einer Reform der internationalen Institutionen zu ­unterstreichen. 


Effizient, schnell, günstig

Um zu verdeutlichen, wie sich Chinas Präsenz in Afrika entwickelt, lohnt der Blick auf das Beispiel Infrastruktur: Nach Angaben der Afrikanischen Entwicklungsbank leidet der afrikanische Kontinent unter einer akuten Infrastrukturlücke und wird in den kommenden zehn Jahren zwischen 130 und 170 Milliarden US-Dollar jährlich benötigen, um sie zu schließen. Derzeit fehlen dazu je nach Schätzung zwischen 68 und 108 Milliarden Dollar. 

Im Rahmen der chinesischen Seidenstraßen-Initiative wurden allerdings bereits mehrere Mega-Infrastrukturprojekte abgeschlossen, darunter Kenias Normalspurbahn von Nairobi nach Mombasa – Kostenpunkt: fast fünf Milliarden Dollar. Schätzungen zufolge haben zwischen 2007 und 2020 allein zwei chinesische Entwicklungsbanken rund 23 Milliarden Dollar in Infrastrukturprojekte in Afrika investiert. 

Chinesische Baukonzerne genießen in Afrika und anderswo im Globalen Süden den Ruf, äußert effizient zu sein, Projekte im Schnelldurchlauf fertigzustellen und günstige Finanzierungsangebote zu machen. Nicht umsonst wurden chinesische Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten am Bau und an der Renovierung von mehr als einem Dutzend Parlamentsgebäuden und anderen symbolträchtigen Bauprojekten beteiligt – darunter der Hauptsitz der Afrikanischen Union in Addis Abeba und Ägyptens neue Verwaltungshauptstadt „New Administrative Capital“, eine Retortenstadt vor den Toren Kairos. Aufträge wie dieser verleihen chinesischen Bauunternehmen Sichtbarkeit und verschaffen der chinesischen Regierung einen strategischen Zugang zu politischem Kapital in Afrika. 

Und dass chinesische Unternehmen in der Informations- und Kommunikationstechnologie vorne mitspielen, ist nichts Neues; seit der Corona-Pandemie haben sie ihre Geschäfte auf den gesamten Globalen Süden ausgeweitet. Digitale Infrastrukturprojekte wie der Ausbau von 4G-Netzen sowie der Bau von Rechenzentren für die Datenspeicherung haben Firmen wie Huawei und ZTE zu absoluten Spitzenreitern auf diesem Gebiet gemacht. 


Guter Ruf in Gefahr

Ungeachtet all der Vorteile, die China in seinen Beziehungen zum Globalen Süden hat, ist es alles andere als sicher, dass Peking diesen Einfluss dauerhaft wird ausüben können. So könnte eine Verlangsamung des chinesischen Wirtschaftswachstums dazu führen, dass Chinas Ruf als wichtigste aufstrebende Macht im Globalen Süden erheblich leidet. Einiges von dem, was Peking dort erreicht hat – von Infrastrukturinvestitionen über Gipfeldiplomatie bis hin zu Stipendienprogrammen für Studierende – wurde von der atemberaubenden Entwicklung der chinesischen Wirtschaft befeuert und getragen. 

Zuletzt gab es immer 
wieder Bedenken, was die Nachhaltigkeit von Seiden­straßen-Projekten im ­Globalen Süden angeht

Angesichts von Prognosen, die eine Verlangsamung des chinesischen Wirtschaftswachstums und damit auch einen Rückgang der Auslandsinvestitionen vorhersagen, richten sich derzeit alle Augen auf das nächste Forum für die Zusammenarbeit zwischen China und Afrika (Forum on China–Africa Cooperation, FOCAC), das Anfang September in Peking stattfinden soll. Sollte es tatsächlich Anzeichen dafür geben, dass der Geldfluss in Richtung Afrika schwächer wird, dann könnte das in afrikanischen Staaten Zweifel an Chinas dauerhaftem wirtschaftlichem Erfolg wecken. Zudem würde es jenen Kritikern in die Karten spielen, die seit geraumer Zeit argumentieren, dass China in der Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden gerne viel verspricht, aber nur wenige seiner Versprechen einhält. 


Mitentscheider statt Zulieferer

Darüber hinaus gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Bedenken, was die Nachhaltigkeit von Seidenstraßen-Projekten im Globalen Süden angeht. Darunter sind einige Projekte, die im Westen als vorbildliche strategische Vorhaben gelten, in Afrika allerdings durchaus kritisch beäugt werden: etwa der Bau oder Ausbau von Häfen oder das Engagement in der Gewinnung von Bodenschätzen. 

Denn für afrikanische Staaten und Gesellschaften können Partnerschaften rund um strategische Investitionen und wichtige Rohstoffe gleichzeitig Segen und Fluch sein. Auch deshalb betonen afrikanische Staats- und Regierungschefs sowie Regierungsvertreter oft, dass sie mit Blick auf Wirtschaftstrends wie die globale Energiewende nicht nur als Rohstoffzulieferer verstanden werden wollen, sondern als Protagonisten oder Mitentscheider.

Denn entwickelt Afrika nicht die Fähigkeit, Metalle vor Ort zu veredeln und seine riesigen Ressourcenvorräte zu nutzen, um ein wichtiger Teil der Wertschöpfungskette für Elektrofahrzeugbatterien zu werden, dann sind die afrikanischen Volkswirtschaften in Zukunft noch stärker auf den Export von vergleichsweise billigen Rohstoffen angewiesen. 

Der Globale Süden kann bei der Energiewende eine entscheidende Rolle spielen, wenn seine Länder ihre Stärken ausreizen und im Rahmen der Seidenstraßen-Initiative und anderer internationaler Kooperationen vorteilhafte Abkommen aushandeln. Sind chinesische Konzerne willens, sich am Aufbau von Kapazitäten zu beteiligen und einen Wissenstransfer zu leisten, dann können sie diese Entwicklung fördern. Sind sie aber nicht dazu bereit, dann werden sie die Staaten Afrikas und des Globalen Südens maßgeblich daran hindern, selbst an ihrem Rohstoffreichtum teilzuhaben. Das würde die Abhängigkeit des Südens vom Ausland nachhaltig ­verstärken. 


Rivalität und Nullsummendenken

Die Zahl der Herausforderungen, die China und seine Rolle im Globalen Süden betreffen, wächst zusehends. Die Verbreitung der Künstlichen Intelligenz ist eine dieser Herausforderungen, weil sie Fragen der digitalen Governance, der Datenspeicherung und des Zugangs zu kritischer digitaler ­Infrastruktur verkompliziert. 

Wenn chinesische Konzerne
nicht bereit sind, sich am Aufbau von Kapazitäten zu 
beteiligen und einen Wissenstransfer zu leisten, dann 
hindern sie den Globalen Süden maßgeblich daran, selbst an seinem Rohstoffreichtum teilzuhaben 

Dass es derzeit an Lösungsideen für diese Probleme mangelt, liegt auch daran, dass die globale Zusammenarbeit in diesem Bereich ins Stocken geraten ist und Rivalität und Nullsummendenken zwischen dem Westen und China jeden Fortschritt blockieren. Gerade die belasteten Beziehungen zwischen Washington und Brüssel auf der einen und Peking auf der anderen Seite wirken sich hier ungut aus. 

 Initiativen wie Build Back Better ­World (3BW) und die Global Gateway Initiative (GGI) zeigen, dass die amerikanischen und europäischen Gesetzgeber nicht sonderlich an einer Zusammenarbeit mit China interessiert sind. Stattdessen setzen sie sich für vom Westen finanzierte Infrastrukturinvestitionen im Globalen Süden ein, durch die Chinas Einfluss beschnitten werden soll.

Nichtsdestotrotz wird Chinas Präsenz im Globalen Süden von Dauer sein. Zu dringend benötigen Schwellen- und Entwicklungsländer die chinesischen Investitionen, und zu gut versteht es die Volksrepublik, sich mit Narrativen der Solidarität und des Antikolonialismus Ansehen und Gehör zu verschaffen. Gleichzeitig sieht sich Peking jedoch mit zahlreichen Konkurrenten konfrontiert, die daran interessiert sind, ihren eigenen Einfluss im Globalen Süden auszubauen und die nicht mit einer vorbelasteten Beziehung zu den USA zu kämpfen haben. 

Aus dem Englischen von Kai Schnier              

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Reich der Mittler" erschienen.


 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 5, September/Oktober 2024, S. 39-43

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Prof. Lina 
Benabdallah  ist Associate Professor für Politik und Internationale Beziehungen an der Wake Forest University und Autorin von „Shaping the Future of Power: Knowledge Production and Network-Building in China-Africa Relations“ (University of Michigan Press 2020). 

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