Buchkritik

01. Mai 2016

Reich der Mitte sucht Platz in der Welt

Über Chancen und Risiken der chinesischen Außen- und Innenpolitik

Pekings politisches Auftreten hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Während man außenwirtschaftlich mit Projekten wie der Seidenstraßen-Initiative auf Kooperation setzt, bleibt man in Konflikten wie den Territorialstreitigkeiten im Süd- wie Ostchinesischen Meer stur. Doch nicht alle teilen Präsident Xis Traum einer Großmacht China.

Wie groß ist die Gefahr, die China für seine Nachbarschaft und die Welt bedeutet? Jonathan Holslag hat dazu eine eindeutige Meinung. Chinas strategische Ziele seien, so der Politikwissenschaftler, „ nicht mit denen seiner Nachbarn und jenes anderen Riesen im pazifischen Raum, der Vereinigten Staaten, zu vereinbaren“. China wolle Großmacht werden und müsse dafür die Struktur des internationalen Systems zu seinen Gunsten ändern.

Holslag folgt mit dieser Ansicht den offensiven Realisten, die in Anlehnung an die Arbeiten von John ­Mearsheimer davon ausgehen, dass Staaten ihre Macht maximieren müssen, um ihre Interessen erfolgreich gegenüber anderen Staaten durchzusetzen. Denn nur so können sie letztlich auch das internationale System dominieren. Mit diesem Bekenntnis zum offensiven Realismus und Revisionismus ist die Kernaussage des Buches zusammengefasst.

Das ist gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch. Erstens ist Holslags Überblick über die existierenden Theoriedebatten zur Rolle ­Chinas in den internationalen Beziehungen – freundlich ausgedrückt – stark verkürzt. Nun ist dies kein Theoriebuch. Doch die fehlende Reflexion etwa über nichtwestliche Ansätze zum Thema Internationale Beziehungen verweist auf ein weiteres Problem. Holslag schreibt aus einer dezidiert eurozentristischen Perspektive. Das ist nicht verwerflich, aber es wird an keiner Stelle im Buch reflektiert.

So entgeht Holslag, dass Mearsheimers Blick auf Chinas Aufstieg zwar einigermaßen unvoreingenommen sein mag – sein Blick auf die Welt (und die ihr zugrundeliegende Ordnung) ist es nicht. Drittens erliegt Holslag dem Trugschluss, dass Macht und Einfluss identisch seien. Dabei wäre es auf der Basis seiner ausführlichen empirischen Analyse spannend gewesen zu erfahren, wie Peking seiner Meinung nach sein Streben nach Macht in Einfluss übersetzt hat – oder noch übersetzen wird.

Trotz der ausgesprochen informativen Behandlung der Territorialstreitigkeiten im Südchinesischen Meer oder der Handelsbeziehungen mit Chinas ost- und südostasiatischen Nachbarn wird Holslag letztlich dem eigenen Anspruch nicht gerecht. Für einen Autor, der „jedem Staatsmann, der als echter Friedenstifter in die Geschichtsbücher eingehen will, empfiehlt, sich seine Studie zu Herzen zu nehmen“, bietet sein Buch erstaunlich wenig Lösungsvorschläge. Es geht zu keinem Zeitpunkt über die in den USA verbreitete Perspektive eines offensiven Realisten hinaus.

Den vielfältigen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Ambitionen, die in China existieren, widmet sich der amerikanische Journalist Evan Osnos. Ohne die großen politischen Entwicklungen aus dem Blick zu verlieren, beschreibt er die „Männer und Frauen im Zentrum von Chinas Werden“. Wie es im Untertitel der englischen Ausgabe, „Chasing Fortune, Truth, and Faith in the New China“, treffender heißt, geht es dabei vor allem um die Suche der chinesischen Bevölkerung nach Wohlstand, Wahrheit und Glauben. Die Darstellung der Gespräche und Ereignisse, die Osnos während seiner Zeit in China (2005–2013) erlebt hat, unterstreicht, dass es (noch) keine eindeutige Antwort auf die Frage gibt, wer den „Kampf um die Macht, zu definieren, was China ist“ gewonnen hat.

Osnos nimmt uns mit auf eine Reise, auf der er so unterschiedliche Persönlichkeiten wie den späteren Chef­ökonom der Weltbank Justin Lin, den Englischfanatiker Michael, die heutige Caixin-Chefin Hu Shuli oder die Jugendikone Han Han vorstellt. Die Porträts zeichnen ganz unterschiedliche Lebenswege nach. Dabei wird immer wieder deutlich, wie stark die jeweils individuelle Zukunft mit der sozioökonomischen Entwicklung des Landes verknüpft ist. Oftmals ist Osnos selbst Teil seiner Geschichten als Gesprächspartner oder Beobachter, und eine Stärke des Buches liegt darin, dass er diese Perspektive konsequent beibehält.

Anhand der einzelnen Geschichten reflektiert der Autor immer auch offizielle Politiken und gesellschaftliche Normen kritisch; die endgültige Bewertung überlässt er jedoch dem Leser. Und es geht ihm nicht nur um die Einschränkungen, die seine Protagonisten in einem autoritären Regime erfahren, sondern auch um die im System vorhandenen Nischen und damit die Möglichkeiten für den Einzelnen. Das zeigt sich besonders in der Diskussion über die Rolle des Internet als Plattform der gesellschaftlichen und politischen Artikulation einerseits und neuartiges Kontrollorgan der Partei andrerseits, etwa mithilfe der so genannten „50-Cent Blogger“, die Debatten in sozialen Netzwerken und Medien „positiv“ beeinflussen sollen.

Osnos hat ein äußerst lesenswertes und unterhaltsames Buch über das gegenwärtige China geschrieben, das den Leser mitten hineinzieht in die Irrungen und Wirrungen, mit denen sich Teile der chinesischen Bevölkerung tagtäglich auseinandersetzen müssen.

Dr. Nadine Godehardt ist stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Asien bei der Stiftung Wissenschaft und ­Politik (SWP).

Jonathan Holslag: Frieden auf Chinesisch. Warum in Asien Krieg droht. Hamburg: edition Körber Stiftung 2015, 289 Seiten, 17,00 €

Evan Osnos: Große Ambitionen. Chinas Grenzenloser Traum. Berlin: Suhrkamp 2015, 535 Seiten, 24,95 €

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/ Juni 2016, S. 140-141

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