Probier’s mal mit Gemütlichkeit
Was man kennen muss, um Skandinaviens Kultur zu verstehen
Das „glücklichste Land der Welt“ liegt in Nordeuropa – es ist Finnland. Entspannung versprechen Schwedens Sommerhäuser, Genuss der isländische „Skyr“-Quark, und „Hygge“ (Gemütlichkeit) heißt Dänemarks Kulturexport. Doch auch wer die dunklen Seiten der menschlichen Seele sucht, wird im Norden fündig: zum Beispiel in der norwegischen Literatur.
Sommerhäuser: Abschalten und aufladen
Ahhhhh – es gibt nichts Besseres als diesen Moment, wenn die ersten Sonnenstrahlen auf unsere wintermüden Gesichter treffen und uns Schwedinnen und Schweden die baldige Rückkehr von Licht und Wärme verheißen. Und glauben Sie mir: Wer so viele lange, dunkle und kalte Winter ertragen hat wie wir, der setzt all seine Hoffnungen und Träume auf den Tag, an dem er wieder ins Auto steigen und zu seinem geliebten Sommerhaus hinausfahren kann. Kaum zu glauben, dass es eine Zeit gab, als viele dieser Anwesen leer standen. Damals, als das Zeitalter der Industrialisierung Europas Norden erreicht hatte, ließen viele Besitzer ihre gut gepflegten Bauernhöfe auf dem Land auf der Suche nach einem „besseren“ Leben in den Großstädten zurück. Doch es dauerte nicht lange – ein paar Jahrzehnte nur –, bis wir Schweden zu der Einsicht kamen, dass sich das Leben nur dann in vollen Zügen genießen lässt, wenn wir einen Ort, einen sicheren Hafen haben, an dem wir abschalten und unsere Batterien wieder aufladen können. Jeden einzelnen Tag des Jahres mit Volldampf zu bestreiten, ist weder für den Körper noch für die Seele gut. Und so entdeckten wir all die himmlisch abgeschiedenen Orte inmitten der Wildnis wieder und erweckten sie zu neuem Leben. Mit seiner Bevölkerungsdichte von gerade einmal 22 Einwohnern pro Quadratkilometer bietet Schweden mehr als genug Erholungsfläche. Oft werden zusätzlich zu den Sommerhäusern große Stücke Land verkauft – einschließlich der Option, die Wohnfläche beliebig auszuweiten.
Stabkirchen: Errichtet für die Ewigkeit
Schließen Sie Ihre Augen und reisen Sie zurück in die Zeiten der stolzen, kriegerischen und draufgängerischen Wikinger. Die atemberaubend schönen Stabkirchen, die in der Regel komplett aus norwegischem Kiefernholz gebaut sind und inmitten der Wildnis stehen, wurden zu Ehren der altnordischen Götter erbaut und später dem moderneren protestantischen Glauben gewidmet, der sich mit der Zeit seinen Weg in den europäischen Norden bahnte. Innen und außen strotzen sie nur so vor höchst komplizierten und unglaublich detaillierten, von Wikingerhand geschaffenen Verzierungen, deren vollkommene Schönheit bis in die Gegenwart nachhallt. Ihre Stabilität und Lebensdauer verdanken die norwegischen Gotteshäuser ihrer speziellen Bauart: Indem man die Wände aus horizontal statt vertikal angeordneten Holzstämmen fertigte, verringerte man den natürlichen Verschleiß – und der blutrote Teer, der als Außenanstrich diente, erwies sich als ausgezeichnetes Konservierungsmittel. Heute gibt es noch 28 dieser mystisch und majestätisch anmutenden Kirchen, die der beste Beweis für eine alte skandinavische Weisheit zu sein scheinen: „Wenn Du nicht vorhast, etwas richtig zu bauen, dann fange erst gar nicht damit an.“
Hygge: Die kleinen Dinge des Lebens
Als Nachbarin der Dänen, einem der nachweislich „glücklichsten Länder der Welt“, liebte ich es in meiner Jugend, auf die Fähre zu springen, nach Kopenhagen überzusetzen, dort zu flanieren und die Atmosphäre einzusaugen. Alles wirkte so anders als in meiner Heimat; fast schien es mir, als spazierte ich durch eine ganz neue Welt, eine Welt voller wunderschöner Kulissen, kräftiger Farben, atemberaubender Düfte und lächelnder, rotwangiger Gesichter. Ich spürte, dass die Menschen geerdet waren und über eine unerschütterliche Selbstsicherheit verfügten – und über persönliche Beziehungen und eine Lebensfreude, die mir zuvor noch nirgendwo anders untergekommen war. Der Schlüssel für dieses Lebensgefühl, das es unter dem Begriff „Hygge“ (am ehesten übersetzbar mit dem deutschen „Gemütlichkeit“) zum dänischen Kulturexportschlager gebracht hat, ist eine gewisse Einfachheit und Gelassenheit und der Vorsatz, sich nicht über Kleinigkeiten den Kopf zu zerbrechen. Habe keine Angst, Empathie oder Gefühle zu zeigen, sei dankbar für das, was du hast und hol das Beste aus jedem Tag heraus! Man mag der reichste Mensch sein oder der ärmste: Rücksicht zu nehmen, auf andere zu achten – sei es auf Mitmenschen oder Tiere – kostet nichts. Sich um seine Familie zu kümmern und die kleinen Dinge im Leben wertzuschätzen, ist nie verschwendete Zeit. Und es ist das, was das Leben erst wirklich lebenswert macht.
Skyr: Der Wunderquark der Wikinger
Nicht selten entpuppt sich das neueste der neuen Produkte in den bunten Regalen gutbestückter Supermärkte als Werbetrick. Doch im Falle des Gesundheitstrends namens Skyr ist das glücklicherweise anders. Als erfrischendes und stärkendes Milchprodukt isländischer Herkunft hat Skyr in der jüngeren Vergangenheit seinen globalen Siegeszug begonnen – und das mit Recht! Obwohl Skyr aussieht und schmeckt wie ein leckerer Naturjoghurt, wird das Produkt außerhalb seiner Heimat zuweilen als Frischkäse eingestuft (was uns Skandinavier jedoch nicht daran hindert, es direkt aus dem Becher zu löffeln). Die Isländer wiederum schwören schon seit der Wikingerzeit auf ihren Wunderquark. Das hat nicht zuletzt mit den darin enthaltenen Bakterienkulturen zu tun, die gut für die Verdauung sein sollen. Damit Skyr kommerziell vertrieben werden kann, muss in der Herstellung pasteurisierte Milch verwendet werden. Für die meisten Isländer ist das wohl eine Todsünde: Sie schwören darauf, dass Skyr mithilfe von Rohmilch zubereitet werden muss. Da das Milchprodukt so gut wie kein Fett enthält und noch dazu einen sehr geringen Zuckergehalt hat, ist es der ideale Snack für die emsigen Menschen des 21. Jahrhunderts. Man nehme einen Becher Skyr, würze ihn je nach Bedarf und siehe da: einem langen Leben nach Vorbild der Isländer steht nichts mehr im Wege!
Mumins: Fantastische Geschichten, wundersame Mythen
In Schweden aufzuwachsen, inmitten der alten skandinavischen Kulturen, bedeutet auch, in seiner Kindheit stets von fantastischen Geschichten und wundersamen Mythen umgeben zu sein. Meine drei Schwestern und ich verschlangen alle Bücher, die wir in die Hände bekamen, und die „Geschichten aus dem Mumintal“, mit all ihren sonderbaren, witzigen und launischen Charakteren, gehörten zu unseren Lieblingserzählungen. Die Begründerin der Mumin-Familie, die Schriftstellerin Tove Jansson, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ihre Geschichten, die vor Kreativität, Scharfsinn und Erzählfreude nur so strotzen, auch für ein breiteres Publikum veröffentlicht. Liest man Janssons vielfältiges Werk unter dem Gesichtspunkt, inwiefern es sich auf das eigene Leben übertragen lässt, dann entpuppen sich die Geschichten als Anleitungen für ein Leben voller Glück, Zufriedenheit und Neugier. Auf intelligente Weise lehren sie ihre Leserinnen und Leser, gütig, geduldig und sanftmütig miteinander und mit der Natur umzugehen. Bücher zu lesen und sich trotz des geschäftigen Alltagslebens Zeit zu nehmen – sei es in der Jugend oder im Alter –, ist etwas, das in Skandinavien hoch im Kurs steht. Nicht umsonst sagt man hierzulande „Bücher sind die geduldigsten Lehrer“.
Norwegische Literatur: Auf der Suche nach der nordischen Seele
Einsamkeit, Entblößung, Isolation und innere Konflikte: Die literarische Kultur Norwegens, im kommenden Herbst Gastland der Frankfurter Buchmesse, hat mit ihrem einzigartigen Erzählstil die Herzen von Millionen von Lesern in aller Welt erobert. Als Skandinavierin, die in einem Land aufgewachsen ist, das ebenso wie Norwegen arm an Menschen ist, ein unwirtliches Klima hat und durch eine Gefühlswelt gekennzeichnet ist, der emotionaler Überschwang eher fremd ist, kenne ich einiges von dem, was Norwegens Autoren beschreiben, sehr gut. Dramatiker und Schriftsteller wie Henrik Ibsen und Knut Hamsun zeichnet ihr dringendes Bedürfnis aus, die Wahrheit erzählen zu wollen. Ihr literarischer Realismus möchte die verschlossene und karge nordische Gefühlswelt offen und aufrichtig beschreiben. Für viele ihrer Zeitgenossen war all das verstörend und unangenehm, für ihre Leser ist es dagegen eine willkommene Abwechslung zu dem, was sie sonst lesen. Auch die jüngeren norwegischen Schriftsteller wie Karl Ove Knausgård and Jo Nesbø werden mittlerweile weltweit gefeiert. Der eine erzählt seine Lebensgeschichte so aufrichtig, wahrhaft und vorbehaltslos, wie es nur möglich ist, und der andere zieht uns mit seinen düsteren und phantasievollen Geschichten über Verbrechen, Angst und Konflikt nachhaltig in seinen Bann.
Wettrennen um den Polarkreis: Der ultimative Test
Sind Sie bereit, die größte Herausforderung Ihres Lebens anzutreten? Manche unserer Zeitgenossen nehmen unvorstellbare Anstrengungen auf sich, um ihre Abenteuerlust zu stillen, ihr innerstes Selbst zu erfahren und ihrem Respekt für Mutter Natur Ausdruck zu verleihen. Das „Arctic Circle Race“ ist der ultimative Test für die menschliche Ausdauer sowie die mentale und physische Stärke unserer Spezies. Das Langstreckenrennen, bestehend aus drei Etappen im Skilanglauf, findet jährlich gegen Ende März oder Anfang April statt und ist, vorsichtig formuliert, nichts für Ski-Anfänger. Über drei Tage gilt es für die Wettbewerber, jeglichen Komfort hinter sich zu lassen und sich nur dem einen Ziel zu verschreiben: irgendwie über die Ziellinie zu kommen. Sie kämpfen sich über majestätische Bergketten, durch tiefe Täler voller Schnee und unwirtliches Gelände und passieren insgesamt 160 Kilometer skandinavischer Wildnis. Doch dabei sind die Langläufer alles andere als einsam. Aus den Tiefen des Schnees, den großen blattlosen Bäumen und den Höhlen alter Berge werden sie stets aus aufmerksamen Augen beobachtet. Nicht zuletzt deshalb legt das Organisationskomitee des Rennens Wert darauf, dass kein Müll in der Natur zurückgelassen wird.
Kajsa Kinsella, aufgewachsen in Südschweden, lebt als Journalistin und Designerin in Irland. Ihr Buch „Nordicana“ (deutsch: „Schönes Skandinavien“) erscheint im März in einer Neuausgabe.
IP Wirtschaft 01, März - Juni 2019, S. 60-63