Essay

29. Apr. 2024

Polens Experiment mit der juristischen Vorstellungskraft

Nach Jahren der Instrumentalisierung und Politisierung des Rechts in Polen drängt die neue Regierung in Warschau auf eine demokratisch-rechtsstaatliche Transformation – mit all ihren Tücken. Neben der Lösung praktischer Probleme gilt es, grund­legende Verfassungsfragen nicht aus dem Blick zu verlieren, wie die Geschichte zeigt. 

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Bild: Polnische Verfassungsgericht
Kein Gericht im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, zumindest nicht in seiner derzeitigen Zusammensetzung: So urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits in zwei Fällen gegen das polnische Verfassungsgericht (hier im Bild). Um die Glaubwürdigkeit des Verfassungsorgans wiederherzustellen, sind tiefgreifende Reformen und ein personeller Neuanfang erforderlich – ein schwieriges Unterfangen.
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Der Beitrag der Juristen zu politischen Übergangsprozessen wird leicht übersehen. Dies hängt mit der weit verbreiteten Auffassung zusammen, dass sich das Recht aus der Politik ableite, ohne eigene Wirksamkeit. Die Juristen sind lediglich diejenigen, die einen Weg finden müssen, um politische Entwürfe in ein normatives Gehäuse einzuschließen und ihnen eine gemeinsame Ausdrucksform zu geben: Gesetze, Artikel und Begriffe, die als Kostüm für den politischen Willen fungieren und ihm Legitimität, Glaubwürdigkeit und Gültigkeit verleihen. 

So gesehen ist das Recht nur ein Instrument der Politik: nützlich, aber an sich kaum bemerkenswert. Doch je mehr die Politik darauf beharrt, das Recht nur als Instrument zu betrachten und zu benutzen, um so deutlicher werden die Mängel dieser Sichtweise; ein stark politisiertes Recht kann der Politik in der Tat wieder auf die Füße fallen. Die von diesem Bumerangeffekt betroffenen Politikerinnen und Politiker müssen jedoch nicht zwangsläufig dieselben sein, die einst die exzessive Politisierung vorangetrieben haben.

Dieses Phänomen lässt sich derzeit in Polen beobachten, wo die Politisierung des Rechts während der achtjährigen Herrschaft der konservativ-nationalen Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) beispiellos war. Bei den Parlamentswahlen am 15. Oktober 2023 blieb die PiS zwar stärkste Kraft, verlor aber den Kampf um die parlamentarische Regierungsmehrheit. An die Macht kam eine von der Koalicja Obywatelska (KO) angeführte Allianz von Parteien, die sich zwar im Kampf gegen die PiS einig waren und sind, ansonsten aber wenig Gemeinsamkeiten aufweisen.

Seit fünf Monaten befindet sich das Land nun auf dem Weg aus der tiefsten Krise des Rechtsstaats und einer zwar nicht autoritären, aber zutiefst illiberalen Demokratie mit prekärer Menschenrechtslage. Es hat ein Experiment mit der juristischen Vorstellungskraft begonnen, die in Polen viel zu lange auf Eis lag.

Zu denen, die die Rolle des Rechts und damit auch die der Juristen und Juristinnen bei radikalen politischen Übergängen richtig einzuschätzen wussten, gehörte der Soziologe und Politikwissenschaftler Ralf Dahrendorf. In seinem Aufsatz „Betrachtungen über die Revolution in Europa“ aus dem Jahr 1990 skizzierte Dahrendorf den Ablauf eines Übergangs von der Autokratie zur Demokratie, der damals in Mittel- und Osteuropa live zu beobachten war. Er identifizierte drei aufeinanderfolgende Stunden, die alle notwendig waren, damit die Gesellschaft die Autokratie hinter sich lassen und in eine Demokratie eintreten konnte: die Stunde des Politikers, die des Juristen und die des Bürgers.

Für Dahrendorf war das Zusammenspiel aller drei Stunden essenziell, um sicherzustellen, dass die Gesetze der neuen Demokratie in das politische und soziale Leben integriert werden. Die Worte des Rechts sind am Ende der Autokratie entscheidend, um den richtigen normativen Rahmen für die neu entstehende demokratische Realität zu schaffen. Die Juristenstunde erfordert Kreativität und Mut, aber auch Disziplin und Selbstreflexion. Sie ist eine intensive Übung, die die juristische Vorstellungskraft stärkt, also die Fähigkeit, das gesellschaftliche Leben aus der Perspektive des Rechts zu betrachten, will heißen: im Lichte der allgemeinen Normen und ihrer Folgen, die sich aus dem sich ständig selbst infrage stellenden juristischen Wissen ergeben.

In der Juristenstunde folgt die juristische Vorstellungskraft zwar dem politischen Willen, ist aber keineswegs bloßes Instrument, sondern besitzt eine eigenständige Wirksamkeit. Dies erhöht die Resilienz des Rechts gegenüber der Politik. Ein resilientes Recht ist Voraussetzung für demokratische und menschenrechtliche Grundprinzipien, wie etwa die richterliche Unabhängigkeit und die Berechenbarkeit des Rechts.

Ich habe oftmals die These formuliert, dass es in Polen in den 1990er Jahren keine revolutionäre Juristenstunde gab. Die juristische Vorstellungskraft hat sich sehr schnell von den grundlegenden Verfassungsfragen abgewandt, die im Kontext der eigenen Gesellschaft und ihrer historischen Erfahrungen zu bedenken waren. Die Politik gab immer neue Ziele vor: den Übergang zur Marktwirtschaft, die europäische Integration, die zahllosen institutionellen Reformen. Kurzum: Der revolutionäre Moment wurde von der Technik überlagert.

Zwei Jahrzehnte lang waren die Juristinnen und Juristen in Polen damit beschäftigt, die politischen Forderungen rechtzeitig zu erfüllen. Grundlegende Fragen der Verfassungsordnung sowie internationaler Ordnungen, an die Polen als Mitglied des Europarats (seit 1991) und der Europäischen Union (seit 2004) gebunden ist, haben sowohl in der juristischen Ausbildung als auch in der Gesetzgebung und Rechtsprechung wenig Beachtung gefunden.

Die juristische Vorstellungskraft, die aus der revolutionären Phase der Transformation keine starken Impulse erhalten hatte, kam auch in der Verfassungsdebatte der 1990er Jahre nicht richtig in Gang, welche, wie die Zukunft zeigen sollte, viele Lücken offenließ. Zu den Merkmalen der polnischen Rechtskultur – verstärkt durch den Sozialismus – zählten ein geringes Vertrauen in die Rechtsinstitutionen, eine stark dogmatisch ausgerichtete und von Berufsorganisationen dominierte Juristenausbildung und eine stark positivistische und konservative Tendenz in der Rechtsauslegung. All dies hat zu einer paradoxen Kombination großer Trägheit und geringer Resilienz im polnischen Rechtssystem geführt. 

Was die PiS in Polen von 2015 bis 2023 erreicht hat, verdankt sie in hohem Maße dieser Paradoxie der polnischen Rechtskultur. Innerhalb von acht Jahren hat die PiS den gesamten Mechanismus der demokratischen Gewaltenteilung gründlich demontiert. Wie konnte es so weit kommen?

2015 gewann der Kandidat der PiS, Andrzej Duda, die Präsidentschaftswahlen – ein Vorzeichen für den Sieg der PiS bei den Parlamentswahlen einige Monate später. Der Präsident hat in der polnischen Verfassung eine sehr starke Stellung. Sein Vetorecht gegen die vom Parlament verabschiedeten Gesetze ist ein Instrument der politischen Einflussnahme, das nur von einer sehr starken Parlamentsmehrheit überwunden werden kann. Mit dem Präsidenten an ihrer Seite hat die PiS somit bereits 2015 einen Kontrollmechanismus faktisch außer Kraft gesetzt. 

Der zweite und weitaus wichtigere Mechanismus zur Kontrolle der Gesetzgebung liegt beim Verfassungsgericht. Dessen Urteile beseitigen als verfassungswidrig erkannte Vorschriften endgültig und ohne Berufungsverfahren aus der Rechtsordnung. Die PiS begann ihre erste Legislaturperiode daher mit der Übernahme des Verfassungsgerichts, die 2016 abgeschlossen wurde. Damit wurde auch dieser Kontrollmechanismus außer Kraft gesetzt – er dient seither nur noch den politischen Zwecken der PiS, wie insbesondere das umstrittene Urteil 2020 zum Abtreibungsrecht deutlich gemacht hat.

So blieb am Ende nur noch ein grundlegend mangelhaft besetztes Verfassungsorgan. Aus diesem Grund hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits zweimal – 2021 im Fall „Xero Flor gegen Polen“ und 2023 im Fall „M.L. gegen Polen“ – eindeutig festgestellt, dass das polnische Verfassungsgericht in seiner derzeitigen Zusammensetzung kein Gericht im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonven­tion ist. Folglich sind alle Eingriffe in die individuellen Menschenrechte, die sich aus den Entscheidungen des Tribunals ergeben, einschließlich des umstrittenen Abtreibungsurteils, als unwirksame „­Quasi-Urteile“ anzusehen. Es hat sich längst eingebürgert, vom „sogenannten“ Verfassungsgericht und seinen „sogenannten“ Urteilen zu sprechen.

Doch unterm Strich hat sich die PiS-­Regierung wenig um die internationale Rechtsprechung gekümmert: Urteile des EGMR und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wurden selektiv umgesetzt oder mit Gegenurteilen beantwortet. Im Jahr 2022 erklärte das Verfassungsgericht sogar Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention für verfassungswidrig, um zu verhindern, dass sich polnische Gerichte direkt auf das in diesem Artikel festgelegte Recht auf ein faires Verfahren berufen.

Die verfassungswidrigen Versuche, die Wirksamkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention in Polen einzuschränken, waren Teil einer größeren Operation – der sogenannten Justizreform –, die zeitlich auf die Übernahme des Verfassungsgerichts folgte. Über die Einzelheiten der Reform und ihre verheerenden Folgen wurde in den deutschen Medien ausführlich berichtet. Von Bedeutung ist jedoch vor allem, dass seit 2018 – also seit sechs Jahren – die Verfahren zur Besetzung von Richterstellen unter Beteiligung eines rechtswidrig besetzten und politisch abhängigen Landesjustizrats durchgeführt werden. Auch dieses Gremium verdient einen qualifizierenden Namenszusatz: „neo“. Die Zahl der Richterinnen und Richter, die unter Mitwirkung des Neo-Justizrats ernannt wurden, ist inzwischen auf über 3000 gestiegen.   

 Neben dem Verfassungsgericht und dem Landesjustizrat sicherte sich die PiS ihre Macht bis zum Ende der Legislaturperiode auch in anderen Institutionen, darunter im Obersten Gericht, in der Nationalbank, der Staatsanwaltschaft und den öffentlich-rechtlichen Medien. In allen Institutionen wurde die gleiche Methode angewandt: Die Besetzungsverfahren wurden so verändert, dass die von der PiS nominierten Personen möglichst auf Lebenszeit oder zumindest für mehrere Jahre im Amt bleiben und von einer neuen Mehrheit nicht ohne Gesetzesänderung abberufen werden können, die dann entweder der Präsident oder das Verfassungsgericht blockieren können. Kein Gesetz sollte diese doppelte Blockade überstehen; auf diese Weise wollte die PiS eine neue Mehrheit in einen Teufelskreis einschließen.

Seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2023 steht die von Donald Tusk angeführte Regierung also vor einer Herausforderung, die in mancher Hinsicht mit dem Jahr 1989 vergleichbar ist: Es gilt, eine demokratisch-rechtsstaatliche Systemtransformation durchzuführen, die undemokratische und rechtsstaatswidrige Praktiken und Gewohnheiten in Politik und Gesellschaft überwinden kann.

Der gegenwärtige Test für die juristische Vorstellungskraft könnte allerdings härter ausfallen. 1989 war die Gestalt des neuen Polens zwar noch unklar, aber dass der sozialistische Staat delegitimiert war, war nahezu unbestritten. Heute ist nicht nur die Gesellschaft im Rückblick auf die PiS-Zeit alles andere als einig. Auch die politischen Projekte der im Parlament vertretenen Parteien unterscheiden sich deutlich im Hinblick auf Kontinuität und Wandel. Auf der einen Seite bleibt die Verfassung unverändert; der Fortbestand des Staates ist eine Tatsache. 2023 hat ein demokratischer, wenn auch beispiellos komplizierter Machtwechsel stattgefunden. Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die einen „Reset der Verfassung“ fordern, also eine radikale Neudefinition der Grundprinzi­pien des Staates. Es wird argumentiert, dass die von der PiS im Chaos zurückgelassenen Institutionen nicht geheilt oder rekonstruiert werden können, sondern von Grund auf neu geschaffen werden müssen.

Die neue demokratische Mehrheit steht also vor einem Dilemma: Entweder nutzt sie die üblichen Instrumente des Rechtsstaats, in erster Linie die Gesetzgebung, um den Rechtsstaat wiederherzustellen. Damit läuft sie jedoch Gefahr, an den Blockaden der PiS zu scheitern. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, Wege zu finden oder gar zu erfinden, die an die Stelle der Gesetzgebung treten und die Umsetzung des politischen Willens trotz systemischer Hemmnisse gewährleisten. Dies könnte allerdings bedeuten, dass die ehemalige demokratische Opposition an die Stelle der PiS tritt und das Recht als bloßes – und in diesem Fall relativ nutzloses – Instrument der Politik abschafft.

2023 hat zweifellos die transformative, wenn nicht sogar revolutionäre Juristenstunde geschlagen. Die Wiederbelebung des öffentlichen Interesses am Recht ist beispiellos. Nie zuvor – nicht einmal in den ersten Jahren der PiS-Regierung, als die juristische Vernunft vor lauter Chaos in Ohnmacht fiel – hat man überall so viele hervorragende Juristinnen über das Recht sprechen hören und lesen können. Juristische Autoritäten werden von den höchsten Staatsorganen zu Rate gezogen. Adam Bodnar wurde zum Justizminister in der neuen Regierung ernannt. Der ehemalige Ombudsmann und Rechtsprofessor ist ein international anerkannter Akademiker, dessen juristische Fachlegitimation viel stärker ist als die politische. Im Parlament und in den zahlreichen, bereits einberufenen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, die die ausgewählten Missstände der vergangenen acht Jahre aufklären sollen, wird ständig von der Verfassung gesprochen.

Dahrendorf hat sechs Monate für die Juristenstunde veranschlagt. Der Prozess kann etwas länger dauern, aber in der Praxis ist die Zeitperspektive klar. Zunächst geht es natürlich ganz praktisch um die Frage, wie das Recht zur Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit genutzt werden kann, um den politischen Willen durchzusetzen, ohne dabei den Unterschied zwischen der ehemaligen Opposition und der PiS zu verwischen. Dass dieses praktische Problem im Grunde genommen lösbar ist, darüber besteht eigentlich kein Zweifel. 

Einige Fallen, die die PiS in das Rechtssystem eingebaut hat, können mit den üblichen Mitteln entschärft werden. Das betrifft vor allem Personalentscheidungen, für die es keine Zustimmung des Präsidenten braucht und die nur von der Regierung getroffen werden können, wie innerhalb der Ministerien oder bei den Gerichtspräsidenten. Manche Probleme werden sich mit der Zeit von selbst lösen, wenn die Amtszeiten der problematischsten Personen abgelaufen sind. Manchmal kann das Gesetz so interpretiert werden, dass die von der PiS installierten Blockaden beseitigt werden können. In einigen Fällen, wie etwa bei der Staatsanwaltschaft, werden die Gerichte entscheiden, was technisch noch möglich ist – hoffentlich in zweifelsfrei rechtmäßiger Besetzung.

Klar ist: Im Jahr 2025 endet die zweite Amtszeit von Andrzej Duda. Aus heutiger Sicht scheint es wahrscheinlich, dass der neue Präsident oder die neue Präsidentin aus einer der jetzigen Koalitionsparteien kommen wird. Damit wird eine politische Blockade für die Transformationsgesetzgebung beseitigt und die normale Kon­trollfunktion des präsidialen Vetos kann wiederhergestellt werden.

In der Zwischenzeit testet die neue Mehrheit die Kooperationsbereitschaft des Präsidenten in Fragen, die für die Rehabilitierung der Beziehungen zwischen Polen und der EU von Bedeutung sind. Am 8. März fand im polnischen Parlament, dem Sejm, die erste Lesung des vom Justizministerium vorgelegten Gesetzentwurfs zur Änderung der Zusammensetzung und des Wahlverfahrens des Landesjustizrats statt. Die Lösung des Justizproblems ist eine der Bedingungen für die Auszahlung der Mittel aus dem EU-Wiederaufbaufonds, die aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit bis Februar 2024 eingefroren wurden. Als Reaktion auf die eingeleiteten Reformen hat die EU-Kommission die Freigabe dieser Gelder bereits formell genehmigt.

Weitaus problematischer ist der Status des Verfassungsgerichts, dessen Richterinnen für neun Jahre gewählt werden. Vom EGMR als Nicht-Gericht deklariert und intern gespalten, fungiert es nach wie vor als Bastion der PiS im Rechtssystem. Das beste Symbol für das Paradoxon, das der gegenwärtigen Situation innewohnt, ist die Tatsache, dass die Regierung die Urteile des Gerichts ordnungsgemäß im Amtsblatt veröffentlicht, jedoch mit einer Anmerkung, die die Gründe für ihre Unwirksamkeit nennt. Ein neues Gesetz könnte diese surreale Sackgasse durchbrechen, aber solange Andrzej Duda Präsident bleibt, ist dies eine rein hypothetische Möglichkeit.

Die neue Mehrheit hat daher ein sehr originelles Instrument ausprobiert: den Parlamentsbeschluss. Im Gegensatz zu einem Gesetz bedarf ein Beschluss nicht der Unterschrift des Präsidenten. Er ist jedoch keine Rechtsquelle, sondern eine Meinungsäußerung des Parlaments, die unmittelbar und für sich allein keine Rechtswirkung entfaltet. Ein Beschluss ist also eine politische Handlungsgrundlage, aber keine Rechtsgrundlage im Sinne des in der Verfassung verankerten Legalitätsprinzips, wonach alle öffentlichen Behörden in Polen im Rahmen der Gesetze handeln müssen. Die Funktion des Parlamentsbeschlusses wurde erstmals im Bereich der öffentlich-rechtlichen Medien erprobt, mit gemischten Ergebnissen. Die Erfahrung hat deutlich gezeigt, dass die Wirksamkeit eines Beschlusses begrenzt ist. Ein Beschluss ähnelt einem Gesetz schlicht zu sehr, um ihn als einen rein politischen Impuls zu deuten. 

Am 6. März verabschiedete der Sejm einen Beschluss zur Bewältigung der Folgen der Verfassungskrise in den Jahren 2015 bis 2023, in dem die derzeitige Zusammen­setzung des Gerichts unter Berufung auf die Verfassung und die Urteile des EGMR in den Rechtssachen „Xero Flor gegen Polen“ und „M.L. gegen Polen“ für rechtswidrig erklärt wird. Im Beschluss stellt der Sejm fest, dass „der Zustand der Unfähigkeit der derzeitigen Behörde zur Wahrnehmung der Aufgaben des Verfassungstribunals […] die Neugründung des Verfassungsgerichts […] unter Berücksichtigung der Stimmen aller politischen Kräfte, die die verfassungsmäßige Ordnung respektieren, [erfordert]. Die Richter des erneuerten Verfassungsgerichts sollten unter Beteiligung der Opposition gewählt werden. Die Bestimmung der Zusammensetzung sollte zeitlich gestaffelt sein, um den Willen zu bekräftigen, dieses Gremium frei von der Perspektive der derzeitigen Amtszeit zu erstellen.“

Der Beschluss sieht demnach eine Art „Soft-Reset“ vor, bei dem alle demokratisch orientierten politischen Kräfte mitwirken sollen. Zugleich bespricht er die Mechanismen, die einer erneuten Politisierung des Tribunals vorbeugen sollen. Das Dokument kann als eine Ansage der nächsten Schritte in Bezug auf das Verfassungstribunal interpretiert werden. Der Appell an die Richterinnen des Verfassungstribunals, „zurückzutreten und sich so dem Prozess des demokratischen Übergangs anzuschließen“, wurde von diesen jedoch abgelehnt.

Im Zuge des demokratischen Übergangs in Polen müssen zahlreiche praktische Entscheidungen getroffen werden. Um diese Herausforderung zu meistern, braucht es heterogene und eklektische Strategien, da auch die von der PiS installierten systemischen Blockaden unterschiedlicher Natur sind. Allerdings kann die Transformation, die Polen heute durchläuft, nicht mit der Lösung jedes praktischen Problems für beendet erklärt werden. Im Hintergrund steht eine andere, viel wichtigere Frage: Inwieweit hat die PiS-Ära den politischen Stellenwert des Rechts nachhaltig verändert?

Die Politisierung und Instrumentalisierung des Rechts sind in Polen unter der PiS-Regierung so weit gegangen, dass der Übergang zu einer echten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zunächst einen rechtsphilosophischen Wandel erfordert. Dieser Wandel geht weit über die Lösung einzelner praktisch-technischer Aufgaben hinaus. Die eigentliche Übung besteht darin, die Ursachen des Zusammenbruchs des Rechtsstaats sorgfältig zu erforschen, um für die Zukunft mehr Resilienz und weniger Trägheit zu schaffen. Andernfalls wird die zweite transformative Juristenstunde in Polen ebenso verpasst wie die erste 1989. 

Hier wird deutlich, wie die Instrumentalisierung des Rechts der demokratischen Politik wieder auf die Füße fallen kann – und zwar unabhängig davon, wer gerade die Mehrheit im Parlament hat. Die PiS hat die eigene Wirksamkeit des Rechts so oft infrage gestellt und die Prinzipien der Rechtserkenntnis mit so beispielloser Verachtung betrachtet, dass die natürliche Reaktion darauf war, das Recht im politischen Handeln einfach zu ignorieren. Am Ende war für alle offensichtlich, wie sinnlos jede Diskussion darüber war, ob die PiS rechtmäßig handelt oder nicht.

Der Versuch, diesen Prozess umzukehren, also das Recht als unverzichtbaren Teil der Demokratie wieder ins politische Spiel zu bringen, muss die Gewohnheit überwinden, das Recht auf die leichte Schulter zu nehmen. Dies kann aber nur gelingen, wenn das Recht wirklich ernst genommen wird. Deshalb ist jede praktische Strategie, die an der Grenze der Legalität balanciert, so riskant. Ein taktischer Gewinn kann langfristig viel Legitimität und Glaubwürdigkeit kosten. Bei der Lösung praktischer Einzelprobleme des demokratischen Übergangs dürfen die grundlegenden Verfassungsfragen nicht untergehen – das ist die zentrale Herausforderung für die juristische Vorstellungskraft.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 110-115

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Themen und Regionen

Prof. Dr. Marta Bucholc arbeitet an der Fakultät für Soziologie der Universität Warschau. Derzeit leitet sie unter anderem den polnischen Teil des Projekts „Towards Illiberal Constitutionalism in East Central Europe: Historical Analysis in Comparative and Transnational Perspectives“.

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