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06. Dez. 2021

Polarisierung ist keine Magie

Die politische und gesellschaftliche Polarisierung in Europa hat verschiedene Gründe: Sie ist eine Bürde ungelöster Konflikte aus der Vergangenheit, aber auch ein Symptom kollektiver Orientierungslosigkeit. Wie sollen die EU und ihre Mitgliedstaaten auf Ost-West-Dissonanzen und populistische Politik von Viktor Orbán reagieren? Sicherlich nicht mit Abwehr und Ausgrenzung. Sondern mit besseren Praktiken der Einbeziehung, um Solidarität zu stärken.

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Bild: Luftaufnahme einer Menschenansammlung
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Erinnern Sie sich daran, wie Sie als Kind das erste Mal einen Magneten in den Händen hielten? Wie Sie ihn an allen Gegenständen im Haus ausprobierten, um festzustellen, dass er auf magische Art und Weise am Kühlschrank und an den Töpfen in der Küche haftete, aber nicht an Ihrem Körper. In den Augen eines Kindes erscheinen Magnete geheimnisvoll. Mit Neugier und Abenteuerlust spielten wir mit den Kräften von Anziehung und Abstoßung, scheiterten, versuchten es erneut und beobachteten das Ergebnis.

Diese frühen Experimente lehrten uns die Gesetze der Natur, viele Jahre bevor Schulbücher versuchten, uns die Welt zu erklären. Sie waren aber auch der Einstieg in eine Welt voller Regeln und Gesetze, die wir oft nicht verstanden. Und so erforschten wir ihre Anwendung und Grenzen, probierten und akzeptierten sie, genauso wie wir mit den Regeln unserer Eltern, Lehrenden und Gleichaltrigen umgingen. Mit dem Älterwerden schlossen wir uns anderen – scheinbar magnetischen – Feldern an und begegneten dabei einer Vielzahl ungeschriebener Regeln. Schulklassen, Freundeskreise, Arbeitsumgebungen und Nachbarschaften formten unsere sozialen Rollen und unsere Positionierung in der Gesellschaft.

Wir haben gelernt, unser soziales Handeln mit Hilfe von Kategorisierungen zu organisieren. Die Zugehörigkeit zu einer Kategorie wie Religion, Geschlecht, ethnische Gruppe oder Nation bildete das Fundament für die Konstruktion unserer Identität. Einige dieser Kategorien wurden uns von Geburt an mitgegeben, andere haben wir später selbst gewählt oder auch bewusst wieder abgelehnt. Als soziale Magnete prägen sie unsere Einstellungen, Interaktionen und unsere Sicht auf die Welt, kurz gesagt, sie bestimmen, wo und wer wir sind. Sie sind aber auch für unsere Vorurteile und Stereotypen verantwortlich. All diese Prozesse sind relevant für die Analyse des Phänomens der Polarisierung. Lassen Sie uns also die Eigenschaften und Regeln dieses Begriffs erforschen, um ihn von seinem mysteriösen Image zu befreien.

 

Die Macht der Trägheit

Die Herausforderung liegt schon im Begriff selbst. Zwar berichten Medien recht ausgiebig von einer vermeintlich steigenden Polarisierung (eine Suchanfrage bei einer bekannten Suchmaschine ergab rund 170.000.000 Einträge). Für Komplexitätsforscher wie Aaron Bramson ist das Phänomen jedoch ein „blurred cluster of concepts and measures“. Während wir also eine subjektive Vorstellung davon haben, was mit Polarisierung gemeint ist, kämpft die Forschung mit der Pluralität ihrer Bedeutung. Das liegt daran, dass gesellschaftliche Phänomene wie diese schwer greifbar sind. Im Diskurs müssen wir dennoch auf bestmögliche Klarheit achten. Sprechen wir über die politische Polarisierung innerhalb der Eliten oder der Öffentlichkeit? Meinen wir einen Mangel an Breite oder Vielfalt an Meinungen? Sind wir uns bewusst, dass wir, wenn wir über polarisierte Gruppen sprechen, zur Festigung dieser vermeintlichen Spaltung aktiv beitragen?

Lassen wir die Unschärfe des Begriffs einmal beiseite, so steht seine Wortherkunft offensichtlich mit den Eigenschaften von Magneten in Verbindung. Polarisierung bezieht sich auf die Dichotomie von Nord- und Südpol. Wir haben gelernt, dass die Pole unserer Erde als mächtiges Werkzeug zur Orientierung dienen; selbst Schildkröten und Vögel navigieren mithilfe ihrer magnetischen Sinne. Dies impliziert allerdings auch einen gewissen Determinismus, da die Objekte passiv erscheinen und folglich nicht in der Lage sind, ihre Position zu verlassen oder unabhängig von ihrem Werkzeug sicher zu navigieren. Wir haben ebenso gelernt, dass jedes Objekt eine Trägheit besitzt. Da es Energie aufwenden müsste, um seinen Bewegungszustand zu ändern (und die Trägheit zu überwinden), leistet es Widerstand und behält seinen Zustand bei.

Als soziale Objekte in demokratischen Feldern haben wir Menschen gelernt, uns an der Mehrheit auszurichten. Wir wissen, dass die Anpassung meist Stabilität und damit auch Sicherheit verspricht – beides Grundbedürfnisse des Menschen. Auch im Politischen beobachten wir den Drang nach Einordnung und Ausrichtung auf Skalen, etwa von rechts nach links, und die Persistenz von Dichotomien, etwa jener von liberal und illiberal oder pro- und antieuropäisch. In Europa sprechen wir oft von einem Ost-West- oder Nord-Süd-Gefälle. Irgendwo dazwischen, in Mitteleuropa (aber nicht nur dort), beobachten wir aktuell eine besorgniserregende Zunahme der „Identitätspolitik“ von mächtigen Oligarchen nebst ihren geschäftlichen und politischen Imperien. Ihre Erfolge stehen zumeist in enger Verbindung mit dem geschickten Instrumentalisieren und Fördern gesellschaftlicher Polarisierung von Eliten.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat aus den Erschütterungen der Krisen von 2008/09 gelernt. Mit der Erzählung einer sogenannten „illiberalen Demokratie“, die nichts anderes bedeutet als die Autokratisierung des Staates innerhalb parademokratischer Institutionen, bietet er desillusionierten und frustrierten Wählerinnen und Wählern einen vermeintlichen Ausweg, einen „dritten Weg“ zwischen Wladimir Putins repressivem Russland und dem oft zitierten „moralischen Ausverkauf des Westens“. Indem er konsequent zwischen antisemitischen Subtexten manövriert und, wann immer es innenpolitisch opportun ist, Salz in die offenen Wunden der ohnehin schon geschwächten Europäischen Union streut, gelingt es Orbán, die politische Spaltung der ungarischen Eliten fast unwiederbringlich zu konstituieren. Angesichts seiner Erfolge haben sein polnischer Kollege Jaroslaw Kaczyński, Serbiens Präsident Aleksandar Vučić und viele andere Orbáns Notausstieg aus der Konsenspolitik für ihre eigenen Zwecke genutzt und Ungarn damit zu einem autokratischen Trendsetter des 21. Jahrhunderts befördert.

Doch um nicht Gefahr zu laufen, zu pessimistisch in die nahe Zukunft zu blicken, ist es hilfreich, mit zwei gängigen Missverständnissen hinsichtlich des Begriffs der Polarisierung aufzuräumen: Erstens bedeutet Polarisierung nicht, dass unsere Positionen und sozialen Rollen stabil oder lokal begrenzt sind – Trägheit hin oder her! Während wir unser „Wir“ oft als gegeben und statisch betrachten, sind unsere Positionen und Rollen in den sozialen Magnetfeldern dynamisch und durchlässig, manchmal auch ganz offensichtlich widersprüchlich.

Zweitens neigen wir dazu, die Vergangenheit falsch zu interpretieren. So stellte der amerikanische Journalist Ezra Klein bei der Untersuchung der Polarisierung in den USA fest: “The era that we often hold up as the golden age of American democracy was far less democratic, far less liberal, far less decent, than it is today.” Vielleicht nehmen wir also die Gesellschaft, in der wir heute leben, als stärker polarisiert wahr als bisherige, ohne uns unserer zeit- und ortsspezifischen Kontexte bewusst zu sein.

 

Immer entlang der historischen Flugbahn?

Um die Trennlinien politischer Polarisierung zwischen Ost und West nachzeichnen zu können, müssen wir zurück ins 20. Jahrhundert blicken. Als gutes Beispiel dient die Nachbarschaft von Ungarn und Österreich. Dieses bedeutsame Jahrhundert begann mit dem Zerfall eines Kaiserreichs und einem verheerenden Ersten Weltkrieg, der eine Masse an traumatisierten und desillusionierten Menschen hinterließ. Der Zerfall der Habsburgermonarchie und die Beschlüsse der Pariser Friedensverträge legten den Grundstein für eine neue Landkarte Mitteleuropas. Sie zogen allerdings auch einen Schlussstrich unter föderale und multiethnische Ansätze. Nationalistische und ethnisch homogene Konzepte gewannen an Dynamik und führten Europa direkt in den nächsten Krieg. Während der Völkermorde und Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs wurde das Dogma der sozialen Zugehörigkeit auf die Spitze getrieben, indem es die ureigenen Ängste der Menschen bediente und diese in ausschließende Kategorien und Dichotomien kanalisierte.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand Mitteleuropa erneut an einem Scheideweg. Diesmal, mit dem Abkommen von Jalta 1946, traten neue, noch junge Nationalstaaten in sehr unterschiedliche Bahnen ein. Während Österreichs Prozesse der Nationenbildung auf einer (von den Alliierten forcierten) Distanz zu jeglichen revisionistischen Bestrebungen beruhten, schlug Ungarn eine andere Richtung ein. Ein Teil der österreichisch-ungarischen Nachbarschaft fand sich plötzlich auf einer anderen Flugbahn mit neuen Kräften und Gesetzen wieder, die sich von denen ihrer westlichen Nachbarn grundlegend unterschieden.

Beide Länder haben nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie ihren gemeinsamen Weg verlassen und erst viele Jahrzehnte später, als sich nach und nach der Eiserne Vorhang lichtete, wieder zusammengefunden. Für die Menschen in Ungarn bedeutete die sogenannte „Rückkehr nach Europa“ allerdings nicht die Wiederherstellung von Beziehungen auf Augenhöhe, denn nicht einmal in den vermeintlich glorreichen Zeiten der Doppelmonarchie nach dem Ausgleich 1867 war Österreich ein Partner auf Augenhöhe. Obwohl sich die Rahmenbedingungen im Laufe der Zeit geändert hatten, war die Wahrnehmung der Ungleichheit nicht verschwunden, auch nicht mit dem Beitritt Ungarns zur Europäischen Union im Jahr 2004.

Sowohl vor als auch nach der politischen Wende haben die westlichen Länder von der Rückständigkeit des östlichen Nachbarn profitiert. Die frustrierende Erfahrung des Aufholens und das „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (Claus Offe) haben die Wahrnehmung vieler Ungarinnen und Ungarn bis heute geprägt, selbst wenn die Realität weitaus komplexer ist. Erfahrene Populisten wie Viktor Orbán haben ihre politischen Wurzeln in diesem jüngsten Kapitel der mitteleuropäischen Geschichte. Ihre persönlichen Erfahrungen und Lehren aus dieser Zeit haben ihre Einstellung zu Demokratie und Neoliberalismus stark geprägt. Wie andere westeuropäischen Länder sah auch Österreich in der Transnationalisierung von Regeln und Normen einen vielversprechenden Weg, um die Gefahr eines weiteren verheerenden Krieges zu verhindern. So schlossen die heimischen Eliten das Kapitel des Naziregimes ab und begannen, eine teils selbstverleugnende Erfolgsgeschichte zu schreiben.

Eine weitere Ära der Polarisierung bahnte sich an, als die neuen sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren begannen, ihre eigene Agenda der Transnationalisierung voranzutreiben, etwa durch die Ökologisierung. Während der Kapitalismus durch den Zusammenbruch der Sowjetmacht die Schlacht in der bipolaren Welt gewonnen zu haben schien, drängten nun die rückläufige Wirtschaft und die zunehmenden sozialen Unruhen die kapitalistischen Nationen zu Veränderungen. Im Falle Ungarns haben die Hinterlassenschaften der sozialen Spaltung in Verbindung mit den Herausforderungen einer unvollendeten Transformation Populisten wie Orbán die Türen geöffnet. Er nutzt bis heute die alten Wunden zwischen den Eliten und das Anti-EU-Narrativ für seinen Machterhalt.

Aus dieser langfristigen Perspektive scheinen Länder wie Ungarn viel mehr mit ihren revisionistischen Träumen, Minderheitenfragen und postsozialistischen Hinterlassenschaften beschäftigt zu sein. Zu wenig Zeit bot die Ungleichzeitigkeit der Transnationalisierung, um auf breiter gesellschaftlicher Basis die eigene Geschichte zu verhandeln. Um dem entgegenzuwirken, muss die Europäische Union, müssen alle EU-Staaten überzeugende Strategien zur Förderung der kulturellen Kohärenz entwickeln. Indem sie sich zu sehr auf die wirtschaftliche Integration konzentrierte, hat es die Europäische Union weitgehend versäumt, die Schaffung einer europäischen Identität von unten nach oben zu ermöglichen, die die bestehenden Identitäten integriert. Die „älteren“ Mitgliedsländer sollten umso mehr im bilateralen Austausch zeigen, dass die nationalen Identitäten nicht mit der europäischen in Konkurrenz stehen müssen.

 

Keine Zeit für Absolutismus

Wir müssen unsere Geschichte verstehen, um die Wurzeln der Polarisierung zu ergründen. Doch das Phänomen ist nicht nur eine Bürde ungelöster Konflikte aus der Vergangenheit. Die politische und gesellschaftliche Polarisierung ist vielmehr ein Symptom kollektiver Orientierungslosigkeit. Wo sollen wir in dieser komplexen und ortslosen Welt nach Wissen und Antworten suchen? Wem können wir vertrauen, wenn die Geschichte (und das Internet) uns so viele Fehler der Politik aufzeigen, wenn Psychologie und Wissenschaft unsere eigenen Mängel offenlegen? Was können wir uns überhaupt noch vorstellen, wenn jede Utopie vergänglich, jeder Wandel seinen Preis hat?

Die Kräfte hinter der gegenwärtigen Orientierungslosigkeit werden deutlich, wenn wir uns einen Desillusionierungsprozess der vergangenen Jahrzehnte vergegenwärtigen, der unser Denken maßgeblich beeinflusst hat. Ausgehend von der Einsicht, dass die Internationalisierung ein logischer Schritt zur Sicherung des Friedens in Europa zu sein scheint, haben wir versucht, große Krisen durch die Gründung von Organisationen und Institutionen (internationalen, multilateralen, nationalen, regionalen und lokalen) zu bewältigen. Viele politische Aufgaben wurden an diese Einrichtungen, einschließlich Organisationen der Zivilgesellschaft, ausgelagert. Auf politischer Ebene haben wir mit der EU ein kompliziertes Mehrebenensystem geschaffen, das allerdings nach wie vor auf nationalen Machtverhältnissen fußt. Alles in allem haben diese Versuche zu „moral panics about institutional failure“ (Immanuel Wallerstein) geführt. Der US-amerikanische Soziologe und Wirtschaftshistoriker weist darauf hin, dass diese Panik mit wirtschaftlicher Regression und einer Zunahme von Trotz einhergeht, was zu einer sozialen Polarisierung führen kann: „There is always dissonance in any social system, and this often turns into alterity – an understanding by those below that there is an ‘us’ and a ‘them.’ This may or may not lead to resistance. But when it does, and when this coincides with an economic B-phase and when deviance is on the increase, it translates into an anomalic phase – a period of social polarization.”

 

Eine Relativität, die Chancen und Freiheiten mit sich bringt

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Phasen des institutionellen Versagens sowohl zu Improvisation als auch zu Innovation führen können. Indem wir erkennen, dass die Zunahme von Kontrolle und Überwachung nicht zu einem Rückgang der Polarisierung führt, können wir neue Räume der Aussöhnung polarisierter Lager eröffnen. Hier sind wir an einem entscheidenden Punkt angelangt: Denn die heutige Öffentlichkeit weist schwerwiegende Mängel auf, darunter verzerrende Algorithmen, den „digital gap“ und die Dauerkrise der Medienbranche. Individualismus und Kapitalismus zwingen uns zu einer Wahrnehmung, die die „rational choice“ als einzig vernünftiges Motiv für die Entscheidungsfindung anbietet. Daher sind wir bei der Einordnung neuer Informationen oft dynamischen Erzählungen und Trends ausgeliefert. Während wir durch die sozialen Medien surfen, treiben wir auf einem Fluss von Meinungen und springen von einem dünnen Ast zum anderen. Wir hangeln uns vor in der Hoffnung, nicht unterzugehen, und beschuldigen unsere Nächsten, den falschen Weg zu gehen.

Wenn wir unser Ziel aus den Augen verlieren, neigen wir gerne dazu, auf der Suche nach Erkenntnis zurückzublicken. Deshalb werden in den aktuellen Debatten oft die Fundamente unserer Gesellschaften wiederentdeckt und die Frage geäußert, ob diese Fundamente vielleicht nie auf genügend Aushandlung und Konsens aufgebaut wurden. Mit inszenierter Empörung beobachten wir alte Brüche in unserer Gesellschaft wie das Fortbestehen patriarchalischer, xenophober und antisemitischer Strukturen. Wahrscheinlich haben wir zu viel Zeit mit der Frage verbracht, an welchem Punkt wir „den Anderen“ verloren haben. Stattdessen sollten wir uns ehrlich eingestehen, dass unsere Demokratien von Anfang an auf einem wackligen und alles andere als inklusivem Fundament gebaut wurden.

Zu Zeiten der Newton‘schen Gesetze waren Philosophie und Physik viel stärker miteinander verwoben als heute. Um die Vorstellungen von Realität, Zeit und Raum zu verstehen, debattierten die Intellektuellen jener Zeit über Fragen des Absolutismus. Spätestens mit der Relativitätstheorie von Einstein erkannte die Wissenschaft jedoch, dass eine Bewegung in Zeit und Raum nicht absolut ist. Wir können daraus schließen, dass sich auch unsere Position in der Welt ändern kann. Es ist dies eine Relativität, die vor allem Freiheiten und Chancen mit sich bringt: Das Leben in einer globalisierten und digitalen Welt emanzipiert uns von Raum, Zeit und sogar von der Realität. Einzelne Ereignisse lassen sich kaum noch (ein)ordnen. Wir fühlen uns heute oft unabhängig von den Ideologien und Utopien der Vergangenheit, sind aber immer noch soziale Wesen und damit an unsere Umwelt und die Vergänglichkeit gebunden – beides geht mit dem latenten Bedürfnis nach Selbstpositionierung und Legitimation einher.

Studien deuten darauf hin, dass wir Tendenzen der Polarisierung dadurch entgegensteuern können, indem wir die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften fördern und die Durchdringung von Massenmedien in der Gesellschaft verbessern. In komplexen Netzwerken neigen wir dazu, wichtige Knotenpunkte und Teilnetzwerke zu übersehen, die eine größere Dichte aufweisen als das Gesamtnetzwerk. Um die derzeitige Ost-West-Kluft zu überbrücken, müssen wir also jene Bereiche ermitteln, in denen wir im täglichen Leben noch nicht miteinander verbunden sind, und dann die Verbindungen und den Austausch von Menschen zwischen diesen Regionen stark ausbauen. Wir vergessen oft, dass unsere Nachbarländer mit ähnlichen Unsicherheiten und Strukturkrisen konfrontiert sind wie wir. Steht man jedoch mit einem Fuß in der Vergangenheit, ist es nicht möglich, sich eine gemeinsame Zukunft mit jemand anderem vorzustellen. Manche suchen die erhoffte Kontinuität in konservativen Ausrichtungen, um ja nicht erneut über eine falsche Vorstellung der Moderne zu stolpern.

 

Mehr Solidarität und Zusammenarbeit in Europa

Um auf die Magie der Magnete zurückzukommen: Nutzen wir diese Kindheitserinnerung, um unserem Nachbarn und unserer Mitbürgerin mit den Augen eines Kindes zu begegnen. Denn um mit einem anderen Objekt zu interagieren, müssen wir uns nicht über die Kräfte einig sein, die uns in unserer jeweiligen Position halten. Allein das Bewusstsein, dass unsere Positionen nicht absolut sind, kann uns helfen, Kontakte auch in Phasen starker Dissonanz aufrechtzuerhalten. Je mehr Masse ein Objekt hat, desto größer ist seine Trägheit und desto mehr widersetzt es sich jeglicher Veränderung seiner Position. Wenn wir unsere Geschichte als Gewicht verstehen, das uns auf unsere Flugbahn zwingt, werden wir nicht in der Lage sein, uns einander anzunähern. Es lohnt sich, verstehen zu wollen, was unsere Nachbarn in ihren Bahnen hält, seien es ihre ungelösten historischen Traumata, ihre geopolitischen Zwänge oder Interessen.

Der menschliche Verstand kann mit Dissonanzen umgehen und auf Herausforderungen mit weit mehr als nur Polarisierung reagieren. Wir haben inzwischen gelernt, dass Europa nur dann einen Ausweg aus der gegenseitigen Zerstörung finden kann, wenn es sich seinen Irrwegen stellt, sich in Versöhnung übt, pragmatische Lösungen sucht und den Gedanken der Solidarität und Zusammenarbeit institutionalisiert. Die EU hat das Potenzial, eine Anziehungskraft zu schaffen, die die Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt, Akteure des Wandels zu sein und nicht nur passive Objekte in einer deterministischen Welt. Nur der kontinuierliche Aufbau einer funktionierenden, das heißt liberalen Demokratie kann als wahres Fundament dienen, das unsere Freiheit gewährleistet.

Ja, Populistinnen und Populisten versuchen, diese Bestrebungen zu untergraben, da sie nach kurzfristiger Macht streben, aber sie beleuchten auch die bestehenden Mängel und fordern zum Handeln auf. Es liegt daher in unserer Verantwortung, nicht mit Ausgrenzung und Abwehr zu reagieren, sondern bessere Praktiken der Einbeziehung und Beteiligung zu finden. Schließlich steckt hinter der sozialen und politischen Polarisierung keine Magie, sondern nur die Einsicht, dass wir unser Leben und unsere Geschichte nicht als linearen Fortschritt betrachten können. Wir müssen in den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt investieren, wir müssen die Geschichte unserer Nachbarn (aner)kennen, wir müssen in die Reparatur unserer Öffentlichkeit investieren, wir müssen sie transnational, inklusiv und vielfältig gestalten. Überall dort, wo die Polarisierung unsere Fähigkeit, einen Konsens zu finden, zu bedrohen scheint, müssen wir einen Schritt zurücktreten und uns auf die Ursprünge dessen besinnen, was uns überhaupt erst zusammengeführt hat.

 

 

Daniela Apaydin, geb. Neubacher, ist seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Wien. Zuvor hat sie zehn Jahre in der Medien- und Kommunikationsbranche gearbeitet sowie Journalismus und Unternehmenskommunikation in Graz und Sankt Petersburg und „Mitteleuropäische Studien“ an der Andrássy Universität Budapest studiert und hat im November 2021 ebendort in Geschichte promoviert.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, online exclusive, Dezember 2021

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