Pflichtlektüren 2014
Leseempfehlungen zur Außenpolitik
Thomas Bagger
Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt
Eine packende und sehr persönliche Reise durch Israels Anfänge und Gegenwart, voller Empathie und zugleich scharfer Analyse, voller Bewunderung und zugleich tiefer Verzweiflung. Ein Buch, das über alle Klischees des Nahost-Konflikts hinausführt und hilft zu verstehen.
Ari Shavit: My Promised Land: The Triumph and Tragedy of Israel, Spiegel & Grau 2013
Marieluise Beck
Mitglied des Auswärtigen Ausschusses für Bündnis 90 /Die Grünen
Die Schilderung der 1930er Jahre, als Europa die heraufziehende Aggression nicht wahrhaben wollte, ist derzeit wieder brandaktuell.
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Bermann-Fischer Verlag zu Stockholm 1944
Klaus-Dieter Frankenberger
Leiter Außenpolitik, FAZ
Akribisch und kenntnisreich wie gewohnt durchmisst der große Historiker die Jahre des Kalten Krieges bis zum Fall der Mauer 1989. Noch überwältigender als der Triumph des Westens war der Freiheitswille der Ostdeutschen, der Ostmitteleuropäer und Balten. 25 Jahre später betreibt Russland, die Nachfolgemacht der Sowjetunion, kalten Revisionismus. Schon deswegen wird das Werk zur lohnenden Lektüre.
Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens – Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, C.H. Beck Verlag 2014
Ulrike Guérot
Senior Associate, Open Society Initiative for Europe
Ein ebenso hinreißendes wie herzzerreißendes Buch: George Packer beschreibt anhand der Biografien von sechs sehr unterschiedlichen US-Amerikanern – arm/reich, schwarz/weiß, Stadt/Land – den Zerfall des Amerikas, wie wir es kennen: Welthegemon, Dollar-Imperium, Land der steten Erneuerung, Land des amerikanischen Traumes. Das Buch kündigt den Zerfall eines Westens an, den es so nicht mehr gibt – und macht alle traurig, die ihn und das alte Amerika geliebt haben.
George Packer: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerikas, S. Fischer 2013
Emily Haber
Staatssekretärin im Bundesministerium des Inneren
Der Physiker C.P. Snow beschreibt die erbitterte Auseinandersetzung um die Wahl eines Collegepräsidenten im Cambridge des Jahres 1937. Die akademische Welt, in die Snow seine Protagonisten platziert, ist längst untergegangen, privilegiert und patriarchalisch, wie sie war. Dennoch ein glänzender Roman darüber, wie Politik funktioniert – und wie Interaktion dazu führen kann, dass das Interesse an der eigenen Rolle das eigentliche Ziel ins Glied rückt. Keine unwichtige Beobachtung für alle, die mit Verhandlungen zu tun haben.
Charles Percy Snow: The Masters, MacmillanPublishers 1951
Christoph Heusgen
Außenpolitischer Berater der Bundeskanzlerin
Vor dem Hintergrund des maroden und korrupten russischen „Justizsystems“ zeichnet Chodorkowski wunderbare Porträts einfacher Russen, zumeist Kleinkrimineller, die in die Mühlen dieser „Justiz“ geraten sind, dabei aber ihre Prinzipien und Wertvorstellungen – ihr Gewissen und ihre Ehre – nicht verraten. Etwa Nikolaj, der lieber für Jahre ins Gefängnis geht als einem Handel zuzustimmen, bei dem er hätte zugeben müssen, einer alten Frau die Handtasche gestohlen zu haben. Ein tröstendes Büchlein aus einem Land, aus dem sonst derzeit nur deprimierende Nachrichten kommen.
Michael Chodorkowski: Meine Mitgefangenen, Galiani 2014
Josef Joffe
Herausgeber der ZEIT
Abgesehen vom Hype des Untertitels (der im Original fehlt), ist dies eines der wichtigsten Werke seit A. J. P. Taylors „Struggle for Mastery in Europe“ (1954). Den „Germanozentrismus“ haben erst der Autor, dann der Verlag übertrieben. Bis zum Aufstieg Preußen-Deutschlands war Europas Mitte nicht Spielmacher, sondern „der Ball, den die Großen einander zugeworfen“ haben, wie Leibniz notierte. Dennoch ein grandioses Buch, das der Diplomatiegeschichte wieder den ihr gebührenden Platz an der Universität verschaffen könnte.
Brendan Simms: Kampf um die Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas, DVA 2014
Hans-Ulrich Klose
ehem. stellvertr. Vorsitzender Auswärtiger Ausschuss des Deutschen Bundestags
Ein Buch über Amerika, die Geschichte eines Landes im Abstieg. Kein vergnügliches Buch für Menschen wie mich, die sich dem Land persönlich verbunden fühlen. Aber es stimmt ja: Amerika ist derzeit nicht in bester Verfassung, und die Politiker scheinen unfähig, die Lage zum Besseren zu wenden. Kann sich das ändern? Das Buch macht wenig Hoffnung, wären da nicht die Erinnerungen an ähnlich schwierige Zeiten, die überwunden wurden, weil es Menschen gab, die dem Land Wege aus Gefahr und Verzweiflung gewiesen haben. Vielleicht ist Packer einer von ihnen.
George Packer: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerikas, S. Fischer 2013
Stefan Kornelius
Leiter Außenpolitik, Süddeutsche Zeitung
Aus gegebenem Anlass nachgelesen: Arthur Koestlers „Darkness at Noon“. Wer den eiskalten Griff autoritärer Regime spüren will – Koestler hat ihn in Worte gekleidet. Nach jeder Seite schätzt man die offene Gesellschaft ein Stückchen mehr.
Arthur Koestler: Darkness at Noon, MacMillan 1941
Joachim Krause
Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel
Kissinger setzt seine Überlegungen zum Werden und Vergehen internationaler Ordnung fort, die er 1957 angestoßen und nie so richtig weiter verfolgt hat. Das Buch liest sich – wie alles von Kissinger – gut und vermittelt eine Vielzahl von interessanten Einsichten, wenngleich manches im Lichte der neueren wissenschaftlichen Diskussion überholt erscheint. Alles in allem ein Buch, das gerade heute wichtig ist, weil es einen übergreifenden Blick auf die internationale Politik vermittelt.
Henry A. Kissinger: World Order: Reflections on the character of nations and the course of history, Allen Lane 2014
Stefan Liebich
Mitglied im Auswärtigen Ausschuss für Die Linke
Dieser ungeschönte Blick auf das Plenum des Bundestags lädt ein, das eigene Handeln zu hinterfragen. Willemsen deckt aus demokratischer Perspektive die Schwächen unseres Parlamentarismus auf. Wir können es besser!
Roger Willemsen: Das hohe Haus – Ein Jahr im Parlament, S. Fischer 2014
Hanns W. Maull
Senior Distinguished Fellow SWP
Dies ist ein ebenso kritischer wie kenntnisreicher und empathischer Blick auf die deutsche Außenpolitik – mit großer historischer Tiefenschärfe. Man muss sich die Einschätzung des Autors nicht zu eigen machen, aber man sollte seine Interpretation ernst nehmen.
Hans Kundnani: The Paradox of German Power, Hurst & Co 2014
Philipp Mißfelder
Außenpolitischer Sprecher der CDU
Erneut gelingt Henry Kissinger eine eindrucksvolle Analyse, diesmal der Gegenwart, in der das Chaos droht – durch ökologische Verwüstung, durch sich auflösende Staaten, durch Kräfte jenseits bekannter staatlicher Ordnungen. Ein Beispiel hierfür ist der Islamische Staat, der, mit Waffen und Geld bestens versorgt, eigene Strukturen jenseits bekannter Staatlichkeit entwickelt. Um diesen Gefahren begegnen zu können, muss Amerika neue Allianzen mit regionalen Mächten suchen.
Henry A. Kissinger: World Order: Reflections on the character of nations and the course of history, Allen Lane 2014
Hildegard Müller
Hauptgeschäftsführerin Bundesverband Energie- und Wasserwirtschaft
Für mich ist das Buch von Dieter Vieweger eines der wichtigsten Bücher der vergangenen Jahre. Weil es die Frage, worum es eigentlich geht beim Konflikt zwischen Israel und Palästina, betrachtet, ohne eine eigene Wertung vorzunehmen: von den historischen Wurzeln des Konflikts bis hin zu den aktuellen Reibungspunkten. Besonders hilfreich für das Verständnis ist die Schilderung der Traditionen der verschiedenen in Israel lebenden Volksgruppen.
Dieter Vieweger: Streit um das Heilige Land. Was jeder vom israelisch-palästinensischen Konflikt wissen sollte, Gütersloher Verlagshaus 2010
Rolf Mützenich
Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD
Knappe, aber grundlegende Darstellung einer globalen Macht- und Gewaltgeschichte im Kontext europäischer Expansionen und Interventionen in den vergangenen 500 Jahren. Vor diesem Hintergrund verliert manches liebgewonnene Argument über neue Konfliktmuster und westliche Verantwortung an Plausibilität. Die jüngsten Militäreinsätze westlicher Streitkräfte in Drittweltländern wie Afghanistan, Irak oder Mali sind keine „neuen Kriege“. Vielmehr stehen sie in einer 500‑jährigen Tradition transkultureller Gewaltkonflikte.
Dierk Walter: Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion: Gestalt und Logik des Imperialkrieges, Hamburger Edition HIS 2014
Omid Nouripour
Außenpolitischer Sprecher von Bündnis 90 / Die Grünen
Durch die aktuellen Entwicklungen in und um Russland (Sotschi, Krim, Ukraine, NGO-Gesetzgebung, Einschränkung der Pressefreiheit) hat dieses Buch enorm an Relevanz gewonnen. Obwohl es bereits 2011 verfasst wurde, findet sich darin eine Vielzahl treffender Analysen, die helfen, die heutige Situation zu verstehen, und die eine klare Botschaft an westliche Politiker beinhalten: Das Drängen auf die Einhaltung der Menschenrechte muss wieder vor energiepolitische Interessen gestellt werden. Nicht die autoritäre Staatsmacht, sondern die Bürger und ihre Rechte müssen gestärkt werden.
Lev Gudkov, Victor Zaslavsky: Russland. Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang?, Wagenbach 2011
Thomas Paulsen
Leiter Internationale Politik Körber-Stiftung
Das Buch ist auch 25 Jahre nach seinem Ersterscheinen eine ebenso faszinierende wie instruktive Lektüre. Heute werden wir Zeugen des Zerfalls jener Strukturen, deren Entstehung der Historiker Fromkin nachzeichnet. Wer die heutigen Konflikte der Region verstehen will, darf ihre Geschichte nicht ausblenden.
David Fromkin: A Peace to End All Peace: The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East, Holt & Company 1989
Volker Perthes
Direktor Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
Nicht das beste Buch des Jahres, aber 200 Jahre nach dem Wiener Kongress ein Gedankenanreger zu der Frage, wie konkurrierende Staaten nach Jahren des Krieges versuchen können, Ordnung wiederherzustellen, ohne Sieger und Verlierer zu produzieren.
Thierry Lentz: 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas, Siedler 2014
Ruprecht Polenz
ehem. Vorsitzender Aus-
wärtiger Ausschuss des Deutschen Bundestags
Das Buch zeigt, warum und wie Religionen weltweit politische Macht gewinnen. Graf schreibt über den globalen Markt der Sinnangebote und dessen Tendenz zum Fundamentalismus – eine Pflichtlektüre für alle, die wissen wollen, woraus sich Perzeptionen speisen.
Friedrich Wilhelm Graf: Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, C.H.Beck 2014
Norbert Röttgen
Vorsitzender Auswärtiger Ausschuss des Deutschen Bundestags
Der Konflikt in der Ukraine hat es gezeigt: Jervis’ Buch trifft auch heute noch
ein Grundproblem der inter-
nationalen Politik. Das Handeln politischer Entscheidungsträger ist stark von ihrer Weltsicht abhängig. Unterschiedliche Hintergründe und Erfahrungen schaffen unterschiedliche Wahrnehmungen, die zu Missverständnissen auf höchster Ebene führen können.
Robert Jervis: Perception and Misperception in International Politics, Princeton University Press 1976.
Eberhard
Sandschneider
Direktor des Forschungsinstituts der DGAP
Wachsende Komplexität verständlich und dadurch bewältigbar zu machen, ist eine der vornehmsten Aufgaben anwendungsbezogener Sozialwissenschaften. Acemoglu und Robinson gelingt das in beeindruckender Weise. Ihre Kernthese lautet: Erfolgreich sind Gesellschaften nur, wenn es ihnen gelingt, die Grundregeln von Inklusion zu beachten – Pflichtlektüre für alle, die wissen wollen, wie Wohlstand geschaffen wird.
Daron Acemoglu & James A. Robinson: Warum Nationen scheitern, S. Fischer 2013
Constanze
Stelzenmüller
Robert Bosch Senior Fellow, Brookings
Eine elektrisierende Lektüre zum Gedenkjahr 1914–2014: Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“, entstanden 1915–22. Ein unspielbares Theaterstück in mehr als 200 Szenen, mit einer unsterblichen Hauptfigur, dem „Nörgler“; eine bitterböse, tödlich präzise Realsatire auf den „tragischen Karneval“ des Ersten Weltkriegs; und eine Vorwarnung auf den Zweiten. Eine Lehre auch für unsere Tage.
Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit – Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, Jung und Jung 2014
Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S. 130-134