Buchkritik

27. Okt. 2011

Pflichtlektüren

20 Leseempfehlungen zur Außenpolitik

„Welches Buch zur internationalen Politik war in diesem Jahr das wichtigste für Sie und warum?“ Diese Frage haben wir an Politiker, Wissenschaftler und Publizisten gestellt. Das Ergebnis: Nicht jedes Werk, das man 2011 gelesen haben sollte, um aktuelle Phänomene wie den arabischen Frühling besser zu verstehen, ist auch in diesem Jahr entstanden.

Egon Bahr
Bundesminister a. D.

Die aufregende Auswertung Moskauer Akten durch die amerikanische Historikerin Hope M. Harrison. Der mächtigere 
Chruschtschow speist den unentbehrlichen Ulbricht mit der Mauer ab zugunsten des gemeinsamen Interesses zwischen Washington und Moskau, die Teilung nicht nur in Berlin und Deutschland, sondern auch in Europa zu sichern.  Diesen Status quo konnten die Supermächte 29 Jahre erhalten.
Hope M. Harrison: Ulbrichts Mauer, 
Propyläen 2011

Wolfgang Gehrcke
Außenpolitischer Sprecher der Partei Die Linke

Das Buch thematisiert die schreiende Ungerechtigkeit der Vorherrschaft des Westens über den Süden. Es sollte Pflichtlektüre für alle Politiker sein. Denn auch wenn sie keine Außen-, Sicherheits-, Menschenrechts- oder Entwicklungspolitiker sind, so sind sie doch verantwortlich für das, was mit den Menschen des Südens passiert. Unsere Lebensweise fußt auf dieser Ausbeutung.
Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen,  
C. Bertelsmann 2009

Thomas Gutschker
Politikredakteur, FAZ

Diese klug kommentierte Anthologie von Texten aus der Feder von Osama Bin Laden, Ayman al-Zawahiri, Abdullah Azzam und Abu Musab al-Zarqawi ist die beste Einführung in die Ideologie von Al-Qaida. Ich habe sie wieder zur Hand genommen und viel darin gelesen, als die Nachricht vom Tod Bin Ladens kam und Zawahiri zu seinem Nachfolger bestimmt wurde.
Gilles Kepel und Jean-Pierre Milelli (Hrsg.): 
Al-Qaida. Texte des Terrors, Piper 2006

Christoph Heusgen
Außenpolitischer Berater der Bundesregierung

Die Geschichte eines Ehrenmords in einer türkischen Familie in Berlin, gut recherchiert und fesselnd geschrieben. Außenpolitisch demonstriert das schreckliche Verbrechen die Absurdität der Forderung türkischer Politiker, auch nachfolgende Generationen türkischer Einwanderer sollten zunächst die türkische Sprache lernen. Es zeigt aber auch, dass ausreichende Sprachkenntnisse allein nicht genügen, um Erfolge bei der Integration zu erreichen.
Matthias Deiß und Jo Goll: Ehrenmord. 
Ein deutsches Schicksal, Hoffmann und Campe 2011

Elke Hoff
Sicherheitspolitische 
Sprecherin der FDP   

Das Buch schildert mit akribisch recherchierten Fakten und in beklemmender Weise, wie tief sich die Anschläge von New York auf die Bedrohungswahrnehmung ausgewirkt haben und welches bürokratische Monster daraus entstanden ist. Die USA sind zu einem Staat geworden, der alles kontrolliert und dabei in Gefahr gerät, den Überblick über die Informationsflut zu verlieren.
Dana Priest und William M. Arkin: Top Secret America, Little, Brown and Company 2011

Gunter Hofmann
Freier Publizist

Mit seinem „Realismus“ bezeugt der Theologe und Philosoph, auf den Barack  Obama sich beruft, dass es eine Alternative zur fundamentalistischen Kreuzzugsmentalität gibt: Ohne der eigenen Haltung moralisches Auserwähltsein zuzubilligen, aber auch ohne seine Maßstäbe aufzugeben, könnte man sich so mit den arabischen Demokratiebewegungen verständigen.
Reinhold Niebuhr: Moral Man and Immoral 
Society, Scribner’s 1932

Josef Joffe
Herausgeber der ZEIT

Das wichtigste Buch über Wesen und Geschichte der internationalen Politik in den letzten 20 Jahren. Es beginnt im 17. und endet im 20. Jahrhundert: ein brillanter Streifzug durch die Staatskunst und Staatengeschichte. Die intellektuelle Optik ist die der Realpolitik und Staatsräson – zweier Begriffe, die heute eher negativ besetzt sind, aber die Politik der Staaten ein halbes Jahrtausend lang geprägt haben. Ein Must-Read für jeden, der mehr wissen und verstehen will als Wiki und die Schlagzeilen liefern.
Henry Kissinger: Diplomacy, Simon & Schuster Ltd. 1994   

Karl Kaiser
Professor für internationale
Politik, Harvard

Daniel Yergin, Amerikas größte Autorität in globalen Energiefragen, hat eine brillante Studie vorgelegt. Sie analysiert die internationale Politik der Neuzeit unter dem Blickwinkel der Energieproblematik. Pflichtlektüre für jeden, der die zentralen Antriebskräfte der modernen Welt begreifen will.
Daniel Yergin: The Quest. Energy, Security, and the Remaking of the Modern World, Penguin 2011

Hans-Ulrich Klose
Stellvertr. Vorsitzender 
Auswärtiger Ausschuss des Deutschen Bundestags

Der amerikanische Historiker liefert eine unglaublich detailreiche und hinreißend geschriebene Darstellung dieser wichtigen Jahre des Wandels von der Morgenthau-Politik der Vergeltung hin zur Einbeziehung Deutschlands in die westliche Welt.
John H. Backer: Die deutschen Jahre des 
Generals Clay, C. H. Beck 1983

Stefan Kornelius
Leiter Außenpolitik, 
Süddeutsche Zeitung

Eine Entdeckung zu China, weil man nicht genug lernen kann über das Land und vor allem die Kommunistische Partei. McGregor beleuchtet das klandestine chinesische System mit gleißendem Licht. Die KPCh wird sich daran gewöhnen müssen.
Richard McGregor: The Party. The Secret
World of China’s Communist Rulers, 
HarperCollins 2010

Hanns W. Maull
Professor für Internationale Beziehungen, Trier

Ian Morris stellt die heutigen Herausforderungen der Weltpolitik in einen großen zivilisationsgeschichtlichen Zusammenhang. Dabei zeigt der britische Wissenschaftler, wie historisch einzigartig und unvergleichbar unsere gegenwärtige Lage ist.
Ian Morris: Wer regiert die Welt? Warum 
Zivilisationen herrschen oder beherrscht 
werden, Campus 2011

Philipp Mißfelder
Außenpolitischer Sprecher der CDU

Spannend schildert das Buch die Auseinandersetzung zwischen „Transatlantikern“ wie Gerhard Schröder und den „Gaullisten“. Die Geschichte hat gezeigt, dass der außenpolitische Kompass Schröders in einer entscheidenden Phase die richtige Richtung gewiesen hat.
Torsten Oppelland: Gerhard Schröder (1910–1989), Droste 2002

Kerstin Müller   
Außenpolitische Sprecherin von Bündnis 90 /Die Grünen

Jeder, der verstehen will, wie es zum arabischen Frühling gekommen ist, muss dieses Buch gelesen haben. Tahar Ben Jelloun hat einen wunderbaren politischen Essay geschrieben, der auch literarisch ein Genuss ist.
Tahar Ben Jelloun: Arabischer Frühling, 
Berlin Verlag 2011

Rolf Mützenich
Außenpolitischer Sprecher der SPD

Das Buch vermeidet deterministische Erklärungen und versteht die Geschichte Jugoslawiens als ergebnisoffenen Prozess. Calic zeigt überzeugend, dass die Vorgeschichte der Jugoslawien-Kriege weit vielschichtiger ist, als es die Vorstellung von den rückständigen und blutrünstigen Balkan-Völkern wahrhaben will.
Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, C. H. Beck 2010

Günther 
Nonnenmacher
Herausgeber der FAZ

Es scheint mir nötiger denn je zu sein, sich auf Grundlagen und Maximen deutscher Außenpolitik zu besinnen, weil sonst dem wiedervereinigten Deutschland der Kompass fehlt.
Waldemar Besson: Die Außenpolitik der Bundesrepublik, Piper 1970

Volker Perthes
Direktor Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)

Gibbon als Historiker des 18. Jahrhunderts schreibt eben, wie man damals Geschichte geschrieben hat. Aber die Themen sind von bleibender Aktualität: Überdehnung; Populismus und Unterminierung republikanischer Institutionen; der enge Zusammenhang von innerer Entwicklung und äußerer Gestaltungsfähigkeit.
Edward Gibbon: Verfall und Untergang des Römischen Reiches,  Eichborn 2004   

Ruprecht Polenz
Vorsitzender Auswärtiger Ausschuss des Deutschen Bundestags

Der Roman erklärt nicht nur die ägyptische Gesellschaft unter Hosni Mubarak. Er macht gleichzeitig deutlich, wie groß die Herausforderungen für die arabische Revolution sind. Und er macht Hoffnung, dass die Tunesier, Ägypter und anderen arabischen Völker es schaffen können, mehr Freiheit, Recht und Wohlstand zu erkämpfen.
Alaa al-Aswani: Der Jakubijan-Bau, Lenos 2007

Eberhard 
Sandschneider
Direktor des Forschungsinstituts der DGAP

Wer Geschichte, ihre großen Leitlinien und Entwicklungstendenzen verstehen will, muss dieses Buch zur Hand nehmen. Winkler erklärt, warum die westlichen Demokratien vor 100 Jahren in die Defensive gerieten – und eröffnet Perspektiven auf ein besseres Verständnis der Welt von heute.
H. A. Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914–1945, C. H. Beck 2011

Thomas Schmid
Herausgeber der Welt-Gruppe

Das Mittelmeer als ein Wasser, das nicht trennte, sondern verband: Europa mit Afrika, Orient mit Okzident. Es war, kaum übertrieben, die Wiege unserer Zivilisation. Das Buch sei Politikern und Thinktankern ans Herz gelegt, auf dass sie begreifen: Es ist fahrlässig, diesen Raum zu vernachlässigen.
F. Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Suhrkamp 1990

Constanze 
Stelzenmüller
Sen. Transatlantic Fellow, German Marshall Fund

Der deutsche Holocaust war zwar einzigartig, aber nicht einzig. Noch immer wissen wir zu wenig über die ungeheuerlichen Leiden der Bewohner der „Blutlande“ zwischen Posen und Smolensk. Die Lektüre ist schwer zu ertragen, aber unbedingt notwendig.
Timothy Snyder:  Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, C. H. Beck 2011

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 138-141

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