IP Special

25. Febr. 2022

Perlen unter 
Patina

Welthandel, Bildung, kulturelle Vielfalt: Es passiert einiges im Ruhrgebiet, aber das wird außerhalb des Reviers kaum wahrgenommen. Vielleicht liegt das auch daran, dass weder Bürger noch Politikerinnen vom Rest der Gesellschaft eine Ressource einfordern, die die Region dringend bräuchte: Aufmerksamkeit.

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Lasst uns doch in den Park gehen. Sagte die Mitbewohnerin, die ich noch nicht lange kannte. Es war ein warmer Sommertag, abends, ich war gerade aus dem Büro gekommen, man konnte noch ohne Jacke rausgehen. Klar, sagte ich, gern. Park, warum nicht. Super Idee, sagte auch der andere Mitbewohner, den ich noch nicht lange kannte.

Wir liefen also ein paar Minuten durch die Straßen der Stadt Essen. Ich kann mich nicht genau an den Weg erinnern, es ist ein paar Jahre her. Wenn Sie mich heute dorthin zurückbrächten, würde ich den Park nicht finden. Aber ich weiß noch, dass wir irgendwann vor einer, Pardon, vollgeschissenen Wiese standen. Kurzes, angebräuntes Gras, und überall, überall Kanadagänse. Die Wiese, das verstand ich, als wir einmal um sie herumliefen (die Mitbewohner hatten vorgeschlagen, „spazieren zu gehen“) gehörte zu einem Neubaugebiet. Häuser mit drei, vier Etagen, ein paar Townhouses dazwischen, mit kleinem Gartenanteil, Sondernutzungsrecht. Die Hecken waren noch ganz kurz, gerade erst eingepflanzt. Alle Bänke um die Wiese herum waren leer, wir wollten uns setzen, um eine Zigarette zu rauchen.

Am Wasser? Fragte die Mitbewohnerin. Klar, sagte ich. Das Wasser, auf das man von der Bank aus blickte, war ein Betongraben, etwa drei Meter breit, mit Kanadagänsen drin, auch bräunlich. Also das Wasser, aber die Gänse auch. Auf der anderen Seite des, naja, Ufers stand ein Townhouse. Wir konnten einer Familie dabei zusehen, wie sie ihren Abend verbrachte, und die Familie konnte uns dabei zusehen, wie wir rauchten. Mücken flogen um meine Beine herum. Die Mitbewohner tranken Bier. Ich wollte sie fragen, ob sie das ernst meinten, diese piefige Grünfläche als Park zu bezeichnen. Sich genüsslich hinzusetzen an einem Ort, der gerade erst aufgeschüttet wurde. Aber ich traute mich nicht.

Bis zu diesem Abend hatte ich gedacht, dass ich zurückmüsste. Ins Ruhrgebiet. Dass ich nur hier „ich selbst“ sein könnte. Ich war nämlich kurz vorher nach München gezogen, wegen der Ausbildung, und hasste es. Alles war so sauber. Nirgends Graffiti. Die Leute liefen langsam und pöbelten nicht, jedes Fahrrad kostete mehr als alle meine Nahrungsmittel für ein halbes Jahr, jedes Auto kostete mehr als alles, was ich jemals auf meinem Konto haben zu können glaubte. Ich sehnte mich nach zuhause.

Nach Dortmund, Essen, Duisburg, so­gar ein bisschen nach Gelsenkirchen und Castrop. Nach den Städten, die alle gleich aussehen: ein Bahnhof mit Herumlungernden davor, eine Fußgängerzone, in der Jungs in Fußballschuhen ihr ganzes Geld für ein neues Paar Fußballschuhe ausgeben, drumherum die Wohnbebauung der Nachkriegszeit. Kleine Fenster, verputzte Fassaden. Steine. Beton. Dreck. Man weiß nicht mal, woher dieser Dreck kommt, denn die Kohleförderung gibt es nicht mehr und Mülleimer für den herumliegenden Abfall gäbe es ja auch – aber es ist einfach immer überall ziemlich dreckig. „Patina eben!“ Sagte ich zu meinen Münchner Freunden, um ihnen zu erklären, dass man Dreck auch schönere Namen geben kann, und stieg in den Zug nach Hause, zog in eine WG nach Essen, übergangsweise.

Heute wohne ich in Berlin. Und trage in den schlimmsten Momenten, wenn ich neue Leute kennenlerne, diesen Stolz vor mir her, den Ruhrgebiets-Expats haben. Ach, du kommst aus Duisburg? Mensch, ich bin auch da aus der Ecke. Jetzt weiß ich, warum ich dich so gerne mag. Ruhrgebiet ist einfach geil, oder? Jaaa, total. Die Leute! Die Mentalität! Wie oft bist du noch da? Ach, das letzte Mal Weihnachten.



Superlative im grauen Alltag

Deutschland hat das Ruhrgebiet ein bisschen vergessen, über all die Krisen, die noch zu händeln sind. Dabei ist das Ruhrgebiet die am dichtesten besiedelte Region Deutschlands, quasi die größte Großstadt, die wir haben. Als wir das in der Schule lernten, waren wir Kinder etwas stolz darauf, weil es wenigstens irgendein Superlativ war im sonst recht grauen Alltag.

Aber: Wenn es darum geht, wo sich die meisten Leute mit Corona anstecken, dann schaut man eher in die Plattenbausiedlungen von Köln oder Berlin als in die Dortmunder Nordstadt. Wenn es darum geht, wo viele Leute rechts wählen, weil sie sich „abgehängt“ fühlen, dann schaut man eher nach Sachsen als nach Duisburg-Marxloh. Wenn es darum geht, wo der Klimaschutz umgesetzt werden muss, dann schaut man zuerst in die Lausitz, wo die Leute arbeitslos werden, wenn die Kohleförderung aufhört, und dann in die ländlichen Räume, wo die Leute sauer auf die Politik sind, weil plötzlich überall Windräder stehen sollen. Natürlich gäbe es all diese Themen auch im Ruhrgebiet. Aber fragen Sie mal jemanden in Berlin oder Hamburg, wo das Ruhrgebiet liegt. Die sagen dann immer: Düsseldorf.

Selbstmitleid bringt nichts, es steht dem Ruhrgebiet auch nicht. Aber natürlich kommt ein Ungerechtigkeitsgefühl auf. Als ich mit 18 Jahren zum ersten Mal in Leipzig war, haute mich alles komplett um. Da stand eine Universität in der Stadt, die aussah wie eine Kirche aus Glas. Da wohnten die Leute in wunderschönen Altbauten. Die Straßen waren breit, die Bäume grün. In meiner Erinnerung war es die ganze Zeit hell. Ich hatte die Dörfer in Brandenburg und Sachsen noch nicht gesehen, die Tristesse, den Leerstand, die Armut. Ich hatte noch nicht verstanden, dass zwar die Städte mit viel Geld saniert wurden, die Menschen und ihre Perspektiven allerdings nicht. Aber in diesem Moment, in dieser Stadt, verstand ich wirklich gar nicht, wie man sich „abgehängt“ fühlen soll, wenn alles so schön ist.

Im Ruhrgebiet wählen verhältnismäßig wenige Menschen die AfD. Nicht mal 7 Prozent waren es bei der Bundestagswahl im letzten Jahr in Dortmund, zum Beispiel. In Gelsenkirchen, der Stadt, die eine der höchsten Arbeitslosenquoten der Bundesrepublik hat, waren es knapp 13 Prozent. Der durchschnittliche Ruhrgebietseinwohner, das ist jetzt private Empirie, stört sich nicht an Migration.

Mag daran liegen, wie wir aufgewachsen sind. In meiner Grundschulklasse hießen zwei Mädchen Oksana, aber nur eins Lisa. Unsere Musiklehrerin bat in der ersten Stunde alle Kinder darum, ihr die Formulierung für „Guten Morgen“ in ihrer Muttersprache zu sagen. Sie machte daraus ein Lied, das wir am Anfang je­der Stunde singen mussten, es endete mit „kalimera / kalimera / strasti / strasti“, und manchmal summe ich es heute noch.

Wir wussten nicht, dass es Städte gibt, Landkreise, Orte, in denen die meisten Kinder in den Grundschulen deutsch sind. In denen es sogar komisch sein könnte, wenn die Eltern aus einem anderen Land kommen. Es wäre die perfekte interkulturelle Paradieswelt gewesen, meine Grund­schule, wenn es nicht auch so gewesen wäre: Die biodeutschen Kinder kamen aufs Gymnasium, die anderen nicht alle.

An Bildung denkt man irgendwie nicht, wenn man ans Ruhrgebiet denkt. Sie wussten wahrscheinlich noch nicht, dass es hier die dichteste Hochschullandschaft in ganz Europa gibt? 22 Unis sind es, eine ist sogar über zwei Städte verteilt: Universität Duisburg-Essen. Praktisch, weil die Städte sowieso quasi ineinander liegen. Die Universität Duisburg gab es eigentlich schon 1655, aber 1818 wurde sie aufgelöst und in Bonn neu gegründet. Das ist so eine goldene Regel im Ruhrgebiet: Wenn es mal etwas Gutes gibt, dann verschwindet es ins Rheinland – auch die Büros, die Verwaltungen der Kohle- und Stahlindustrie zogen nach Düsseldorf, an den Rhein. Zur besseren Luft. Mit ihnen das Geld.



Eine eigene Art von Idylle

Aber die Leute, die im Ruhrgebiet leben, wollen nicht unbedingt hören, dass es dort, naja, schöner sein könnte. Sie glorifizieren weiterhin den Bergbau. Sie lieben die Industriekultur, die Folklore, die sich um die Industrialisierung rankt. Sie haben sich damit abgefunden, wie es ist.

Eine eigene Art von Idylle – eine Idylle, in der Parks eigentlich Neubaugebiete sind und in der Radwege im Nichts enden. Eine Idylle, in der es Seen gibt, in denen man nicht schwimmen darf, und Wälder, durch die man recht schnell hindurch spaziert ist. Sie haben sich auch an vielen Orten mit einer Politik abgefunden, die saturiert ist. Der Journalist Stefan Laurin hat das sehr schön aufgeschrieben in einem kleinen Buch, es heißt „Das Ruhrgebiet ist am Ende“ und handelt etwa von der großen Frage, warum das Ruhrgebiet über so lange Zeit nicht zu einer Region wurde, mit einer gemeinsamen, verbindlichen Regionalplanung. Ich fasse Ihnen die Antwort kurz zusammen: Da waren viele Egos im Weg.

Aber es ist ja auch so: Warum sollte man politisch mit irgendetwas voranpreschen, wenn es erstens schon genug Probleme gibt und zweitens aus der Be­völkerung kaum Forderungen kommen. Nach Freiräumen. Nach Dingen, die schön sind. Man gibt sich mit wenig zufrieden: In Dortmund wurde vor ein paar Jahren der Busbahnhof abgerissen, der wirklich sehr hässlich war. Nun steht an der gleichen Stelle das „Fußballmuseum“, ein Ticket für einen Erwachsenen kostet 19 Euro. Es ist ein weiteres dieser Großprojekte, die die Städte beleben sollen, Besucher anlocken. Nur schade, dass die auswärtigen Besucher des Fußballmuseums nicht viel mehr von Dortmund sehen als den Bahnhof und den Eingang zum Museum. Wäre es nicht schön, wenn mal etwas zur Verbesserung der Lebens- und Luftqualität gebaut würde?

„Wir haben doch das Schauspielhaus“, sagen die Leute in Bochum – das ist doch toll, das reicht. „Wir haben die Oper“, ­sagen die Leute in Essen – und es stimmt, es ist eine super Oper. Die Leute in Bottrop haben den Movie Park, darauf sind sie auch stolz. Die Vergleichsgröße für das Wohlfühlen an ihrem Wohnort ist für die Menschen im Ruhrgebiet nie das, was vielleicht einmal sein könnte. Sie träumen nicht. Sondern sie vergleichen mit dem, was früher war. Früher hatten wir kein Schauspielhaus, keine Oper, keinen Freizeitpark. Dafür war die Wäsche immer dreckig, wenn sie draußen hing. „Heute is’ besser.“

Der derzeitige Dortmunder Bürgermeister Thomas Westphal kommt aus Lübeck. Er kam ins Amt mit dem Slogan „Besser werden, Dortmund bleiben“. Naja. Bevor Westphal Bürgermeister wurde, war er Juso-Vorsitzender, anschließend arbeitete er für die Wirtschaftsförderung des Ruhrgebiets, die ironischerweise „Metro­pole Ruhr“ heißt. Ebenfalls ein Marketingslogan, der letztendlich sinnlos ist. Denn das Ruhrgebiet ist mit seinen vielen verschiedenen Zentren allenfalls eine Metropolregion. Die Gesellschaft will mit dem Metropolen-Claim auf jeden Fall als „Impulsgeber die Metropole Ruhr für zu­kunftsweisende Projekte weiterentwickeln sowie das Image des Wirtschaftsstandorts als leistungsstarke und innovative Region national und international fördern“.

Das ist, was alle wollen, das ist, worauf sich Politik fokussiert. Unternehmensansiedlungen, Arbeitsplätze. Das Ruhrge­biet wurde umgegraben, sein Untergrund wurde ausverkauft. Nun konzentriert sich Politik darauf, den Boden zu verkaufen, die Oberfläche, die übrig geblieben ist. Es ist mühsam, das zu kritisieren. Tatsächlich kommt die Forcierung von ökonomischer Weiterentwicklung zu spät, man hätte bereits in den achtziger, neunziger Jahren damit anfangen sollen. Leider dachte man damals noch, der Markt würde die meisten Dinge von alleine regeln.

In manchen Städten, in Essen etwa oder in Herne, funktioniert das Ankurbeln der Wirtschaft sehr gut. Fünf der 50 umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands haben ihren Hauptsitz in Essen, Aldi etwa baut dort gerade an einem neuen Bürogebäude. Auf ihrer Website wirbt die Essener Wirtschaftsförderungsgesellschaft damit, dass es seit 2010 sogar eine internationale Schule gibt, mit Ganztagsbetreuung und angeschlos­senem Kindergarten. Und in Herne, beziehungsweise im nahegelegenen Duisburg, kam im Juni ein Containerzug aus China an – die Chinesen wollen ja eine sogenannte „Neue Seidenstraße“ einrichten. Handelsrouten, durch die ganze Welt; denn Züge sind zwar langsamer als Flugzeuge, aber deutlich günstiger. Herne sieht sich als zukünftiger Logistik-Hot­spot, ebenfalls im Juni reiste eine Delegation aus dem Ruhrgebiet nach Kentucky, um mit UPS in Kontakt zu kommen.

Es passiert hier also viel, aber das viele ist nicht direkt fühlbar, und es wird vor allem im Rest von Deutschland kaum bemerkt. Vielleicht liegt das auch daran, dass weder Bürger noch Politikerinnen vom Rest der Gesellschaft eine entscheidende Ressource einfordern, die die Region dringend bräuchte: Aufmerksamkeit.   

 

Anna Mayr wurde im Ruhrgebiet geboren. Nach dem Studium in Köln folgte die Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Seit 2020 ist sie Redakteurin im Hauptstadtbüro der ZEIT in Berlin

Bibliografische Angaben

IP Special 3, März 2022, S. 4-9

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