Pax Romana: Wie man ein Imperium baut – und bewahrt
Könnte der Westen in seiner tiefen Krise etwas von den Römern lernen? Mehr als man denkt. Von Soft Power und Resilienz, von Integration und einem Wohlstandsversprechen: ein aufschlussreicher Blick zurück.
Das römische Imperium ist seit jeher ein Faszinosum. Das hat in jüngster Zeit, befeuert unter anderem von TikTok, sogar noch zugenommen – warum, lässt sich leicht erklären. Wie eine Stadt in kurzer Zeit eine Welt eroberte und dann jahrhundertelang beherrschte, ist epischer Stoff und nötigt Bewunderung ab. Episch war schließlich auch der Zusammenbruch des Reiches im Westen. Er jagt uns wohlige Schauer über den Rücken: Selbst eine Zivilisation wie die der Römer konnte untergehen, wir aber sind noch da. Also ist alles gut. Oder?
Nun – wenn nicht einmal das römische Reich von Dauer war, wie steht es dann mit dem modernen Westen und seiner Zivilisation? Gilt auch für ihn John Maynard Keynes’ apodiktische Formulierung? „In the long run, we’re all dead“, auf lange Sicht sind wir alle tot. Denkt man dabei an das heutige Europa oder die USA, verlieren die Schauer alle Wohligkeit.
Außergewöhnlich langlebig
Tatsächlich höre ich keine Frage so häufig wie diese: Warum ist das römische Imperium untergegangen? Ich antworte dann meist: Die Frage ist grundfalsch gestellt. Richtig wäre: Warum hat das Imperium so lange bestanden, bevor es schließlich den Weg alles Irdischen gegangen ist? Fast 700 Jahre liegen zwischen dem Zweiten Punischen Krieg, der Rom zur mediterranen Weltmacht werden ließ, und dem erzwungenen Vorruhestand des letzten Westkaisers, Romulus, genannt Augustulus, 476 n. Chr. Zum Vergleich: Das Perserreich war rund 200 Jahre Großmacht, Spanien ebenfalls 200, das British Empire und Russland 300, das Habsburgerreich 400 und das Osmanische Reich immerhin fast 500 Jahre. Einzig Ägypten und China spielten bzw. spielen in einer anderen Liga, was die Dauer imperialer Kontinuität angeht.
700 Jahre sind selbst in welthistorischer Perspektive eine Ewigkeit. Was verlieh der römischen Herrschaft solche außergewöhnliche Dauer, was machte das Imperium resilient gegenüber allen möglichen Bedrohungen, denen es selbstverständlich wie alle Staaten ausgesetzt war? Und was könnte das für heute bedeuten? Ich möchte als Arbeitshypothese drei Faktoren nennen, mit denen sich die exzeptionelle Langlebigkeit des Imperiums erklären lässt.
Erstens, das strategische Umfeld: Rom besaß über lange Phasen seiner Geschichte keinen ebenbürtigen Gegner. Die Welt der Antike war, soweit der Westen des afro-eurasischen Großkontinents betroffen war, unipolar. Staatlich organisiert war im Umfeld des Mittelmeerbeckens außer Rom allein das Partherreich, von dem für Rom nur punktuell Bedrohung ausging.
Zweitens, Häutungsfähigkeit: Den Römern gelang es mindestens zweimal, ihr Imperium in Krisen gleichsam neu zu erfinden – am Ende der Republik und um 250 n. Chr. Ohne seine Selbstähnlichkeit zu verlieren, ging das Imperium nach erfolgreichem Strukturwandel gestärkt aus den Krisen hervor.
Drittens, die Integrationsfähigkeit: Rom beherrschte eine kulturell, ethnisch und sprachlich äußert diverse Peripherie mit einem langfristig günstigen Verhältnis zwischen Herrschaftskosten und Herrschaftsdividende, indem es die Bevölkerung eroberter Räume konsequent zu Teilhabern des Imperiums werden ließ.
Als die Römer kurz nach 300 v. Chr. ganz Italien erobert hatten, war die Halbinsel von potenziellen, dazu übermächtigen Feinden förmlich umzingelt. Im Westen war Karthago die dominierende Seemacht, im Osten teilten sich die drei großen Bruchstücke des Alexanderreichs die Hegemonie. Selbst Pyrrhos, der Kleinkönig eines Balkanfürstentums, konnte Roms Herrschaft in Italien gefährlich werden. Am 22. Juni 168 v. Chr. siegte ein römisches Heer über Makedonien.
Nur rund einen Monat später verwies der römische Gesandte Popillius Laenas im ägyptischen Eleusis den König des mächtigen Seleukidenreichs in die Schranken, ohne dass ein einziger Legionär zugegen gewesen wäre. Antiochos IV. wollte Kapital aus einer politischen Krise in Ägypten schlagen, bekam aber schon kalte Füße, bevor Alexandria überhaupt in Sichtweite war, so robust war der Emissär des Senats dem König gegenüber aufgetreten. Ab diesem Tag im Juli 168 v. Chr. war Rom die unangefochtene Hegemonialmacht im Mittelmeer. Karthago, Makedonien, das Seleukiden- und das Ptolemäerreich: Sie alle waren nach wenigen Jahren entweder Geschichte oder bloße Schatten ihrer selbst.
Imperium ohne nennenswerte Widersacher
Wie hatte es so schnell so weit kommen können? Das Geheimnis der römischen Expansion bestand darin, dass Roms Gegner stets einzeln gegen die Tiberrepublik kämpften. Nur einmal, im Zweiten Punischen Krieg, verbündeten sich Makedonien und das von Hannibal geführte Karthago, schafften es aber nicht, ihre Kriegführung zu koordinieren. So konnten die Römer einen Gegner nach dem anderen vom Spielfeld nehmen. Die kleineren Mächte suchten nicht etwa Zuflucht zum Mikrolateralismus, im Gegenteil: Sie suchten Roms Bündnis gegen ihre größeren Nachbarn und lieferten den Herren vom Tiber auf diese Weise oft erst den Grund, um fernab von Italien zu intervenieren. Die Macht der räuberischen Republik ging von einem Aggregatzustand in den nächsten über: Die Römer konnten auf die Anwendung unmittelbarer Gewalt verzichten und sich, wie der Tag von Eleusis illustriert, auf deren Androhung beschränken. Der Soziologe Heinrich Popitz spricht in diesem Zusammenhang von „Aktionsmacht“ und „instrumenteller Macht“. Instrumentelle Macht, die Macht des Drohens und Belohnens, kommt in der Durchsetzung wesentlich günstiger als die Macht der nackten Gewalt.
Das Mittelmeer wurde unterdessen zum mare nostrum, jenseits der immer weiter gezogenen römischen Grenzen befanden sich – außer den Parthern und anfangs einigen kleineren Königreichen – nur noch tribal organisierte Gesellschaften. Stämme unternahmen zwar vereinzelt Beutezüge auf römisches Territorium, konnten aber stets ohne größere Umstände zurückgeschlagen werden. Rom war ab 168 v. Chr. ein Imperium ohne nennenswerte Widersacher. Auch das reduzierte die Kosten von Herrschaft.
Deshalb konnte der Dichter Vergil Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. mit Fug und Recht behaupten, der höchste Staatsgott Iuppiter habe den Römern ein imperium sine fine verliehen: ein Reich ohne Grenze in Zeit und Raum. Der Prinzipat, der sich als neues politisches System unter Augustus aus der untergegangenen Republik schälte, bezog seine Stabilität maßgeblich daraus, dass der Friede, die Pax Romana, unangefochten blieb. Augustus’ Nachfolger waren durch militärische Krisen kaum je herausgefordert, und wenn doch, war es vor allem ein innerer Krisenherd, der sie beschäftigte: die notorische Unruheprovinz Judäa. Das kleine Land weit im Osten tickte schon in der Antike anders als der Rest der Welt. Hier prallten die religiösen Befindlichkeiten der Juden frontal auf den römischen Herrschaftsanspruch. Angeheizt wurde die Eskalationsspirale durch römisches Missmanagement. Dreimal entlud sich der aufgestaute Hass in blutigen Aufständen: 66, 115 und 132 n. Chr. Freilich: Die Ausnahme von der Regel unterstreicht die Ruhe, die überall sonst herrschte. Spätestens nach einer Generation hatte sich die römische Herrschaft überall dort konsolidiert, wo Legionäre ihren Fuß hinsetzten.
Im Zangendruck wandernder Stämme
Mit dem sozusagen außenpolitisch schönen Wetter und dem Unipolarismus war es allerdings ab den 220er Jahren aus und vorbei. Im Osten erschien mit dem persischen Sasanidenreich ein neues Imperium auf der Bildfläche, und im Nordwesten wandelten sich die kleinen, wenig mobilen Stämme zu großen tribalen Konföderationen, die sich in Richtung der Reichsgrenzen auf Wanderschaft begaben. Die Herrschaft des Kaisers Severus Alexander (222–235 n. Chr.) markiert für Rom eine veritable Wasserscheide, eine wahre Zeitenwende nach modernen Begriffen: Für rund 50 Jahre geriet das Imperium in den Zangendruck wandernder Stämme und des westwärts expandierenden Sasanidenreichs. Die militärische Krise wuchs sich zur fiskalischen und zur politischen Krise aus, an der das Reich um ein Haar zerbrochen wäre.
Der Zusammenbruch der Republik in den Stürmen von Bürgerkriegen und die Zeitenwende der 220er Jahre sind die beiden großen Krisen, die Rom nur überlebte, weil es sich zu strukturellen Veränderungen aufraffen konnte, in denen sich das Imperium vollständig häutete. Die politische Ordnung der Republik mit einer Elite aus wenigen Familien, die ihre Berufung im Dienst am Gemeinwesen sahen, aber in einem hypertrophen Konkurrenzverhältnis zueinander standen, war der Verwaltung eines Weltreichs nicht gewachsen. Es fehlte an Professionalität, Kohäsion und jeglicher Perspektive für ein Imperium, das mehr sein wollte als die zusammeneroberte Peripherie einer Stadt am Tiber.
Das von Augustus begründete System, der Prinzipat, gab der römischen Welt ein Mehr an Professionalität, Zusammenhalt und vor allem eine Perspektive. Der Kaiser verklammerte in seiner Person symbolisch alle Teile des Imperiums. Er war nicht nur der Herrscher der Römer, sondern aller Bewohner der mediterranen Welt. Und er konnte seine Legitimität auf etwas gründen, das er den Menschen im Gegenzug für die Steuern gab, die sie auch unter seiner Regierung selbstverständlich zahlen mussten: pax, Frieden. Pax bedeutete die Abwesenheit der Bürgerkriege, die das Mittelmeer jahrzehntelang erschüttert hatten, aber auch die unangefochtene römische Herrschaft, die den Reichsbewohnern Sicherheit und einen präzedenzlosen Wohlstand bescherte. War die Stadt Rom zuvor Kostgängerin der Provinzen gewesen, verwandelte sich das Imperium jetzt in einen Dienstleister in Sachen Recht, Ordnung und Prosperität.
Bürokratie mit professioneller Funktionärsauslese
Überschritt Rom unter Augustus die „Schwelle“ (Michael Doyle) zwischen einem improvisierten Cluster aus erbeuteten Provinzen und einem echten Imperium, so verwandelte sich in der Krise des 3. Jahrhunderts der patrimoniale Herrschaftsverband des augusteischen Prinzipats in einen bürokratischen Apparat auf der Grundlage professioneller Funktionärsauslese. Die Kaiser ab Severus Alexander mussten auf multiple militärische Herausforderungen reagieren. Sie mussten deshalb in militärische Fähigkeiten investieren, quantitativ und qualitativ. In der Krise löste eine völlig neue Elite die alte Führungsschicht der Senatoren ab: Spitzenpositionen wurden zunehmend von Berufssoldaten und Juristen besetzt. Letztere hatten ein Studium an einer der Rechtsschulen des Reiches absolviert. Viele Angehörige der neuen Elite aus Militärs und Juristen waren soziale Aufsteiger, manche waren die Söhne von Sklaven oder entstammten Provinzen, die aus italischer Sicht bestenfalls halbzivilisiert waren. Doch in der Krise wandelte nicht nur die Elite ihr Gesicht. Der Ausbau militärischer Fähigkeiten kostete Unsummen von Geld und überforderte zunächst den Fiskus, der ohne eine echte Bürokratie kaum verlässliche Steuereinnahmen generieren konnte. Die Folge waren politische Instabilität und immer wieder Bürgerkriege. Am Ende bekamen die Kaiser die Krise in den Griff, indem sie die Besteuerung der Reichsbewohner rationalisierten und die Verwaltung professionalisierten.
Auf ein verändertes Bedrohungsszenario reagierte das Imperium, indem es seine Leistungsfähigkeit in verschiedenen Sektoren signifikant erhöhte. Freilich zahlte es dafür einen immensen Preis: Der Militär- und Bürokratieaufwuchs war nicht zum Nulltarif zu haben, sondern kostete die Steuerbürger immense Summen. Die Kaiser waren nicht dazu in der Lage, die Wertschöpfung im Imperium signifikant zu heben. Die technologische wie organisatorische Innovationsleistung der römischen Wirtschaft war überschaubar, die ökonomische Verflechtung der römischen Mittelmeerwelt ab Ende des 3. Jahrhunderts sogar rückläufig, weil infolge der fiskalischen Überforderung die Silberwährung immer weicher geworden und schließlich um 270 n. Chr. zusammengebrochen war. Weite Teile des Imperiums fielen Ende des 3. Jahrhunderts in die Naturalwirtschaft zurück. Die westlichen Provinzen waren seitdem deutlich ärmer und fielen gegenüber dem Osten zurück.
Machtvolles Aufstiegsnarrativ
Im französischen Lyon wurde 1528 eine große Bronzeinschrift gefunden. Der Text ist das Protokoll einer Senatssitzung, die im Jahr 48 n. Chr. stattfand. Redner ist niemand Geringerer als der Kaiser Claudius. Das Gesetz, für das er sich starkmacht, sieht die Aufnahme von Männern aus vornehmen gallischen Familien in die Elite vor. Das Protokoll verzeichnet Zwischenrufe, mit denen die italischen Senatoren ihren Unmut kundtun. Dass ein Kaiser von Senatoren unterbrochen wird, ist bemerkenswert genug. Noch mehr Beachtung verdienen allerdings der Inhalt der Rede und die Gründe, warum sie den hohen Herren nicht passte. Der Historiker Tacitus zitiert aus derselben Rede und lässt Claudius ein wenig langatmig begründen, warum Rom die gallische Elite integrieren müsse. Der Kaiser holt historisch weit aus: Die Spartaner und Athener hätten Besiegte stets wie Unterworfene behandelt und seien deshalb in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. „Aber unser Gründervater Romulus war so weise, dass er mehrfach an einem Tag kämpfte und die Besiegten zu Römern machte“, ruft Claudius den Senatoren zu. Und: „Dass den Söhnen von Freigelassenen Ämter übertragen werden, ist nicht so neu, wie viele fälschlich annehmen, sondern war in der alten Republik durchaus gängige Praxis.“
Claudius verkündet ein machtvolles Aufstiegsnarrativ: Wer gestern noch Opfer der römischen Expansion war, weil seine Heimat von den Römern erobert oder er zum Sklaven gemacht wurde, kann morgen Bürger, ja sogar Magistrat sein. Aus Nichtrömern werden Römer, weil die Hierarchien des Imperiums durchlässig sind, und weil Zugehörigkeit attraktiv ist. Was den Senatoren gründlich gegen den Strich ging, war in der historischen Wirklichkeit ein erfolgreiches Integrationsmodell, das in den verschiedenen Teilen des Imperiums ganz unterschiedlich funktionierte: in den bereits seit Jahrtausenden urbanen Räumen des Nahen Ostens anders als in Griechenland und dort wieder anders als im vor der Ankunft der Römer noch „barbarischen“ Westen.
In der Forschung wurde das allmähliche, weitgehend unspektakuläre und in erster Linie von den lokalen Eliten vorangetriebene Hereinwachsen der Peripherie ins Imperium lange Zeit als „Romanisierung“ bezeichnet. Vor allem unter angelsächsischen Kollegen gilt der Begriff seit einiger Zeit als belastet, als ob ein Idealtypus aus sich selbst heraus toxisch sein könnte. Kritisiert wird seine vermeintlich eurozentrische, ja womöglich „koloniale“ Tendenz. Mir allerdings fällt kein besserer Begriff ein, denn Romanisierung war ein dialektischer Prozess, in dem die Menschen aus den Provinzen Akteure und keine Opfer waren, der aber ohne das römische Imperium nicht vorstellbar gewesen wäre. Deshalb bilden Begriffe wie „Globalisierung“ den einschneidenden Wandel, den die Eroberung durch Rom einleitete, nur unzureichend ab. Beide Seiten profitierten. Das betont auch Claudius: Dadurch, dass Rom Nichtbürger konsequent zu Bürgern gemacht habe, sei das Imperium militärisch stärker geworden. Rom sei von Freunden umgeben.
„Was haben die Römer je für uns getan?“
Wenn die Integration durch Romanisierung so gut funktionierte, lag das an drei Versprechen, die das Imperium seinen Bewohnern gab: Erstens dem Aufstiegsversprechen, das die rechtliche Inklusion durch das römische Bürgerrecht für alle einschloss, die Reich und Kaiser loyal dienten, in erster Linie als Soldaten, aber längst nicht nur. Die Bewohner jeder noch so fernen Provinz konnten hoffen, dass ihre Kinder einst römische Bürger, ihre Enkel vielleicht Ritter oder Senatoren und ihre Urenkel sogar Kaiser sein würden.
Zweitens dem Zivilisationsversprechen, das sich in der berühmten Frage zusammenfassen lässt, die Reg, der Führer der Volksfront von Judäa, seinen Genossen in dem Monthy-Python-Klassiker „Life of Brian“ stellt: „What have the Romans ever done for us?“ Die Aquädukte, solide gebaute und vor allem beheizte Häuser sowie gepflasterte Straßen waren für die Provinzbewohner alles andere als triviale Zutaten zum Roman way of life. Innere wie äußere Sicherheit und Rechtssicherheit waren es erst recht nicht.
Drittens schließlich dem Sinnversprechen, das die Römer erfüllten, indem sie – ursprünglich von den Griechen erzählte – Geschichten verbreiteten, die jedem im Reich Fragen beantworteten, wie: Wer bin ich? Woher komme ich? Im Wissensrepositorium des Mythos lagerten identitätsrelevante Erzählungen für jeden, der Teil der griechisch-römischen Zivilisationsgemeinschaft sein wollte. Die Römer bauten die Zivilisationsgemeinschaft zielstrebig zum Sinnuniversum aus, in dem sich jeder nach eigenem Gusto einrichten konnte.
Wohlstands- und Sicherheitssphäre
Die drei Versprechen formten aus eher zufällig zusammeneroberten Provinzen eine Schicksals- und Zivilisationsgemeinschaft, die mit wenigen Ausnahmen allen, die darin wohnten, lebenswert und bewahrenswürdig erschien. Das römische Reich war eine Wohlstands- und Sicherheitssphäre, mit der sich Millionen von Menschen innerlich identifizieren konnten: noch keine Identitätsgemeinschaft vom Typus des modernen, von den beiden atlantischen Revolutionen geschaffenen Nationalstaats, aber auch mehr als die kulturell und rechtlich meist vielfach zerklüfteten Imperien der Antike wie Moderne. Als Schicksalsgemeinschaft verfügte Rom über einen Resilienzvorrat, der die Bevölkerung und insbesondere lokale Eliten auch in Krisen innerlich zum Gemeinwesen halten ließ.
Indem Rom frühere Gegner zu Teilhabern machte, reduzierte es die Durchsetzungskosten von Herrschaft auf nahezu null. Eine Herrschaft, die von den Beherrschten nicht nur als alternativlos betrachtet, sondern ausdrücklich gewünscht wird, ist die kostengünstigste Variante: Die Römer konnten selbst auf die Machtausübung des Drohens und Belohnens verzichten. Nach der Popitz’schen Typologie veränderte sich mit dem Überschreiten der Augusteischen Schwelle abermals der Aggregatzustand: von „instrumenteller“ zu „autoritativer“ Macht, die nicht mehr der äußeren Kontrolle bedarf.
Was können wir heute aus dieser Geschichte lernen? Aus Sicht einer liberalen Demokratie zunächst einmal nicht besonders viel, denn Rom war manches: eine Schicksalsgemeinschaft, ein Sinnuniversum, ein Rechtsstaat. Eine Demokratie aber war das Imperium sicher nicht und liberal war es erst recht nicht. Aber: Ähnlich dem modernen Westen besaß das Imperium in erheblichem Maße Soft Power. Die 700 Jahre römischer Weltreichsgeschichte illustrieren, wie sich Soft Power zur Konservierung und Reproduktion politischer Ordnung einsetzen lässt, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: Das geopolitische Umfeld muss passen; die gesellschaftlichen Eliten müssen in Krisen anpassungsfähig sein; und das Gemeinwesen muss denen, die dazugehören wollen, Angebote machen, um Loyalität zu generieren, Angebote, die sie nicht ablehnen konnten. In diesen Disziplinen war Rom singulär erfolgreich.
Ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis
Warum ging das Imperium am Ende doch unter? Vor dem Hintergrund der Völkerwanderung wurde das Kosten-Nutzen-Verhältnis römischer Herrschaft zusehends ungünstiger. Der neue Wanderungsschub ab dem letzten Viertel des 4. Jahrhunderts überforderte die militärischen Fähigkeiten des Imperiums. Anders als im 3. Jahrhundert manifestierte sich seine Unfähigkeit, für Sicherheit zu sorgen, nicht nur lokal, sondern (vor allem im Westen) flächendeckend. Neu ins Reich einwandernde Gruppen bewahrten sich, anders als zuvor, ihre Identität, soziale Organisation und Loyalität gegenüber Stammesführern.
Die Integrationsangebote des Imperiums stießen dort an Grenzen, wo sie auf militärisch organisierte und um charismatische Führer gescharte Stammesverbände trafen, deren Sinnen und Trachten auf Landnahme gerichtet war. Reichsbewohner, vor die Wahl gestellt, optierten aus rationalem Kalkül immer häufiger gegen Loyalität und für alternative Handlungsoptionen. Hinzu kamen kontingente Faktoren. Es wurden Fehler gemacht. Die katastrophale Niederlage des Ostkaisers Valens bei Adrianopel 378 n. Chr. gegen die Goten wäre vermeidbar gewesen, wenn die militärische Führung die Lage nicht völlig falsch eingeschätzt hätte. Zunehmend beeinträchtigte in einem auseinanderdriftenden Imperium Gerangel zwischen westlicher und östlicher Reichsführung die militärische Handlungsfähigkeit. Entscheidend war all das vermutlich nur sekundär, denn Fehler werden immer und überall gemacht. Es kommt darauf an, wie hoch die Fehlertoleranz ist, und um die war es in der Spätantike nicht mehr zum Besten bestellt.
Die eigentliche Ursache für den Zusammenbruch war, dass die Aufstiegs-, Zivilisations- und Sinnversprechen des Imperiums nicht mehr glaubwürdig waren und so nicht mehr funktionierten. Das Reich konnte nicht mehr überall Wohlstand und Sicherheit garantieren, und für die Sinnsuche war mit der christlichen Kirche jetzt eine Institution sui generis zuständig. Deshalb besaß Rom in der Krise der Völkerwanderung nicht mehr die Regenerationsfähigkeit, die es unter Augustus und im 3. Jahrhundert n. Chr. bewiesen hatte. Regenerationsfähigkeit, Wohlstand und Sicherheit: Sieht man sich knapp 2000 Jahre später im heutigen Westen um, sind das wahrlich keine Parameter, mit denen man nichts anzufangen wüsste – oder die einen nicht erschauern ließen.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 102-107
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