Internationale Presse

30. Okt. 2023

Parteien im Wahlkampf

In den Niederlanden steht ein Neuanfang bevor: Nicht nur der langjährige Regierungschef Mark Rutte zieht sich aus der Politik zurück, sondern auch nahezu alle Parteispitzen. Die Wahlen im November beherrschen die Berichterstattung.

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„In trübseligen Niederlanden herrscht Unfrieden und auch Wut auf die Politik“, schreibt das liberale NRC Handelsblad in einer Analyse zur gegenwärtigen Stimmung im Land. Während die Politiker in Den Haag von Wandel und Hoffnung sprächen, fände sich nur wenig von dieser positiven Stimmung in der Bevölkerung. Das niederländische Institut für Sozialforschung bestätige diese Momentaufnahme. Seit Jahren sehen die Niederländer die allgemeine Lage im Land immer weniger optimistisch und verlieren immer mehr das Vertrauen in die Politik. „Die Bürger sind besorgt, dass die Probleme sich stapeln und die Politik sie nicht mehr lösen kann.“ 

Das vierte Kabinett von Ministerpräsident Mark Rutte stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Nachdem bereits die dritte Regierung ­unter dem rechtsliberalen Premier Rutte schon vor Ende der Legislaturperiode zurückgetreten war, dauerte die Regierungsbildung für Rutte IV qualvolle 299 Tage – die längsten Koalitionsverhandlungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Rutte hatte die Konsequenzen aus der sogenannten Kindergeldaffäre gezogen, ein Skandal, in dem rund 20 000 Eltern fälschlicherweise des Sozialbetrugs bezichtigt wurden. Die Kindergeldaffäre, die schleppende Entschädigung der Erdbebenopfer in Groningen, eine umstrittene Klimadebatte um Stickstoffreduzierung und der ungelöste Umgang mit Asylsuchenden sind die Altlasten, die schwer auf die neue Regierung und die Stimmung im Land drücken. Der neuen Koalition aus den alten Koalitionspartnern der Rutte-Liberalen VVD, der christdemokratischen CDA, den Demokraten D66 und der kleinen Christenunion CU ­gelang kein Neuanfang und glich einer „Vernunftehe mit nicht viel Liebe“, so NRC.

Und so war kaum zu erwarten, dass Premier Rutte diese Legislaturperiode vollständig bis zum Ende regieren würde. Trotzdem überraschte der Taktiker kurz vor der Sommerpause doch noch Freund und Feind, indem er die Koalition im Streit um ein Migrationsgesetz platzen ließ und kurz darauf auch noch seinen Rückzug aus der Politik ankündigte. „Nach der kleinen Bombe von Rutte ist das politische Spielfeld vollständig offen“, schreibt die links-progressive Tageszeitung Volkskrant dazu. Nicht nur die eigene Partei sei perplex, so Volkskrant, und die bis an die Zähne bewaffnete Opposition schalte nun voller Verwirrung auf Wahlkampf um.

So dreht sich nun alles um die Wahlen am 22. November. Schon in der jährlichen Haushaltsdebatte kümmerte sich das Parlament weniger um den langjährigen Ministerpräsidenten, der in 13 Jahren das Land doch durch viele Krisen gesteuert hatte und geschickt Regierungen aus drei und vier Parteien zusammenhielt. Nach den obligatorischen Dankesworten ging man zur ­Tagesordnung über.

„Auf einmal Statist“, bezeichnet die christlich-konservative Zeitung Trouw Premier Rutte, denn: „Wer seinen Abschied verkündet hat, ist für den Rest schon weg.“ Die Bilanz von Ruttes Regierung kommentiert Het Parool mit: „Rutte IV sollte ein Reparaturkabinett werden, aber vieles bleibt kaputt.“

Es wird wild spekuliert, was der scheidende Premier nach den Wahlen außerhalb der Den Haager Politik machen wird. Seine eigene Aussage, er werde als Dozent an einer Schule arbeiten, nimmt man Rutte nicht so recht ab. Überraschend schlug er seinen Außenminister Wopke Hoekstra für den freigewordenen Posten von EU-Kommissar Frans Timmermans vor und brüskierte so Finanzministerin Sigrid Kaag, die wie geschaffen für den Posten ist und auch noch aus seiner eigenen europäischen Parteienfamilie ALDE kommt. „Wie es auch sei, das sind knallharte Machtspielchen. Sigrid Kaag wurde von einer ganzen Reihe Leuten fallengelassen, in Den Haag und Brüssel, denen es allen nicht um Europa geht, sondern ganz allein um sich selbst“, urteilt NRC. So hält sich die Vermutung, dass Rutte seine Zukunft vielleicht doch auf dem europäischen ­Parkett sieht.

Viele Niederländer werden sich bei den bevorstehenden Wahlen die Augen reiben. Nach vielen Wahlperioden mit dem immer gleichen politischen Personal tritt mit Mark Rutte voran die alte Garde nahezu vollständig ab. Nichts wird mehr so sein, wie es war, schreibt NRC. Nur Rechtspopulist Geert Wilders bleibt.

Ein schmerzhafter Abschied vor allem für die bereits erwähnte Sigrid Kaag, Chefin der Demokraten 66, die bei den jüngsten Wahlen noch einen großen Erfolg erzielt hatte. „Sigrid Kaag ist nicht abgetreten, Frauenhasser haben sie verjagt“, fasst das Online­medium De Correspondent die für die Niederlande bisher beispiellose Hetzkampagne gegen Kaag zusammen und benennt, dass Politikerinnen in den einst so toleranten Niederlanden massiven frauenfeindlichen Angriffen ausgesetzt sind.

 

Wichtige Umgruppierungen

Der Personalwechsel in der politischen Spitze bringt neue Parteien und bemerkenswerte Umgruppierungen hervor. Die für deutsche Verhältnisse ohnehin schon sehr diverse und bunte Parteienlandschaft der Niederlande, mit allein 16 Parteien im Parlament, verändert sich weiter.

In der Hoffnung, die politische Linke zu stärken, schließt sich die Partei GrünLinks mit den Sozialdemokraten der Partei von der Arbeit zusammen und zieht mit dem ehemaligen Außenminister und Europakommissar Frans Timmermans in den Wahlkampf. Die konservative Zeitung Trouw sieht in Timmermans einen möglichen Brückenbauer, der nach Jahren rechtsliberaler Regierungen auch andere Kombinationen in der politischen Mitte möglich machen könnte. „Timmermans bereitet seine Anhänger schon darauf vor, nicht ausschließlich mit linken oder progressiven Parteien regieren zu wollen. Es ist eine politische Entscheidung, breiter zu regieren, auch wenn das Wahlergebnis sehr gut ist“, so Trouw.

 

Bürger und Bauern schützen

In der politischen Mitte sieht sich auch die schillernde Parteichefin der Bauer-Bürger-Bewegung (BBB), Caroline van der Plas. Sie eroberte bei den jüngsten Parlamentswahlen einen Sitz und profilierte sich innerhalb und außerhalb des Parlaments als Außenseiterin und Kämpferin für die „kleinen Leute“ auf dem Land und in der Stadt.

Die Partei wurde mit den Bauernprotesten rund um die Debatte der Reduzierung des Stickstoffausstoßes in der Landwirtschaft groß. Stickstoff ist ein Schlüsselbegriff für Stillstand geworden. Um den hohen Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern, müssen drastische Maßnahmen ergriffen werden. Eine davon wäre, den Viehbestand einschneidend zu reduzieren, eine andere, Bauprojekte stillzulegen. Beides stößt auf massiven Widerstand in der Bevölkerung, und der Bauer-Bürger-Bewegung gelingt es, diesen Unmut zu kanalisieren. Die Partei will Bauern schützen und setzt dabei vor allem auf Lösungen durch Technologie. Ob das funktionieren kann, wird jedoch bezweifelt. So analysiert De Correspondent: „Wenn BBB seine Stickstoffpläne durchdrückt, werden die meisten Bauern ausgelöscht.“

Trotzdem hat sich die BBB laut Umfragen zu einer Partei entwickelt, mit der man bei den Wahlen rechnen muss. Obwohl die Bauer-Bürger-Bewegung 2022 bei den Wahlen für die Provinzparlamente in allen Provinzen die größte Partei wurde und in fast allen Provinzen auch mitregiert, kultiviert sie ein Underdog-Imago, beobachtet Het Parool. Von einer Protestpartei sucht BBB sich einen Platz als potenzieller Regierungspartner rechts der Mitte, auf der Seite der frustrierten Bürger und Bauern. „Es fällt auf, dass BBB einen gesellschaftlichen Wandel erzeugen möchte, jedoch mit Politikern, die genau diese alte Politik betrieben haben“, so Het Parool.

BBB hat viele Politikerinnen und Politiker aus anderen Parteien angezogen. Die Spitzenkandidatin für einen möglichen Premierposten, Mona Keijzer, kommt wie viele andere Neu-BBBer von den Christendemokraten, aber auch Politiker aus der populistischen PVV von ­Geert Wilders und dem Forum voor Democratie treten für die BBB an.

Abtrünnige allerorten. Der christlich-konservative Pieter Omtzigt wäre 2020 fast Parteichef der Christdemokraten CDA geworden, überwarf sich jedoch mit der Parteiführung und spaltete sich ab. Der Ökonom Omtzigt gilt als Fachmann für Renten, Finanzen und öffentliche Verwaltung, aber auch als hartnäckig, unbequem und unbeirrbar. Er enthüllte zusammen mit der Sozialistin Renske Leijten die Kindergeld­affäre, was ihn landesweit bekannt machte. Lange war unklar, wie der politische Einzelkämpfer weitermachen würde und ob er diesen „Robin-Hood-Bonus“ versilbern würde. „Eines ist sicher: dies ist seine Stunde. Niemand weiß, ob so eine Chance noch einmal kommt“, schlussfolgert der Volkskrant.

Für seine Partei NSC / Neuer Sozialvertrag rekrutierte Omtzigt – wie auch BBB – viele Kandidaten aus seiner alten Partei CDA. In den Umfragen liegt seine Partei knapp zwei Monate vor den Wahlen zusammen mit der regierenden VVD von Mark Rutte und dem grün-sozialistischen Bündnis von Frans Timmermans vorne. Omtzigt hat für seine neue Partei viele alte Parteigenossen aus den Landesverbänden gewonnen, aber auch Verwaltungsspezialisten. Auch wenn das Parteiprogramm noch nicht geschrieben ist, vertritt Omtzigt eine Rückkehr zu konservativen Werten, die den Gemeinschaftssinn wieder stärken und die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft besser in den Blick nehmen sollen. Unter dem Eindruck der in Schulden gestürzten Familien der Kindergeldaffäre, der in Unsicherheit und beschädigten Häusern lebenden Erdbebenopfer in Groningen und angesichts der wachsenden Wohnungsnot hat Omtzigt das Thema „bestaanszekerheid“ (Existenzsicherung) zum vorherrschenden Thema des Wahlkampfs gemacht. Andere Themen wie Energiesicherheit und die Folgen des Ukraine-Krieges fallen noch kaum ins Gewicht.

Fremdenfeindliche oder migra­tionskritische Töne spielen im Wahlkampf bislang keine große Rolle. Die drei populistischen Parteien im Parlament haben die Debatte nicht an sich reißen können. Forum voor Democratie kann kaum noch auf moderate Anhänger rechnen, nachdem Parteiführer Thierry Baudet sich in verschwörungstheoretischen Echokammern verirrt hat und noch vor Kurzem die erste Mondlandung anzweifelte. Geert Wilders hat eine stabile Stammwählerschaft, aber bisher ist es ihm nicht gelungen, Themen zu setzen.

So wird sich auch die neue Spitzenkandidatin der VVD, Dilan Yeşilgöz-Zegerius, mit dem Thema Existenzsicherung beschäftigen müssen. Sie muss Ruttes Erfolg verlängern und die Liberalen stark halten. Die bisherige Justizministerin und potenziell erste weibliche Regierungschefin der Niederlande positioniert sich innerhalb ihrer Partei rechts von Premier Rutte und ist „super-ehrgeizig und medien-klug“, schreibt Het Parool.

 

Eine strengere Asylpolitik

Am Beginn ihrer Laufbahn als Senatorin in Amsterdam trat sie für eine harte Law-and-Order-Linie ein, die Sicherheit und öffentliche Ordnung mit weitgehenden Maßnahmen garantieren wollte. Yeşilgöz scheut dabei keine Auseinandersetzung: „Man konnte sich herrlich mit Dilan in die Haare kriegen“, zitiert Het Parool den Abgeordneten Peter Kwint.

Yeşilgöz engagierte sich erst für verschiedene linke Parteien, bevor sie ihre politische Heimat bei den Liberalen fand. Sie selbst kam als Flüchtlingskind aus der Türkei in die Niederlande, ihre Eltern sind kurdisch und politische Flüchtlinge. In Yeşilgöz’ politischen Positionen spiegelt sich dieser biografische Aspekt jedoch nicht mehr wider. „Links“ sähe man nur arme Opfer, die gerettet werden müssten. Als Opfer wolle sie aber nie gesehen werden, berichtet das Algemeen Dagblad.

Die Liberalen werden unter Yeşilgöz noch weiter nach rechts rücken. Die Partei zieht vor allem mit einer strengeren Asylpolitik in den Wahlkampf. Migrationsströme weiter einzuschränken und Asylverfahren zu verschärfen, ist ein erklärtes Ziel für diesen Wahlkampf.

Noch bevor Mark Rutte seine Koalition an der Asylpolitik scheitern ließ, war er mit der italienischen Ministerpräsidentin und der EU-Kommissionspräsidentin in Tunesien, um über ein Flüchtlingsabkommen zu verhandeln. Seine Reise hatte vor allem innenpolitische Funktion und sollte seine Position innerhalb der Regierung stärken. Der Streit eskalierte über einen Gesetzvorschlag zur Verteilung von Asylsuchenden, das sogenannte Verteilungsgesetz. Es soll Städte und Gemeinden zur Aufnahme von Asylsuchenden notfalls verpflichten können. Bisher geschieht diese Verteilung auf freiwilliger Basis und führte in der Vergangenheit zu Notsituationen und ungleicher Verteilung über das Land.

„Wie Staatssekretär Eric van der Burg in der Asylkrise seinen Mut verliert“, titelte Trouw noch vor ein paar Monaten, und tatsächlich stand diesem die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Sein Gesetz soll die Unterbringungsproblematik lösen. Durch den Wahlkampf ist der Liberale jedoch in die unmögliche Situation geraten, dass er ein Gesetz verabschieden lassen muss, gegen das seine eigene Partei im Wahlkampf agiert. Sollte Yeşilgöz die Wahlen gewinnen, wird sie viel zu erklären haben.

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 132-135

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Britta Behrendt ist freiberufliche TV-Journalistin und Produzentin; sie berichtet für deutsche Medien aus den Niederlanden, u.a. für das ZDF und andere deutsche Sender.

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