IP

01. März 2004

Parteien im „System Putin“

Russland auf dem Weg zurück in die Einparteienherrschaft?

Nach den Dumawahlen vom Dezember 2003 sehen viele Beobachter Russland auf dem Weg zurück
in die Sowjetzeiten. Der Westen sollte sich jedoch nicht abwenden, sondern der jungen Demokratie
bei der Schaffung eines Mehrparteiensystems helfen, meint der deutsche Diplomat.

Vom Ergebnis her müssen die Dumawahlen vom 7. Dezember 2003 als ein herber Rückschlag für den Aufbau eines Mehrparteiensystems in Russland gelten. Denn ein Mehrparteiensystem lebt vom Wettstreit der Parteien und der von ihnen vertretenen Ideen. Die neue Duma jedoch wird ihrer Funktion als Arena des politischen Wettbewerbs kaum gerecht werden können.

Zu mächtig ist die von der Präsidentenpartei bdquo;Einheit Russlands“ gebildete Mehrheitsfraktion, zu marginal das Gewicht der politischen Konkurrenz. Die Kommunisten sind auf 52 Mandate zusammengeschmolzen, und ob sich der „Heimat“-Block und Wladimir Shirinowskijs „Liberaldemokraten“ tatsächlich in eine Oppositionsrolle begeben werden, bleibt abzuwarten. Ist damit das Experiment Parteienpluralismus in Russland gescheitert? Ist das Land gar auf dem Weg zurück in eine Einparteienherrschaft?

Die Dumawahlen illustrieren zunächst einmal die Schwäche der Parteien in Russland insgesamt. Denn die Wahlen wurden nicht von einer Partei, sondern von Wladimir Putin selbst gewonnen. „Gemeinsam mit dem Präsidenten“ hieß der Wahlkampfslogan von „Einheit Russlands“, und erst der Auftritt Putins auf dem Wahlparteitag im September 2003 ließ die Umfragewerte drei Monate vor den Wahlen sprunghaft nach oben schnellen. Gerade weil Putin im Unterschied zu seinem Vorgänger Boris Jelzin in der Bevölkerung große Zustimmung genießt, konnte erstmals in der Geschichte des neuen Russlands die „Partei der Macht“ den Sieg einfahren.

Dabei hat „Einheit Russlands“ mit 37,6 Prozent der Stimmen und 104 Direktmandaten die absolute Mehrheit in der neuen Duma eigentlich knapp verfehlt. Erst der Wechsel zahlreicher unabhängiger – oder als Direktkandidaten von kleinen Parteien gewählter – Abgeordneter zu „Einheit Russlands“ hat die Fraktion auf eine Zweidrittelmehrheit von über 300 Abgeordneten anwachsen lassen. Die Nähe zur Macht scheint den einzelnen Abgeordneten also wichtiger zu sein als demokratische Kontrolle und der Wettbewerb der Ideen. Dies gilt für die Fraktion ebenso wie für die Partei insgesamt. Nicht umsonst haftet „Einheit Russlands“ auch über zwei Jahre nach seiner Gründung das Etikett eines auf den Präsidenten ausgerichteten, administrativ geführten „Wahlvereins“ ohne gesellschaftliche Basis an. Selbst führende Mitglieder der Präsidentenpartei, wie der Vorsitzende des Arbeits- und Sozialausschusses der Duma, Andrej Issajew, sprechen von einer „Protopartei“, die sich durch programmatische Arbeit und den Aufbau lokaler Strukturen erst noch zu einer richtigen Partei entwickeln müsse.1 Die am westlichen Vorbild von Demokratie und Pluralismus orientierten Parteien „Jabloko“ und „Union der Rechten Kräfte“ scheiterten indessen an der Fünfprozenthürde. „Jabloko“ war – wenn auch mit einem bescheidenen Stimmenanteil zwischen fünf und zehn Prozent – seit den ersten Dumawahlen 1993 in allen drei Legislaturperioden im föderalen Parlament vertreten und insofern Teil einer sich konsolidierenden Parteienlandschaft.

Stattdessen erreichte der kurzfristig vom Kreml aus dem Boden gestampfte, antiliberale Wahlblock „Heimat“ aus dem Stand mit neun Prozent den Einzug in die Duma. Der Block ging als heterogenes Gebilde in die Wahlen, allenfalls zusammengehalten von der gemeinsamen Ablehnung des von Russland in den letzten 10 bis 15 Jahren gegangenen Weges. Sein unerwartet hohes Abschneiden hat nochmals alle jene „Polittechnologen“ der Moskauer PR-Szene bestätigt, denen zufolge in Russland Wahlen vor allem mit Geld, Medienzugang und ein paar „kreativen“ Ideen zu gewinnen sind. Das langwierige und mühsame Geschäft des Parteienaufbaus, ja: Parteien überhaupt als kontinuierliches Scharnier zwischen Staat und Gesellschaft sind indessen verzichtbar.

Defizite im Parteiensystem

Wird in Deutschland häufig die Übermacht der politischen Parteien beklagt, so gilt für Russland bislang das Gegenteil: Die Parteien sind kaum in der Gesellschaft verankert, haben eine geringe Lebensdauer, sind programmatisch nur schwer auseinander zu halten und werden von der Bevölkerung kaum ernst genommen.2 Die organisatorische und inhaltliche Schwäche der Parteien wird in Wahlkampfzeiten von zahlreichen politischen Consulting-Unternehmen kompensiert, die kurzfristig Politikern und Parteien ein Image verpassen.

Auch die inhaltlichen und konzeptionellen Impulse für die Politikgestaltung kommen in Russland bisher weniger von den Parteien als aus informellen Gremien, darunter der so genannten „Gemeinschaft der Experten“: Allwöchentlich treffen sich Vertreter wissenschaftlicher Institute, politischer Beratungsfirmen, Stiftungen und der dahinter stehenden Wirtschaftsgruppen zu „Expertenrunden“, erörtern aktuelle und strategische Fragen und kommen, soweit möglich, zu für den Kreml verwertbaren Ergebnissen.

Wettbewerb der Ideen und Ausgleich von Interessen finden also nur zu einem Bruchteil zwischen Parteien und gewählten Politikern statt, dafür aber um so mehr – allerdings bar jeder demokratischen Kontrolle und Legitimation – zwischen „Experten“ und Lobbyisten in mehr oder weniger geschlossenen Zirkeln. Den „Experten“ kommt ferner die wichtige Funktion zu, die Entscheidungen und Weichenstellungen des Kremls in die Medien und damit in die Öffentlichkeit zu transportieren.

Allerdings hat es den Anschein, dass Putin von dieser – unter seinem inzwischen entlassenen ehemaligen Präsidialamtschef Alexander Woloschin zur Perfektion getriebenen – „byzantinischen“ Praxis abrücken will.3 Immerhin fällt auf, mit welcher Kontinuität und Eindringlichkeit Putin zur Stärkung der Parteien aufruft, so etwa in seiner Jahresbotschaft vom Mai 2003: „Starke Parteien können und sollen das tägliche Miteinander von Staat und Gesellschaft gewährleisten und damit die Staatsmacht vor ernsthaften politischen Fehlleistungen bewahren.“ Zum Auftakt des Präsidentschaftswahlkampfs sprach sich Putin am 12. Februar 2004 für einen „zivilisierten politischen Wettbewerb“ aus und verband damit die Forderung nach „einflussreichen, starken Parteien, die bei den Bürgern Autorität und Vertrauen genießen“.4

Dass es sich hier nicht nur um Worthülsen handelt, zeigt die Vielzahl von Gesetzen, allen voran das Parteiengesetz, die in der ersten Amtszeit Putins mit dem Ziel einer Konsolidierung der Parteienlandschaft in Kraft getreten sind. Nicht nur die Erfordernisse zur Registrierung von Parteien wurden erschwert und deren landesweite Verankerung zur Voraussetzung gemacht. Noch wichtiger ist, dass Parteien fortan im politischen Wettbewerb gegenüber „Bewegungen“ und anderen gesellschaftlichen Organisationen eine – mit unserer Rechtslage vergleichbare – Sonderstellung genießen.

So hatten erstmals bei den Dumawahlen im Dezember ausschließlich Parteien die Möglichkeit, eigenständig mit einer Liste anzutreten. Andere gesellschaftliche Organisationen konnten sich nur im Verbund mit Parteien im Rahmen von Wahlblöcken beteiligen. Bei der Registrierung zu den Präsidentschaftswahlen waren ferner jene Kandidaten von der Sammlung von zwei Millionen Unterschriften befreit, die – wie der Kommunist Nikolaj Charitonow sowie LDPR-Kandidat Oleg Malischkin – von einer in der Duma mit Fraktionsstärke vertretenen Partei aufgestellt wurden. Seit den Dumawahlen 2003 bekommen im Übrigen Parteien mit einem Stimmenanteil von über drei Prozent eine, wenn auch bescheidene, staatliche Unterstützung von jährlich 50 Kopeken (ca. 1,5 Cent) pro Wählerstimme.

„Einheit Russlands“ in der Verantwortung

Vergleicht man die Aussagen bei seiner Jahresbotschaft vom Mai 2003 mit dem tatsächlich im Dezember eingetretenen Wahlergebnis, so möchte man allerdings meinen, Putin habe bei der Hervorhebung der Rolle „starker Parteien“ lediglich eine einzige Partei im Sinn gehabt. Denn allein „Einheit Russlands“ ist – bei allen strukturellen Defiziten – gestärkt aus den Wahlen hervorgegangen und verfolgt zielstrebig den weiteren Ausbau: eine Parteistiftung wurde gegründet und dringt in die politische Bildungsarbeit vor, regionale Strukturen werden aufgebaut, die Jugendarbeit intensiviert. Auch hierin unterscheidet sich „Einheit Russlands“ von allen früheren „Parteien der Macht“: Auf Wahlen folgten dort jeweils Stillstand, Marginalisierung, irgendwann die Auflösung.

Doch die Stärke von „Einheit Russlands“ muss sich nicht zwangsläufig und dauerhaft marktverdrängend und monopolisierend auswirken. Im Gegenteil: Mit Putin hat sich allen Gepflogenheiten zum Trotz erstmals ein russischer Präsident in die Niederungen der Parteienlandschaft begeben und parteipolitisch Farbe bekannt. Mit diesem Tabubruch hat Putin einem längerfristigen Prozess Vorschub geleistet, an dessen Ende trotz des Rückschlags bei den Dumawahlen durchaus die Herausbildung eines Mehrparteiensystems in Russland stehen könnte.

Denn aus dem parteipolitischen Bekenntnis Putins sowie den offensichtlichen Mehrheitsverhältnissen in der Duma folgt, dass mit „Einheit Russlands“ zum ersten Mal in der zehnjährigen parlamentarischen Tradition Russlands eine Partei Verantwortung für den politischen Kurs des Landes übernimmt. Dabei mag dem westlichen Leser das Programm der Partei blass und irrelevant vorkommen. Für die Positionierung innerhalb der russischen politischen Landschaft ist hingegen die prominent platzierte Forderung nach einer „modernen und transparenten Marktwirtschaft“ sowie die Festlegung auf „Wirtschaftswachstum als grundlegendes Mittel zur Lösung der Mehrzahl der Probleme des Landes“ angesichts der sozialistischen Reminiszenzen in der Gesellschaft durchaus bemerkenswert.5 Im europäischen Kontext hat sich „Einheit Russlands“ durch seinen Antrag auf einen Beobachterstatus bereits der Europäischen Volkspartei (EVP) angenähert.

Putin selber verortet die Partei „rechtszentristisch“ und fordert von ihr eine konsequente parlamentarische Unterstützung bei der Fortsetzung der insgesamt liberalen Wirtschaftspolitik. Konkret heißt das seinen eigenen Worten zufolge:6 grundsätzliches Bekenntnis zu Markt und Privateigentum, Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Beschränkung des Staates auf ordnungspolitische Rahmenfunktionen sowie – alles andere als populär! – Abbau staatlicher Vergünstigungen. Das wichtigste sozialpolitische Ziel, die Armutsbekämpfung, soll also nicht durch Umverteilung, sondern durch wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sowie Verdopplung des Bruttosozialprodukts erreicht werden.

In dem Maße jedoch, wie eine Partei mit politischen Inhalten und entsprechenden Gesetzesnovellen identifiziert und am Erfolg oder Misserfolg gemessen werden kann, öffnet sich eine Flanke für die politische Konkurrenz – von Putin als „linkszentristisch“ bezeichnet.7 Spätestens bei den nächsten Dumawahlen – soweit sie nach halbwegs demokratischen Spielregeln ablaufen – sollte also der Wähler Gelegenheit zur Sanktionierung der tatsächlich in den vorangegangenen vier Jahren verfolgten Reformpolitik haben. Was für uns demokratische Normalität bedeutet, wäre für den russischen Parlamentarismus ein Novum.

Die politische Konkurrenz mag derzeit in der Duma schwach sein. Soweit es um programmatische Alternativen geht, sind diese am ehesten von den Kommunisten mit 52 Abgeordneten sowie „Heimat“ mit 36 Abgeordneten zu erwarten. Der Fraktionsvorsitzende von „Heimat“, Sergej Glasjew, ist unterdessen entschlossen, die Opposition auch über den parlamentarischen Raum hinaus zu konsolidieren. Seine aus dem Wahlblock „Heimat“ hervorgehende Partei soll zum Sammelbecken aller linkszentristischen, nationalpatriotischen Kräfte einschließlich der reformorientierten Teile der KPRF sowie einer Vielzahl gesellschaftlicher Organisationen und Bewegungen werden.

Der „linkszentristische“, von Glasjew formulierte Gegenentwurf zur „rechtszentristischen“ Ausrichtung von „Einheit Russlands“ hat zum Inhalt, dass der Staat regulierend in den Wirtschaftsprozess eingreifen, aktiv einzelne Industrie- und Hochtechnologiesektoren fördern und das soziale Umfeld der Bürger garantieren soll. Die „soziale Frage“ ist also nicht vorrangig über Wirtschaftswachstum, sondern über staatliche Intervention zu lösen – eine Forderung, die etwa im Falle eines Einbruchs der Weltmarktpreise für Erdöl und einem rückläufigen Wirtschaftswachstum große Aktualität gewinnen könnte.

Ob es angesichts des insgesamt wirtschaftsliberalen Kurses des Kremls auch – nach russischer Farbenlehre – rechts von „Einheit Russlands“ noch signifikantes Mobilisierungspotenzial gibt, wird sich zeigen müssen. Auf jeden Fall hat die gemeinsame Wahlniederlage bereits die heilsame Wirkung, dass „Jabloko“ und die „Union der Rechten Kräfte“, die sich trotz vergleichbarer politischer Grundausrichtung bei den Dumawahlen noch bekämpften, jetzt zumindest bei Regionalwahlen partiell zusammengehen.

Richtige Weichenstellungen

Die politische Konfiguration ist also bei näherer Betrachtung offener, als es beim ersten Anblick der heutigen Verhältnisse in der Duma den Anschein hat. Das Abdriften in eine „Einparteiendiktatur“ ist ebenso wenig vorgezeichnet wie der Weg in eine blühende pluralistische Parteienlandschaft. Um so mehr wird es zu Beginn der zweiten Amtszeit Putins auf die richtigen Weichenstellungen ankommen, um dem Mehrparteiensystem in Russland zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Entfaltung des Parteienpluralismus hängt in hohem Maße von der Entwicklung der russischen Medien ab. Der politische Wettbewerb der Parteien lebt von der Möglichkeit medialer Übertragung und insbesondere von einer ausgewogenen Darstellung in den landesweit ausgestrahlten Fernsehsendern. Der Empfehlung im Abschlussbericht der OSZE zur Beobachtung der Dumawahlen im Dezember, eine unparteiisch und ausgewogen berichtende öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt zu schaffen, kommt deshalb zentrale Bedeutung zu.8

Besondere Aufmerksamkeit sollte jedoch auch dem Schicksal der Parteien in den Regionen geschenkt werden. Denn nach neuer Gesetzeslage sind künftig alle Gebietsparlamente mindestens zur Hälfte über Parteienlisten zu wählen. Nach ihrer Niederlage in den Dumawahlen und ihrem Abtauchen in den Präsidentschaftswahlen erhalten die liberalen Parteien, „Jabloko“ und „Union der Rechten Kräfte“, auf regionaler Ebene die Chance, sich zu regenerieren – möglicherweise vereint in einem demokratischen Bündnis. Ebenso wird sich der Fraktionsvorsitzende des „Heimat“-Blocks, Glasjew, mit seiner Parteineugründung – wenn es dazu kommt – zunächst in den Regionalwahlen bewähren müssen.

Hinzu kommt: Die Finanzierung von Parteien muss auf eine solide, transparente Basis gestellt werden. Mit den jetzt anlaufenden staatlichen Zuzahlungen ist ein erster Schritt getan, wenngleich selbst die siegreiche „Einheit Russlands“ damit lediglich auf einen jährlichen Zuschuss in Höhe von 325 000 Euro kommt. Auf jeden Fall sollte – analog zur deutschen Parteienfinanzierung – nicht nur das Wahlergebnis, sondern auch jeder als Mitgliedsbeitrag oder Spende eingegangene Rubel vom Staat durch entsprechende Zuzahlungen sowie durch steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten für den Spender honoriert werden. Daraus könnten wichtige Impulse für die Schaffung solider Mitgliederstrukturen, die kontinuierliche Erhebung von Mitgliedsbeiträgen sowie mehr Transparenz im Spendenwesen erwachsen.

Die deutschen Parteistiftungen haben in den letzten Jahren einen wichtigen Beitrag zum Aufbau eines Parteiensystems in Russland geleistet. Viele gesetzliche Regelungen, die in den letzten Jahren in Kraft getreten sind, basieren auf von den Stiftungen vermittelten deutschen Erfahrungen. Das Ergebnis der Dumawahlen und insbesondere das Scheitern der liberalen Parteien darf nicht dazu führen, diesen Weg zu verlassen. Denn dies hieße, die Chance zu verkennen, die sich aus der neuen Lage für den Aufbau eines Mehrparteiensystems ergibt. Vielmehr wird es darum gehen müssen, auch andere Kooperationsprogramme – etwa das von der EU-Kommission aufgelegte TACIS-Programm – auf die Förderung des Parteienpluralismus auszudehnen.

Gleichzeitig wird es bei der Zusammenarbeit auch Akzentverschiebungen geben: Noch stärker als bisher werden sich die Stiftungen mit der landesweiten Basisarbeit auseinander setzen müssen. Nicht nur die Moskauer Parteigrößen sollten sich ein Bild von den Verhältnissen in Deutschland machen können, sondern ebenso der Pressesekretär oder der Kassenwart der „Jabloko“-Regionalgliederung in Rostow oder der Kampagnen-Manager der „Union der Rechten Kräfte“ in Irkutsk. Sie sollten den Parteiaktivisten in den Orts-, Kreis- und Landesverbänden deutscher Parteien mehrere Tage und Wochen über die Schultern schauen und diese Erfahrungen zu Hause einbringen. Sobald die von Glasjew angekündigte Konsolidierung einer linkszentristischen Kraft konkrete Formen annimmt, verdient auch sie – ungeachtet der teilweise rückwärts gewandten Rhetorik im Wahlkampf – Unterstützung.

Zu Recht machen die deutschen Stiftungen in ihren Kooperationsangeboten keinen Bogen um die Präsidentenpartei „Einheit Russlands“. Immerhin ist der Partei zugute zu halten, dass sie – mit Blick auf landesweite Parteienstrukturen – das Monopol der Kommunistischen Partei gebrochen hat. Die Partei ist im Aufbau – bei aller Offenheit und vereinzelter Ungewissheit der Betroffenen hinsichtlich des Ergebnisses. Denn vielfach fehlen die konkreten Vorstellungen und Leitbilder, wie moderne Parteiarbeit zu leisten ist.

Dabei ist gerade bei „Einheit Russlands“ das Interesse an Deutschland groß. Führende Köpfe der Partei, so beispielsweise Generalsekretär Oleg Bogomolow, haben in Deutschland bzw. der ehemaligen DDR einen Teil ihres Lebens verbracht und sehen in Deutschland ein Vorbild. Einer der Vordenker der Partei, Oleg Morosow, war in den achtziger Jahren zu einem Studienaufenthalt in Bonn und hat in den letzten Jahren die Russisch-Deutsche Freundschaftsgruppe in der Duma geleitet. Um so mehr besteht die Chance, etwaige Zerrbilder über die deutschen Verhältnisse durch kontinuierliche und strukturierte Zusammenarbeit zu korrigieren.

Das Interesse Deutschlands am demokratischen Prozess in Russland darf nicht auf das Schicksal einer Partei, auch nicht einer bestimmten politischen Richtung verengt werden. Im Zentrum der Zusammenarbeit muss vielmehr ein struktureller Ansatz stehen, der sich – wenn eben möglich – an den Zielen der russischen Politik insgesamt orientieren sollte: Putin hat sich zur Schaffung eines Mehrparteiensystems bekannt. Wir sollten ihn beim Wort nehmen und der jungen russischen Demokratie bei der Verwirklichung dieses Reformziels unseren vollen Erfahrungsschatz zur Verfügung stellen.

Anmerkungen

1 Andrej Issajew am 9.12.2003 in „Bürgerliche Debatten“ (Stiftung für Effektive Politik, Moskau), unter: <http://www.kreml.org&gt;.

2 Zur Schwäche der Parteien und insbesondere ihrer mangelnden regionalen Verankerung vgl. Grigirij V. Golosov, The Vicious Circle of Party Underdevelopment in Russia: The Regional Connection, in: International Political Science Review, Bd. 24/4, (2003), S. 427–444.

3 Vgl. Alexeij Kudrin, Byzantium ist over, in: The Moscow Times, 4.11.2003, S. 1.

4 Die Äußerungen Putins sind nachzulesen unter: <http://www.putin2004.ru&gt;.

5 Das Wahlprogramm von „Einheit Russlands“ unter <http://www.edinros.ru&gt;, Kapitel 1.1. und 2.2.2.

6 Putin in der vom Fernsehen direkt übertragenen Beantwortung von Bürgerfragen, 18.12.2003.

7 Ebenda.

8 OSCE/ODIHR Election Observation Mission Report, Warschau, 27.1.2004, S. 28.

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2004, S. 27-33

Teilen

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.