Ostalgie in der Wüste Gobi
Schlusspunkt
Gerade bin ich zurück von einem Trip in die Wüste Gobi. Vorher las ich den gängigen Mongolei-Reiseführer, der 2010 in zweiter Auflage im Trescher-Verlag erschienen ist. Im Abschnitt „Geschichte“ erfuhr ich, dass mit dem Machtantritt des Diktators von Moskaus Gnaden Yumjaagin Tsedenbal (1952 bis 1984) „eine Phase begann, die vielen Mongolen heute als goldene Zeit erscheint“. Denn „vor der Wende (gab) es noch Arbeit, ein gut funktionierendes Bildungswesen und Gesundheitswesen“, während „das Leben nach der Wende für alle Mongolen sehr viel schwieriger wurde“. Und so weiter. Kein Wort von der desaströsen Industrialisierungs- und Kollektivierungspolitik Tsedenbals; kein Wort davon, dass er unter dem mongolischen Stalin Khoroogiin Choibalsan mitverantwortlich war für die Liquidierung von „Abweichlern“, Intellektuellen und buddhistischen Mönchen.
Erklärlich wird diese – sagen wir – Nachsicht, wenn man weiß, dass die Autorin Marion Wisotzki, 1955 in der DDR geboren, von 1974 bis 1978 in Leningrad Philosophie (was damals so viel hieß wie Marxismus-Leninismus) studierte und in jener „goldenen Ära“ des Sozialismus in der Mongolei „wissenschaftlich gearbeitet“ hat. Ich will Frau Wisotzki weder die Kenntnis von Land und Leuten absprechen noch leugnen, dass – wie mir ein Kamelzüchter an der „singenden Düne“ Khongoryn Els erzählte – die Jahre des Übergangs von der Kommando- zur Marktwirtschaft schwer waren. Doch erzählte jener Züchter auch, dass sein Großvater 300 Kamele in die Genossenschaft einbringen musste. Beim Austritt erhielt der Enkel 30. Inzwischen hat er 100 Tiere, vor seiner Jurte stehen ein Motorrad, eine Satellitenschüssel und eine Solaranlage, und auf die Frage, ob es unterm Sozialismus oder jetzt besser sei, antwortet er: „Jetzt. Weil wir Rechte haben.“ Solche Aussagen findet man nicht im Reiseführer.
Gerade Deutsche reisen viel, auch in den Iran oder nach Syrien oder in andere arabische Despotien, gern auch nach Kuba, und glauben, dabei eine „Innenansicht“ zu gewinnen, die der „Außenansicht“ der Medien überlegen sei. Über die politische Agenda von Reisebüchern, Reiseleitern und Tourismusministerien spricht keiner. Während in der heute demokratischen Mongolei die Möglichkeit besteht, der „Innenansicht“ des Reiseführers andere Sichtweisen entgegenzustellen, wäre es naiv zu erwarten, dass die Leute in autoritär regierten Ländern fremden Besuchern ihre wahre Meinung über die Verhältnisse erzählen würden. Das aber glauben viele Bildungsreisende. Der Wunsch, die Welt mit eigenen Augen zu sehen, ist löblich. Aber wahr ist auch, dass man nur sieht, was man weiß. Und dass man sich die Quellen seines vermeintlichen Wissens sehr genau ansehen sollte.
ALAN POSENER ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt am Sonntag.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2010, S. 144