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01. Juli 2006

No peace, but war

Der Friedensprozess in Sri Lanka ist gescheitert

Am 30. Mai 2006 entschied die EU, die „Liberation Tigers of Tamil
Eelam“ (LTTE) auf die Liste der verbotenen Terrororganisationen zu
setzen. Sie reagierte damit auf eskalierende Gewalt zwischen den
srilankischen Konfliktparteien, die im Februar 2002 offiziell Waffenstillstand
geschlossen haben. Diese Maßnahme markiert einen Tiefpunkt
im Friedensprozess. Doch was genau ging schief? Eine Analyse.

Am 30. Mai 2006 entschied die EU, die „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (LTTE) auf die Liste der verbotenen Terrororganisationen zu setzen. Sie reagierte damit auf eskalierende Gewalt zwischen den srilankischen Konfliktparteien, die im Februar 2002 offiziell Waffen­stillstand geschlossen haben. Diese Maßnahme markiert einen Tiefpunkt im Friedensprozess. Doch was genau ging schief? Eine Analyse.

Der Friedensprozess war durch inten­sive internationale Vermittlung er­möglicht worden. Erstmals in der rund 20-jährigen Geschichte des sri­lankischen Bürgerkriegs gelang es, die srilankische Regierung und die LTTE zu einem detaillierten Waffenstill­standsabkommen – allgemein als „Ceasefire Agreement“1 (CFA) be­zeichnet – zu bewegen. Die Aufgabe, die Einhaltung des CFA zu überwa­chen, wurde der „Sri Lanka Monito­ring Mission“ (SLMM), einer neutra­len Partei, übertragen. Sie setzt sich aus Vertretern der fünf nordischen Länder zusammen und steht unter Leitung der norwegischen Regierung.

Mit dem Engagement der SLMM wurde der srilankische Friedenspro­zess zu einem internationalen Vorzei­geprojekt der gewaltfreien Konflikt­transformation. Nicht nur die Mit­gliedsstaaten der SLMM und die regi­onale Vormacht Indien setzten sich für die Einhaltung des Waffenstill­stands ein, sondern auch die EU, die USA und Japan. Begleitet wurden die Bemühungen von einer unüberschau­baren Anzahl staatlicher und nicht­staatlicher Organisationen. Mit dem Beginn des Friedensprozesses wurden hohe Erwartungen geweckt. Das aus­gefeilte Konzept von Überwachungs­techniken, Schlichtungsmechanismen und Versöhnungsprojekten schien das Potenzial zu besitzen, den fragilen Waffenstillstand in einen stabilen Friedensprozess zu verwandeln.

Dieser Ansatz erwies sich zunächst als erfolgreich. In sechs Verhandlungs­runden zwischen September 2002 und März 2003 schien man einer poli­tischen Regelung des Konflikts näher zu kommen. Im April 2003 erklärten die LTTE jedoch ihren Rückzug aus den Verhandlungen. Danach verstie­ßen beide Vertragsparteien wiederholt gegen Bestimmungen des CFA. Diese Verstöße wurden seit Februar 2002 von der SLMM protokolliert, hatten jedoch keine Konsequenzen, da sie nicht über Sanktionsmöglichkeiten verfügt. Die Akteure können für er­wünschtes Verhalten belohnt, nicht jedoch für regelwidriges Verhalten be­straft werden. Dennoch wurde eine Rückkehr zu Kriegshandlungen von allen Seiten ausgeschlossen. Diese Pattsituation umschrieb man mit der Formel: „No peace, no war.“

Im März 2004 spaltete sich ein Flü­gel der LTTE ab. Unter Führung von Commander Karuna, dem Exverhand­lungsführer der LTTE bei den Gesprä­chen mit der Regierung, begann ein anhaltender Machtkampf mit den LTTE. Damit verkomplizierte sich die Situation. Von der Tsunami-Katastro­phe im Dezember 2004 erhoffte man sich einen neuen Impuls für den Frie­densprozess. Das Gegenteil war der Fall: Um die Verteilung der Hilfsgüter entbrannte ein Kompetenzstreit, der die Fronten weiter verhärtete und auch durch die Einigung auf einen gemeinsamen Mechanismus2 zur Dis­tribution der Gelder nicht beendet werden konnte.

Es folgten Verletzungen des CFA. Bis zum 31. Dezember 2005 verzeich­nete die SLMM 162 Fälle, in denen staatliche Sicherheitskräfte das CFA verletzten. Währenddessen wurden 3471 Verstöße der LTTE registriert.3 Den größten Anteil machten Fälle von Kinderrekrutierung aus. Daneben setzten die LTTE die ethnische Säube­rung tamilischer Gebiete fort und ver­übten gezielte Anschläge auf Politiker, Journalisten und Wissenschaftler. Der prominenteste Fall war die Ermor­dung des tamilischen Außenministers Lakshman Kadirgamar am 12. August 2005. Zu Beginn des Jahres 2006 in­tensivierten sich Häufigkeit und In­tensität der LTTE-Angriffe nochmals. Seitdem scheint die SLMM den Ver­such aufgegeben zu haben, Verstöße weiter zu protokollieren. Statt Statisti­ken werden nun nur noch zusammen­fassende Berichte veröffentlicht.

Die Lage drohte in einen offenen Bürgerkrieg zu eskalieren. Erneute Waffenstillstandsgespräche am 22. und 23. Februar in Genf brachten keine Fortschritte. Ein für April ge­plantes Folgetreffen fiel aus. Mitte Mai folgte ein koordinierter Angriff der LTTE auf Schiffe der Kriegsmarine. Während des Gefechts wurden mehr als 70 Menschen getötet und Beobach­ter der SLMM gefährdet. Obwohl bis­lang keine der beiden Seiten den Waf­fenstillstand offiziell aufkündigte, muss der Friedensprozess als geschei­tert betrachtet werden.

1.Warum gelingt es trotz des massi­ven internationalen Engagements nicht, eine politische Konfliktrege­lung umzusetzen?

2.Welche Maßnahmen müssten er­griffen werden, um einer dauerhaf­ten politischen Regelung den Weg zu ebnen?

3.Wie sind die langfristigen Aussich­ten auf eine gewaltfreie Konfliktre­gelung zu beurteilen? Für die gewaltfreie Regelung ethnischer Konflikte wurden diverse Kon­zepte entwickelt. Hierbei lassen sich zwei Ansätze unterscheiden. Der erste umfasst informelle Instrumente der gewaltfreien Konfliktregelung, wie Versöhnungs-, Überwachungs- und Schlichtungsmodelle. Der zweite An­satz ist institutioneller Art und be­inhaltet klassisches Verfassungs­design, wie die Gestaltung von Wahl- und Regierungssystemen. Hierbei sol­len Institutionen so gestaltet werden, dass sie der Konfliktstruktur des Lan­des entsprechen und sich letztlich re­gulierend auf diese auswirken.4

Da Konfliktstrukturen langwierigen Wandlungsprozessen unterliegen, ist klassisches Verfassungsdesign auf eine langfristige Wirkung angelegt. Für weitreichende Veränderungen dieser Art ist ein hohes Maß an Konsens und Kooperation erforderlich. In einer aku­ten Konfliktsituation ist der institutio­nelle Ansatz somit kaum umzusetzen. Dagegen können die beschriebenen informellen Instrumente unmittelbar deeskalierend wirken. Sie können dazu dienen, die Voraussetzungen für die Anwendung der Verfassungstech­nik zu schaffen. In diesem Sinne grei­fen beide Ansätze ineinander.

In Sri Lanka konzentrierte man sich auf den informellen Ansatz. Den zen­tralen Pfeiler des hier angewandten Konzepts bildet die SLMM. Ihr wurde die Aufgabe übertragen, neutral die Einhaltung des Waffenstillstandsab­kommens zu überwachen, in Konflikt­fällen zu schlichten sowie die weiteren Friedensverhandlungen voranzutrei­ben. Zu diesem Zweck bekam das Team aus derzeit maximal 60 Beobachtern beider Konfliktparteien weitgehende Kompetenzen  zugesprochen, insbeson­dere umfassende Sicherheitsgarantien und das Recht zur Überprüfung aller Fälle, in denen der Vorwurf der Ab­kommensverletzung erhoben wird.5 Da der SLMM effektive Sanktionsmecha­nismen fehlen, basiert dieses System auf der Kooperationsbereitschaft beider Konfliktparteien. Um diese zu erhöhen, kreierte die internationale Gemein­schaft finanzielle Anreize. Hierzu wur­den Zusagen über Hilfsgelder in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar an konkrete Fortschritte geknüpft.

Die erfolgreiche Umsetzung dieses Konzepts verlangt, dass die zentralen Akteure zwei Prämissen erfüllen, ohne die gewaltfreie Konfliktregelung nicht greifen kann:

1. die Akzeptanz des demokratischen Systems an sich,

2. der vorhandene politische Wille zur gewaltfreien Konfliktregelung.

Dies trifft auf Sri Lanka nicht zu. Weder die singhalesisch dominierte Regierung noch die tamilischen Rebel­len werden dieser Anforderung ge­recht. Die singhalesische Konfliktpar­tei erfüllt nur eine Prämisse: die der Akzeptanz des demokratischen Sys­tems. Dessen Regeln des politischen Wettbewerbs werden von den singha­lesischen Parteien weitgehend aner­kannt. Dennoch mangelt es an Bereit­schaft, den Konflikt gewaltfrei zu re­geln und politische Zugeständnisse an die Tamilen zu machen. Das liegt an der Struktur des Parteiensystems.

Dieses wird durch zwei zentrale Charakteristika geprägt: zum einen durch ein Machtgleichgewicht zwi­schen den beiden größten singhalesi­schen Parteien, der United National Party und der Sri Lanka Freedom Party; zum anderen durch die Exis­tenz zweier radikaler singhalesischer Parteien, der People’s Liberation Front (JVP) und der chauvinistisch-buddhis­tischen Pure Sinhala National Herita­ge (JHU). Beide Parteien lehnen Zuge­ständnisse an die tamilische Seite ab und vertreten Positionen, die für die Tamilen als unverhandelbar gelten.

Beide Faktoren – das Machtgleich­gewicht zweier großer Parteien sowie die Existenz radikaler kleiner Parteien – bewirken einen Zwang zur Berück­sichtigung radikaler singhalesischer Positionen, da JVP und JHU im Pro­zess der Regierungsbildung das Züng­lein an der Waage sein könnten. Eine Unterordnung aller anderen singhale­sischen Interessen unter das Ziel der gewaltfreien Konfliktregelung ist nicht möglich. Der Einfluss der radikalen Parteien auf die Regierungspolitik wirkt konfliktintensivierend. Dies gilt vor allem mit Blick auf die JHU. Als erste chauvinistisch-buddhistische Partei Sri Lankas besitzt sie das Poten­zial, die religiöse Dimension der sri­lankischen Konfliktstruktur, die bis­lang nur gering ausgeprägt ist, zu beto­nen und den Konflikt um eine weitere Facette zu bereichern. Damit sind auf singhalesischer Seite gravierende Män­gel in der Bereitschaft zur gewaltfreien Konfliktregelung auszumachen.

Zentrales Hindernis sind jedoch die LTTE. Wenn auch diese Erkenntnis kaum überraschen mag, wird sie von den am Friedensprozess beteiligten internationalen Akteuren oft genug ignoriert. Zu vermuten ist, dass die unterschwellige Sympathie für die „Befreiungstiger“ aus der Entste­hungsgeschichte des Konflikts her­rührt: Dieser ist maßgeblich auf einen Prozess der „Singhalesierung“ des sri­lankischen Staates zurückzuführen, in dem die tamilische Minderheit auf nahezu allen Gebieten des öffentli­chen Lebens diskriminiert und margi­nalisiert wurde. Moderate tamilische Politiker versuchten, dieser Entwick­lung auf politischem Wege zu begeg­nen; als das scheiterte, gingen sie ins indische Exil. Das auf tamilischer Seite entstandene Machtvakuum wurde umgehend von paramilitäri­schen Gruppen ausgefüllt, von denen es zeitweise mehr als 35 gab. Unter ihnen nahmen die LTTE eine domi­nierende Stellung ein; durch die ge­zielte Ermordung ihrer politischen Gegner bauten sie diese noch aus.

1983 kam es in Colombo zu einem antitamilischen Pogrom. Die Tamilen erkannten, dass nicht nur ihre politi­schen Interessen, sondern auch ihre physische Unversehrtheit gefährdet waren. Noch im selben Jahr brach der Bürgerkrieg aus. Seitdem begreifen sich die LTTE-Mitglieder als nationale Freiheitskämpfer und beanspruchen ein Alleinvertretungsrecht für die ta­milische Minderheit. Als deren Reprä­sentanten verlangen sie substanzielle Selbstbestimmungsrechte, die letztlich in der Forderung nach staatlicher Un­abhängigkeit münden. Zwischen 1990 und 1995 errichteten die LTTE einen De-facto-Staat im Norden Sri Lankas. Obwohl die Forderungen nach Eigen­ständigkeit von Zeit zu Zeit relativiert werden, ist eine inhaltliche Einigung mit der singhalesischen Seite nicht denkbar. Eine solche Maßnahme wäre auch politisch nicht zu vertreten: Die Abtretung weitreichender Autono­mierechte an die LTTE würde bedeu­ten, staatliche Kompetenzen an eine faschistische, autoritäre Organisation zu übertragen.

Organisationsstruktur der LTTE

An der Spitze der streng hierarchisch organisierten LTTE steht deren Grün­der Vellupilai Prabhakaran. Das Füh­rerprinzip, das vollständig auf Prabha­karan ausgerichtet ist, erlaubt keiner­lei Konkurrenz in personeller oder Opposition in sachlicher Hinsicht. Tatsächliche oder etwaige Rivalen Prabhakarans wurden und werden konsequent ausgeschaltet. Gleiches gilt für moderate Tamilen, die sich in Politik, Wissenschaft oder Zivilgesell­schaft gegen die LTTE engagieren.

Die LTTE haben zivile Strukturen ausgebaut und verschiedenste Unter­organisationen gegründet, die sich um die sozialen Belange der tamilischen Bevölkerung kümmern. Gleichzeitig steigerten sie ihre militärische Stärke. Die Unterhaltung einer eigenen Mari­ne und einer Luftwaffe unterstreicht die Schlagkraft dieser Organisation. Daneben zeichnet sie sich durch den Einsatz modernster, den srilankischen Streitkräften häufig überlegener Tech­nik aus. Begünstigend wirkt das breite finanzielle Netzwerk im In- und Aus­land, über das die LTTE jährlich schätzungsweise 30 Millionen Dollar einnehmen. Die Eliminierung jegli­cher Konkurrenz ist ein deutliches Zeichen für die antidemokratische Ausrichtung der LTTE. Eine Teilnah­me am politischen Prozess ist daher im Prinzip ausgeschlossen. Auch die Partizipation LTTE-naher Parteien, wie aktuell der Tamil National Alli­ance (TNA), bedeutet keine Abkehr von bisherigen Positionen. Insbeson­dere kann sie nicht mit einer Akzeptanz des Systems an sich gleichgesetzt werden. Vielmehr handelt es sich bei dieser Opposition im System letztlich um Opposition zum System. Dies gilt trotz des LTTE-Statements vom März 2003, sich künftig dem politischen Wettbewerb zu stellen und Opposition zu dulden. Mit dieser Ankündigung erreichte sie eines ihrer zentralen Ziele: Sie qualifizierte sich als Ver­handlungspartner der Regierung und der internationalen Vermittler. Doch den Worten folgten keine Taten. Viel­mehr wurden weiterhin politische Gegner ermordet und Kindersoldaten (zwangs-)rekrutiert. Der erzwungene Boykott der Präsidentschaftswahlen im November 2005 in den tamilischen Gebieten gilt zudem als Zeichen man­gelnden Interesses an einer gewaltfrei­en Konfliktregelung: Indem die LTTE die tamilischen Wähler von den Wah­len fernhielten, verhinderten sie einen Sieg des moderaten Präsidentschafts­kandidaten Ranil Wickremasinghe und verhalfen dem als Hardliner gel­tenden Mahinda Rajapakse zu einem knappen Sieg. Mit der effektiven Durchsetzung des Boykotts bewiesen die LTTE zudem, dass sie ihr Terrorregime über die tamilische Bevölke­rung trotz des Waffenstillstands auf­rechterhalten konnten.

Damit muss konstatiert werden, dass die LTTE weder die Prämisse der Akzeptanz des demokratischen Systems noch die der Bereitschaft zum Gewaltverzicht erfüllen. Eine demokratische Wandlung der Organi­sation ist nicht festzustellen. Ihre ef­fektive Einbindung in das politische System des Landes ist somit nicht möglich. Da jede Form einer institu­tionellen Konfliktregelung jedoch erst greifen kann, wenn die genann­ten Prämissen erfüllt werden, ist eine gewaltfreie Konfliktregelung unter Einbeziehung der LTTE derzeit nicht realisierbar.

Unlösbarer Konflikt

Eine Anerkennung der politischen Re­alitäten in Sri Lanka kommt dem Ein­geständnis gleich, dass es sich um einen antagonistischen Konflikt zwischen den dominanten Akteuren handelt. Es stehen sich diametral entgegengesetzte Positionen gegenüber. Der Konflikt ist nicht lösbar. Darüber hinaus ist er der­zeit nicht regelbar. Die divergierenden Positionen sind aufgrund der System­feindlichkeit der LTTE auch struktu­rell-institutionell nicht zu überbrücken, beispielsweise durch politische Arran­gements innerhalb des Systems. Damit steckt der angestoßene Transformati­onsprozess in einer Sackgasse.

Diese Erkenntnis wirft eine Reihe von Fragen auf: Ist die aktuelle Situati­on des „no peace, no war“ einer Rück­kehr zum offenen Bürgerkrieg vorzu­ziehen? Zu welchem Preis kann  die derzeitige Situation aufrechterhalten werden? Sollten schwerste Menschen­rechtsverstöße und die massive Ein­schränkung politischer Freiheiten in den LTTE-Gebieten toleriert werden, um einen erneuten Ausbruch offiziel­ler Kriegshandlungen zu verhindern? Welchen Wert besitzt ein Waffenstill­stand unter diesen Bedingungen? Diese Abwägung betrifft nicht nur Sri Lanka. Vielmehr handelt es sich um eine Grundsatzdiskussion: Welcher Wert ist höherrangig – der des (negati­ven) Friedens oder der der politischen Freiheit derjenigen Menschen, die in einer solchen Konfliktsituation leben? Diese Frage lässt sich mit Blick auf den demokratischen Anspruch6 des srilankischen Staates und dessen offi­zielle Selbstbindung an demokratische Werte beantworten: Es ergibt sich für ihn die Pflicht, die physische Unver­sehrtheit seiner Bürger, vor allem aber auch deren politische Freiheiten zu garantieren. Dies bedeutet nicht nur, dass Übergriffe der Streitkräfte auf Zivilisten, die sich in den vergange­nen Monaten häuften, kategorisch unterbunden werden müssen. Viel­mehr verlangt dies den Einsatz des Staates für demokratische Rechte und Freiheiten in allen Teilen seines Staatsgebiets, das heißt auch in den von den LTTE dominierten Gebieten. Passivität dagegen ist gleichbedeutend mit der Tolerierung des LTTE-Terror­regimes. Direkte Verhandlungen mit den „Tigern“ festigen deren Status als alleinige Vertreter tamilischer Interes­sen. Sie tragen so zur weiteren Konso­lidierung dieses Regimes bei.

Gleiches gilt für die internationale Gemeinschaft: Diese hat sich durch ihr Engagement ein hohes Maß an Mitverantwortung auferlegt. Obwohl die LTTE zu keinem Zeitpunkt die Ermordung politischer Gegner been­deten, wurden direkte Gespräche mit ihnen geführt und Delegationen offizi­ell empfangen – so unter anderem im Februar 2004 von der damaligen Staatsministerin Kerstin Müller. Dies steht in offenem Widerspruch zu dem von westlichen Regierungen häufig artikulierten Anspruch, Freiheit und Menschenrechte fördern zu wollen. Tolerierung der sowie Verhandlungen und Kooperation mit den LTTE soll­ten sich daher von selbst ausschließen. Das Verbot der LTTE durch die EU vom Mai 2006 war lange überfällig.

Das srilankische Beispiel zeigt, dass die Abwägung der Werte Frieden und Freiheit zugunsten der politischen Freiheit ausfallen sollte. In dieser For­derung formuliert sich nicht nur der moralische Anspruch demokratischer Staaten. Vielmehr basiert sie auf der realistischen Einsicht in die Aussichts­losigkeit des Versuchs, eine gewalttäti­ge, autoritäre Organisation mittels de­mokratischer „Spielregeln“ in ein Sys­tem der gewaltfreien Konfliktregelung einzubinden. Dies wirft jedoch die anfangs formulierte zweite Frage auf: Welche Maßnahmen müssten ergrif­fen werden, um einer politischen Kon­fliktregelung den Weg zu ebnen? Auf welchem Wege lässt sich das hier defi­nierte übergeordnete Ziel der Ver­wirklichung und des Schutzes der po­litischen Freiheit erreichen?

Dieses Ziel ist hoch gesteckt. Seine Realisierung ist im srilankischen Kon­text äußerst kompliziert. Wie gezeigt wurde, ist eine gewaltfreie Konfliktre­gelung unter Einbeziehung der LTTE faktisch unmöglich. Da die LTTE eine militärische und politisch-zivile Orga­nisation sind, muss eine Strategie zur Bekämpfung der LTTE auf beide Ebe­nen abzielen und sowohl militärische als auch politisch-zivile Elemente be­inhalten. Als übergeordnetes Ziel soll­te letztlich die Stärkung moderater tamilischer Kräfte definiert werden.

Wie sich in der Vergangenheit be­reits gezeigt hat, ist eine rein militäri­sche Lösung nicht realisierbar. Den­noch sollte eine entsprechende Kom­ponente auf die punktuelle militäri­sche Schwächung der LTTE zielen. Zuallererst sollten sich die staatlichen Aktivitäten nicht gegen andere para­militärische tamilische Gruppen richten. Wenngleich deren Tätigkeiten ebenfalls abzulehnen sind, stellen diese Gruppen doch eine Konkurrenz dar und schmälern den Einfluss der LTTE. Die aktuellen Machtkämpfe zwischen den LTTE und der Karuna-Fraktion binden Energien und Kapa­zitäten. Sie sind daher für einen be­grenzten Zeitraum prinzipiell zweck­dienlich. Damit nimmt sich der Para­graph 1.8 des CFA geradezu grotesk

Direkte Verhandlungen mit den „Tigern“ festigen deren Status als alleinige Vertreter tamilischer Interessen. Sie tragen so zur weiteren Konsolidierung dieses Regimes bei. Durch die Entwaffnung anderer paramilitärischer Gruppen erhielt die LTTE indirekt staatliche Unterstützung für ihren Alleinvertre­tungsanspruch.

aus: In diesem verpflichtet sich die Regierung, alle paramilitärischen Gruppen des Landes zu entwaffnen. Aus unbekannten Gründen werden die LTTE nicht hierzu gezählt. Dieser Verpflichtung ist man in Colombo teilweise nachgekommen. Die Maß­nahmen richteten sich hierbei gegen die Eelam People’s Democratic Party (EPDP). Auf die Entwaffnung folgte die auffällig häufige Ermordung von EPDP-Mitgliedern.7 Damit erhielten die LTTE indirekt staatliche Unter­stützung für ihre Bemühungen, ihren Alleinvertretungsanspruch durchzu­setzen. Die Monopolstellung der Ta­milischen Tiger, das zentrale Hinder­nis bei der Suche nach geeigneten ta­milischen Verhandlungspartnern, wurde so von staatlicher Seite zusätz­lich gestärkt und von internationaler Seite sanktioniert.

Die militärischen Strategieelemente sollten auf die Verfolgung von LTTE-Führungskadern zielen. Hierbei sollte die Festsetzung der verschiedenen Dis­triktkommandeure möglichst unter Einhaltung rechtsstaatlicher Standards erfolgen. Um hierzu fähig zu sein, müssten allerdings die Aufklärungs- und Kommunikationsfähigkeiten der Streitkräfte deutlich verbessert wer­den. Zugleich sollten Maßnahmen er­griffen werden, um niedrigrangige LTTE-Kader zu einer Rückkehr ins zivile Leben zu bewegen. Hierzu zäh­len finanzielle Anreize, aber auch sozi­ale Programme zur Reintegration.

Um eine Stärkung der moderaten tamilischen Kräfte zu erreichen, sind polizeiliche Schutzprogramme für die innertamilische Opposition notwen­dig. Die moderaten Kräfte müssen Vertrauen und Einfluss in der tamili­schen Bevölkerung gewinnen, um diese repräsentieren zu können. Daher sollte die Regierung bereits jetzt mo­derate Tamilen als Verhandlungspart­ner einbinden. Damit ließe sich ver­deutlichen, dass diese Persönlichkei­ten ebenso tamilische Interessen ver­treten können, wie es die LTTE für sich beanspruchen. Dies ist ein lang­wieriger, aber notwendiger Prozess.

An erster Stelle steht hierbei die Implementierung eines föderalen Sys­tems. Ein solches müsste zwei Aufga­ben erfüllen: Es sollte zum einen den tamilischen Gebieten im Nordosten der Insel effektive Selbstverwaltungs­rechte verleihen. Zum anderen sollte es ihnen Einflussmöglichkeiten auf den Willensbildungsprozess des Ge­samtsystems bieten. Auf diese Weise könnten die tamilischen Gebiete in das staatliche Gefüge eingebunden werden. Dies bedeutet, dass auf natio­naler Ebene eine zweite Kammer ge­bildet und diese mit legislativen Kom­petenzen ausgestattet werden müsste. Vergleichende Analysen verschiede­ner staatlicher Organisationsstruktu­ren zeigen, dass ein solches föderales System de facto konfliktregulierend wirken kann. Derartige Reformen werden in Sri Lanka seit Jahren disku­tiert, doch stehen einer Umsetzung vor allem die innersinghalesischen Konflikte entgegen.

Reform des Wahlsystems

Eine zweite Maßnahme wäre die Re­form des Wahlsystems und die Rück­kehr vom Verhältnis- zum früheren relativen Mehrheitswahlrecht. Dies hätte zwei positive Folgen: Zum einen würde ein Mehrheitswahlsystem durch seine Tendenz zur Hochbur­genbildung den Anteil tamilischer Abgeordneter im Parlament erhöhen. Zum anderen würde ein solches Wahl­system aber auch der Fragmentierung des Parteiensystems entgegenwirken. Die Wahlchancen und Einflussmög­lichkeiten radikaler singhalesischer Parteien würden so geschwächt. Künftige Regierungen wären nicht nur stabiler, sondern ihre Zusagen in weiteren Verhandlungen gewönnen auch an Gewicht.

Eine rein singhalesisch besetzte Re­gierung sollte vermieden werden. Vielmehr sollte tamilischen, aber auch muslimischen Politikern eine direkte Einflussnahme auf die nationale Poli­tikgestaltung ermöglicht werden. Erst hierdurch könnten sie ihre Interessen innerhalb des Systems durchsetzen. Dies böte die Möglichkeit, sie in den politischen Prozess dauerhaft zu inte­grieren. Man sollte versuchen, institu­tionelle Vorkehrungen im politischen System zu verankern, um auf die Bil­dung einer Regierung der nationalen Einheit unter Einschluss singhalesi­scher, tamilischer und muslimischer Vertreter hinzuwirken. Dies könnte durch einen verfassungsrechtlich vor­geschriebenen ethnischen Kabinetts­proporz erreicht werden.

Eine effektive Integration der ethni­schen Minderheiten in das politische System des Landes würde der Gewalt der LTTE noch kein Ende setzen, doch verlören sie langfristig ihre Legi­timationsgrundlage. Auf diese Weise könnte ihnen die Unterstützung der tamilischen Bevölkerung entzogen werden. Die Folge wäre nicht nur eine politische Schwächung der LTTE. Auch militärisch würden sie ge­schwächt, da sie in entscheidendem Maße auf die finanzielle, logistische und nicht zuletzt moralische Unter­stützung der tamilischen Bevölkerung angewiesen sind. Ein solcher Prozess kann Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Zu ihm bietet sich aber keine Alternative.

Die skizzierten Beispiele verdeutli­chen die Vielfalt an Mechanismen, die zu einer gewaltfreien Konfliktrege­lung beitragen können. Ihre Imple­mentierung hängt maßgeblich vom politischen Willen und der Einsicht in die Notwendigkeit derartiger Maß­nahmen ab. Die Ankündigung von Präsident Rajapakse, ein Komitee ein­zurichten, das Vorschläge für institu­tionelle Reformen entwickeln soll, ist ein positives Zeichen.

Ein größeres Hindernis stellt die Monopolstellung der LTTE dar. Trotz des EU-Verbots gelten sie weiterhin als zentraler Verhandlungspartner, ohne den eine gewaltfreie Regelung des Konflikts unmöglich ist. Die aus­gesprochene Nachsicht, mit der ihnen die SLMM unter Führung des norwe­gischen Chefunterhändlers Erik Sol­heim nach wie vor begegnet, erklärt sich mit Blick auf Veröffentlichungen norwegischer Wissenschaftler, die für die LTTE deutlich Partei ergreifen.8 Die Erkenntnis, dass mit den LTTE im wahrsten Wortsinne „kein Staat zu machen ist“, konnte sich in Oslo bis­lang nicht durchsetzen. Vielmehr tra­gen die Bemühungen der internatio­nalen Vermittlergruppe weiterhin dazu bei, die LTTE in ihrer Monopol­stellung zu stärken. Eine Stärkung der Rebellen bedeutet zwangsläufig eine Schwächung der moderaten Tamilen. Daher wird der Regierung ein Ver­handlungspartner fehlen. Der Versuch der gewaltfreien Konfliktregelung – Vorzeigeprojekt der internationalen Gemeinschaft – ist damit, wie zahlrei­che Todesopfer belegen, gescheitert. Dies zu benennen und hieraus die entsprechenden Konsequenzen zu zie­hen, scheint den verantwortlichen Akteuren nicht möglich zu sein.

Trotz ihres Verbots durch die EU gelten die LTTE nach wie vor als zentraler Verhandlungs­partner, ohne den eine gewaltfreie Lösung des Konflikts unmöglich ist. Die Erkenntnis, dass mit ihnen im wahrsten Wortsinne „kein Staat zu machen ist“, konnte sich in Oslo bislang nicht durchsetzen.

Dr. KRISTINA EICHHORST, geb. 1976, ist Geschäftsführerin des Instituts für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (ISUK).

  • 1 SLMM: Agreement on a Ceasefire between the Government of the Democratic Socialist Republic of Sri Lanka and the Liberation Tigers of Tamil Eelam, www.slmm.lk/documents/cfa.htm.
  • 2 „Post-Tsunami Operational Management Structure“, auch als „Joint Mechanism“ bezeichnet.
  • 3 SLMM: Summary of recorded complaints and violations from all districts, www.slmm.lk/OperationsMatter/complaints/Accumulated.pdf.
  • 4 Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1974 sowie Giovanni Sartori: Comparative Constitutional Engineering. An Inquiry into Structures, Incentives and Outcomes, Houndmills et al. 1997.
  • 5 Vgl. CFA, Art. 3 sowie SLMM: Hermes (Operation Order 2/2003), sowie SLMM: Status of Mission Agreement on the Establishment and Management of the Sri Lanka Monitoring Mission, www.slmm.lk.
  • 6 Der Frage, ob Sri Lanka als Demokratie bezeichnet werden kann, soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Zweifellos ist jedoch auch die srilankische Regierung für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Dennoch unterscheidet sie sich nicht nur in ihrem grundsätzlichen Vorgehen prinzipiell von den LTTE, sondern wurde darüber hinaus in allgemein als frei und fair bezeichneten Wahlen demokratisch legitimiert.
  • 7 Human Rights Watch: World Report 2006. Country Summary Sri Lanka, http://hrw.org/wr2k6/ pdf/srilanka.pdf.
  • 8 Vgl. Kristian Stokke: Building the state. Political Institutions and forms of governance in LTTE-controlled areas in Sri Lanka, http://folk.uio.no/stokke/Publications/SriLanka.html.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 100‑107

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