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01. Jan. 2019

Niemand ist eine Insel

Oft haben Politiker, Militärs und Intellektuelle in Lateinamerika die Abwesenheit strategischer Herausforderungen für die Staaten ihrer Region betont, diese aber zu einem geopolitischen Vorteil für ihre Entwicklung im Windschatten großer internationaler Krisen verbrämt. Viele werten die Raketenkrise um Kuba von 1962 als einziges sicherheitspolitisches Ereignis von globaler Bedeutung in der Region. Inwieweit diese bequeme Position auch der Hegemonie der USA mit dem Sicherheitsschirm über die westliche Hemisphäre geschuldet ist, gehört zu den meistdiskutierten Themen der internationalen Beziehungen in Lateinamerika. Angesichts der Machtverschiebungen durch den Globalisierungsprozess wird jetzt allerdings von Politik und Wissenschaft in der Region eine mögliche Kontinuität dieser strategischen Haltung ernsthaft bezweifelt. Dabei geht es keineswegs nur um den offensichtlichen Hegemonieverlust der USA in Lateinamerika. Es geht auch um die weltweite Debatte, wie eine postliberale internationale Ordnung aussehen könnte oder sollte und mit welchen Kosten zu rechnen wäre.

Obwohl Lateinamerika sich gern als regionale Einheit betrachtet, sind nur die historischen und kulturellen Bindungen wirklich prägend, während sich ökonomische und politische Prioritäten bei vielen Präsidentenwechseln rasch verschieben. Lateinamerika ist daher kein politischer Akteur im internationalen System. Darunter leidet auch die Kooperations- und Allianzkapazität der meisten Staaten, wie die wenig erfolgreichen Integrationsprozesse in der Region beweisen. Die Regierungen reagieren zumeist auf extraregionale Veränderungen und haben es mit Rücksicht auf die von ihnen besonders hoch geschätzte Souveränität bisher nicht vermocht, eine sicherheitspolitische Gemeinschaft zu etablieren oder auch nur eine gemeinsame sicherheitspolitische Strategie zu entwickeln. Sicherheitskooperation bedingt ein relativ hohes Maß an Vertrauen. Zwischen den Staaten der Region ist das eher selten zu finden. Jede Regierung pocht auf ihre Autonomie, gerade in allen sicherheitspolitischen Fragen.

In Lateinamerika wird selten mit Gewalt gegen einen externen, aber fast immer gegen einen internen „Feind“ vorgegangen. Nur so lassen sich die bürgerkriegsähnlichen Opferzahlen erklären, mit denen die Region Jahr für Jahr konfrontiert wird. Obwohl Lateinamerika nur mit 8 Prozent an der Weltbevölkerung beteiligt ist, entfallen auf die Region 32 Prozent der globalen Mordrate. Dabei ist das interne Feindbild durchaus häufigen Veränderungen unterworfen. Während des Kalten Krieges waren es vor allem Kommunisten oder Guerillagruppierungen, später Drogenhändler oder Terroristen beziehungsweise so Bezeichnete. Heute sind es vor allem die ständig steigende organisierte Kriminalität, aber häufig auch Aktivisten sozialer Proteste.

So ist der Begriff der „Sicherheit“ in Lateinamerika fast ausschließlich nach innen gerichtet. Selbst Verteidigung meint oft nur die Verteidigung der jeweiligen Regierung. Die systemische Stabilität hat in den demokratischen wie den autoritären Regierungen in der Region höchste Priorität. Damit prägt sie sowohl die politischen als auch die militärischen Sicherheitskonzepte in den einzelnen Staaten.

Mit der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs nach Ende des Kalten Krieges stehen Politiker und Militärs vor der ständigen Herausforderung, die öffentliche Sicherheit zu verbessern. Die Verschlankung des Staates und die steigende Präsenz nichtstaatlicher Akteure mit sicherheitspolitischer Relevanz haben diese Problematik noch verschärft. Seitdem 2003 selbst die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) den multidimensionalen Charakter von Sicherheit erkannt hat, sind die unterschiedlichsten Gewaltimplikationen beim Drogen-, Waffen- und Menschenhandel ebenso wie bei Migrations- und Flüchtlingsproblemen und bei der Umweltkriminalität (illegaler Abbau von Bodenschätzen und Waldrodungen) zu den entscheidenden regionalen Sicherheitsproblemen geworden. Sie waren in den vergangenen Jahren der eigentliche Grund für den viel beklagten Zerfall der öffentlichen Sicherheit in den meisten Staaten – mit entsprechend schwerwiegenden Rückwirkungen auf die wirtschaftliche und politische Stabilität. Dies hat zu sehr unterschiedlichen, aber bisher zumeist wenig erfolgreichen Reformanstrengungen geführt, das Militär auch mit Aufgaben der öffentlichen Sicherheit zu betrauen. Da dieses jedoch auf solche Aufgaben weder in der Ausbildung noch in der Ausstattung vorbereitet war, hat dieser Einsatz nicht nur zu einer generellen Gewalteskalation geführt, sondern auch zu weitverbreiteter Repression, Menschenrechtsverletzungen und ständig steigenden Opferzahlen, vor allem in Mexiko und Brasilien.

Die Aufgaben des Militärs

Das Militär nimmt in der Region vier sehr unterschiedliche Aufgaben wahr: die traditionelle, bei der Verteidigung der territorialen Souveränität; die entwicklungspolitische, bei den Katastrophen- und Infrastruktureinsätzen; die globale, bei internationalen UN Friedensmissionen und die „innenpolitische“, bei der Wahrung der öffentlichen Sicherheit. Da die sicherheitspolitischen Herausforderungen in Lateinamerika aber gerade im Bereich der öffentlichen Sicherheit liegen und die USA schon seit Beginn des Jahrhunderts die Rolle der lateinamerikanischen Militärs als „crime fighter“ gefördert haben, lässt sich nicht ausschließen, dass zumindest einige Staaten in der Region ihre Konzepte den aktuellen Anforderungen anpassen werden. Die entsprechende Ausbildungs- und Ausstattungshilfe haben die USA ohnehin schon anlaufen lassen. So werden die geplanten US-Militärstützpunkte an der Nordküste Brasiliens sowie in Feuerland jetzt als Beobachtungs- und Ausbildungsstationen klassifiziert. Brasilien hat im Amazonas-Gebiet, das jahrzehntelang als militärisches Sperrgebiet galt, die ersten gemeinsamen Manöver mit den USA durchgeführt. In Chile und Argentinien ist das schon fast Routine.

Die Problematik der in verschiedenen Ländern begonnenen Reformen des Sicherheitssektors liegt allerdings in den regionalen Herausforderungen an die Sicherheitspolitik. Gerade die Konzentration auf die internen Sicherheitsrisiken verengt den Blick auf regionale und transnationale Bedrohungsszenarien. Hier steht Venezuela als „failed state“ schon seit Jahren an erster Stelle, ohne dass sich ein regionaler Konsens über diplomatische oder gar wirtschaftliche Sanktionen hätte herbeiführen lassen. Das mag auch in der Resilienz der Maduro-Regierung liegen, der es immer wieder gelungen ist, durch die Unterstützung extraregionaler Mächte wie China, Russland, Iran und selbst der Türkei eine für die Region ungewöhnliche Internationalisierung seiner Nachbarschaftskonflikte zu erreichen. Erst die Massenflucht von mindestens drei Millionen Venezolanern in den letzten fünf Jahren samt ihren wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen auf die Hauptaufnahmeländer hat zu regelmäßigen Treffen in der „Lima-Gruppe“ geführt.

Aufgrund der dramatischen Veränderungen in Brasilien unter dem eher militaristisch einzustufenden Präsidenten Jair Bolsonaro könnte sich die regionale Disposition allerdings ändern. Eine weitreichende Allianz mit den USA strebt dieser „tropische Trump“ jedenfalls auf möglichst allen Ebenen an. Falls er diese realisieren sollte, dürfte sich die strategische Position Lateinamerikas ganz erheblich verändern, mit schwerwiegenden geopolitischen Auswirkungen in der Region selbst und auch im globalen Kontext. Bolsonaro hat bereits erklärt, Brasilien wolle sich nicht von China „vereinnahmen“ lassen, und der argentinische Präsident Mauricio Macri hat die mit China und Russland geplanten Nuklearanlagen zur Energiegewinnung abgesagt. Inwieweit es den USA allerdings gelingt, den starken wirtschaftlichen und finanziellen Einfluss Chinas in der Region zu reduzieren, wird mehr von der Entwicklung der komplexen bilateralen Beziehungen der beiden Supermächte abhängen als von den Handels- und Investitionsentscheidungen der einzelnen lateinamerikanischen Staaten.

Sich an den neuen Politikstil der USA zu gewöhnen, ist für viele Lateinamerikaner nicht schwierig, denn sie kennen „caudillos“ zur Genüge. Diese historischen Erfahrungen haben die politische Kultur geprägt und auch zur herausragenden innenpolitischen Bedeutung des Militärs beigetragen. Dessen Einfluss lässt sich deutlicher am Charakter des zivilmilitärischen Verhältnisses ablesen als am Anteil der Haushaltsausgaben, die eher Ausdruck der reduzierten militärischen Kapazitäten und vor allem der geringen technologischen Entwicklung der Streitkräfte sind. Hinzu kommen die erheblichen regionalen Unterschiede im Ausbildungsstand und der Einsatzbereitschaft. Nur Chile und Kolumbien verfügen zusammen mit Brasilien über weitgehend moderne und gut ausgerüstete Streitkräfte.

An regionalem Peacekeeping waren die lateinamerikanischen Militärs bisher nur in Haiti beteiligt. Die Bereitschaft, sich sicherheitspolitisch zwar global, aber nicht regional zu engagieren, zeigt gleichzeitig die Stärke und Schwäche lateinamerikanischer Sicherheitspolitik auf. Die Stärke lässt sich als eine Rücksichtnahme auf eine weitgehend gemeinsame politische Kultur bei der Behandlung von Sicherheitsrisiken von relativ schwachen Staaten interpretieren. Die Schwäche lässt sich daran ablesen, dass es immer andere Großmächte sind, die – zumindest zeitweilig – die sicherheitspolitische Agenda der Region bestimmen. Eine regionale Sicherheitskooperation scheint mangels Vertrauen in die eigene Nachbarschaft unerreichbar.

Wolf Grabendorff ist Gastprofessor für Internationale Beziehungen in Quito.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2019, S. 41-43

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