Internationale Presse

01. Sep 2011

Neues aus Cyber-Dschihadistan

Global oder lokal handeln – das ist die Debatte seit 9/11

Zehn Jahre sind seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington vergangen. In diesem Jahrzehnt hat der globale Cyber-Dschihadismus unter Aktivisten mindestens die Bedeutung erlangt, die militärische Aktionen haben. Entgegen der landläufigen Meinung aber verhält man sich in den Foren „Cyber-Dschihadistans“ keineswegs stromlinienförmig. Die Diskussionen unter Aktivisten selbst oder über wichtige Botschaften geistlicher und politischer Autoritäten verliefen im Gegenteil zuweilen so harsch, dass die Foren vorübergehend geschlossen wurden. Man wollte nicht den Eindruck aufkommen lassen, der ideologische Zusammenhalt der Cyber-Dschihadisten stünde auf dem Spiel. Für eine ernsthafte Fragmentierung der Bewegung aber sind die Differenzen nicht groß genug, zumal sich nach einer Weile meist wieder eine generelle Linie herausbildet.

Es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn zehn Jahre nach 9/11 wieder so heftige Diskussionen geführt würden wie unmittelbar nach den Attentaten. Damals stritten sich die Dschihadisten, ob es strategisch richtig war, die USA anzugreifen – oder ob man sich nicht lieber auf den unmittelbaren Feind hätte konzentrieren sollen: auf „abtrünnige“, nichtislamistische Regierungen im Nahen Osten. Mit dem arabischen Frühling stellt sich in den Online-Foren wieder die Frage, ob man den Kampf jetzt hauptsächlich auf das unmittelbare Umfeld lenken und globale Aktivitäten zurückstellen solle. Immerhin ergäbe sich ja jetzt auch die Möglichkeit, an die Macht zu kommen. Derzeit geht die Tendenz dahin, sich auf die nahöstliche Region zu konzentrieren, da dies mehr Erfolg verspreche.

Dabei hatten sich die Cyber-Dschihadisten zu Beginn der Aufstände noch zurückhaltend gezeigt. Die friedlichen Proteste auf den Straßen Tunesiens und Ägyptens waren schließlich eine klare Absage an die grundsätzliche Überzeugung der Cyber-Dschihadisten, dass nur mit Gewalt Änderungen zu erreichen wären. Als aber die Demonstrationen in Kairo an Schwung gewannen, Ägyptens Hosni Mubarak gestürzt und in Libyen eine Revolte ausgebrochen war, kam auch Bewegung in die Online-Foren.

Auf allen wichtigen Plattformen wurde im Januar dieses Jahres immer wieder von „lokalen Kräften“ nachgefragt, ob es legitim sei, sich den Aufständischen oder den Protesten in Marokko, Jordanien oder anderen Ländern anzuschließen; ob man dem Beispiel der Selbstanzündung des Tunesiers Mohammed Bouazizi folgen dürfte, die ja die Revolutionen erst ins Rollen gebracht hatte; ob man sich al-Nahdah, einer tunesischen islamistischen Organisation, anschließen dürfe, am Referendum zur Verfassung und an den Wahlen in Ägypten teilnehmen oder eine politische Partei gründen solle.

Zu diesen Fragen veröffentlicht der unter Cyber-Dschihadisten renommierte „Minbar al-Tawhid wa-l-Jihad Scharia-Rat“ regelmäßig religiöse Urteile. In manchen Foren aber wird auch die Frage gestellt, ob die Demonstrationen in der arabischen Welt nicht sogar die „Mudschaheddin“, die Kämpfer für einen Gottesstaat, diskreditierten. Das palästinensische Forum „Mas’adt al-Mudschaheddin“ und einige andere nehmen dazu ganz eindeutig Stellung. Unter keinen Umständen dürften Dschihadisten dulden, dass die „trügerischen Demonstranten“ ihnen den Erfolg oder die Einführung der Scharia „wegnähmen“. Auch warnen geistliche Autoritäten davor, den „abtrünnigen Regimen“ einen Vorwand zu geben, gegen die Dschihadisten vorzugehen. So wurde Ende Juli dieses Jahres eine gemeinsame Erklärung der weltweit wichtigsten Dschihad-Foren (Al-Fida al-Islam, Smukh al-Islam und Ansar al-Mukahihin) veröffentlicht, in der dazu aufgerufen wurde, von jeglichen „militärischen Aktionen“ in Syrien abzusehen.

Lokal oder global – das war der Kern der zwei wichtigsten Debatten in Cyber-Dschihadistan während der vergangenen Dekade. Knapp zwei Jahre nach 9/11 entzündete sie sich erneut am Einmarsch der USA im Irak. Abdelasis al-Muktin, damals Anführer der Al-Kaida Saudi-Arabiens, warf 2003 die Frage auf, ob auch saudische Aktivisten einen „heiligen Krieg“ wie im Irak führen sollten. Da ein Dschihad im Irak und in Saudi-Arabien sich gegenseitig verstärken könnten, dürfe man sich nicht auf ein „Einsatzgebiet“ beschränken. Damit erntete er sofort den Widerspruch anderer wichtiger Ideologen, die darauf bestanden, dass man keine Mühe auf die Bekämpfung des saudischen Königshauses verschwenden solle. Dies spiele ja nur den USA in die Hände. Sehr viel wichtiger sei es, alle Kraft auf den Kampf gegen die Amerikaner im Irak selbst zu verwenden.

Nach Muktins Tod 2004 verlor das Thema „Dschihad in Saudi-Arabien“ an Aktualität – nicht zuletzt, weil Al-Kaida Irak unter Führung des Jordaniers Abu Musab al-Zarkawi bei den globalen Online-Dschihadisten alle Unterstützung genoss – und das auch wegen ihrer äußerst professionellen Onlinepräsenz. Ein Jahr vor seinem Tod im Juni 2006 musste al-Zarkawi allerdings heftige Kritik einstecken – ausgerechnet von seinem ehemaligen Mentor. Abu Muhammad al-Makdisi, der mit der Website „Minbar al-Tawhid wa-l-Jihad“ eines der wichtigsten Portale betreibt und als der einflussreichste Kopf Cyber-Dschihadistans gilt, warf al-Zarkawi und dessen irakischer Al-Kaida vor, Gewalt viel zu exzessiv anzuwenden. Auch deren Praxis, andere Muslime maßlos als „Takfir“, also als Abtrünnige und Ungläubige zu brandmarken und sie damit zu Feinden zu erklären, sei inakzeptabel. Zudem verfüge Zarkawi ebenso wie viele seiner Anhänger nur über lückenhafte Kenntnisse des Islam. Zwar wurde dann auch al-Makdisi von Anhängern Zarkawis als Büttel des jordanischen Regimes bezeichnet. Seinem Ruf aber hat das nicht geschadet. Er gilt bis heute als beliebte und angesehene Autorität unter Cyber-Dschihadisten.

Nach dem Tod Musab al-Zarkawis setzte sich der Streit auf anderer Ebene fort: Weil Al-Kaida Irak wegen ihrer zahllosen Attentate und der Tausenden zivilen Opfer unter den Irakern immer schärfer in die Kritik geraten war und weil man deren Aktivisten immer stärker als „Fremdlinge“ betrachtete, die sich ungebeten in irakische Angelegenheiten einmischten, entschlossen sie sich zu einem Namens- und Imagewechsel: Man bezeichnete sich nicht mehr als „Al-Kaida Irak“, sondern schloss sich mit anderen Dschihadisten zur „Dachorganisation“ des „Islamischen Staates Irak“ (ISI) zusammen, der in den einschlägigen Foren durch einen gewissen „Omar al-Bagdadi“ ausgerufen wurde. Die Zweifel, ob es sich bei „Al-Bagdadi“ nicht etwa um eine Erfindung handele, um eine Verbundenheit zum Irak zu simulieren, verstummten nie. Dennoch entspann sich eine heftige Debatte in Cyber-Dschihadistan über den Sinn des ISI. Der Streit zwischen verschiedenen Autoritäten verschärfte sich schließlich so sehr, dass es zu einer Spaltung der Plattform „Al-Borak“, einem der wesentlichen Foren der Cyber-Dschihadisten, in zwei gegensätzliche Lager kam.

Al-Kaidas jetziger Führer Aiman al-Zawahiri hielt diesen Streit offensichtlich für so wichtig, dass er ihn im Dezember 2007 – damals noch als Stellvertreter Osama Bin Ladens – wieder aufgriff. In den Foren „Al-Ekhlass“ und „Al-Hesbah“ lud er ein, ihm Fragen zur Legitimation des ISI zu stellen. Doch eine erschöpfende Antwort auf die fast 2000 Fragen, die Cyber-Dschihadisten posteten – und die auch in einer Studie des West Point Combatting Terrorism Center analysiert wurden – gab er nicht.

Nach Jahren der Debatte lässt sich auch klar feststellen, dass der im Grunde nur noch im virtuellen Raum existente „Islamische Staat Irak“ gescheitert ist. Selbst viele Online-Dschihadisten bezweifelten dessen Legitimität. Der ISI, so die Auffassung vieler, führe nur zu einer „Fitna“, zu Uneinigkeit und Zwist in der Gemeinschaft der Rechtgläubigen. Vom virtuellen Raum der Foren-Debatten abgesehen hatten viele Iraker kein Interesse daran, die strengen Gesetzesauslegungen, die der ISI propagierte, zu respektieren. Sie fühlten sich vom exzessiven Blutvergießen meist ausländischer Islamisten im Irak abgestoßen – was dazu führte, dass sich viele Clans eher den Amerikanern zuwandten, als sich von den Kämpfern gegen die Besatzungsmacht vereinnahmen zu lassen. ISI, der vor einigen Jahren noch eine existenzielle Gefahr war, kann man heute getrost in die weit weniger bedrohliche Kategorie „Ärgernis“ einordnen.

Um die Ausrufung eines islamistischen Staates drehte sich auch die zweite wichtige Debatte, die unter Cyber-Dschihadisten geführt, aber im Westen kaum wahrgenommen wurde: Ende Oktober 2007 erklärte sich Doku Umarow, „Präsident“ der Untergrundregierung der tschetschenischen Separatisten, zum Führer des so genannten Kaukasus-Emirats. Damit schien eine gewisse Symbiose des globalen und lokalen Dschihadismus erreicht: Umarow sieht sich zwar als einen der bedeutendsten Kämpfer gegen Russland, steht aber auch der globalen Dschihad-Strategie der Al-Kaida nahe.

Ende 2010 aber entbrannte ein in den Foren offen geführter und bizarrer Streit um den von Umarow selbst ernannten „Stellvertreter“ an der Spitze des Kaukasus-Emirats. Hatte Umarow erst per Videobotschaft dazu aufgerufen, Aslambeck Vadalow einen Treueeid („Bay’at“) als seinem Stellvertreter zu schwören, so widerrief er dessen Ernennung nur eine Woche später – schließlich zeige Vadalow, der mittlerweile von einem arabischen Kommandeur in Tschetschenien namens Hussein Gakajew unterstützt wurde, kaum mehr Interesse an einem global geführten Dschihad und wolle sich ausschließlich auf den Kampf gegen Russland konzentrieren. Zwischen dem Lager der Umarow-Anhänger auf der einen und den Anhängern Vadalows und Gakajews auf der anderen Seite wogte der Streit in den Foren und mittels Videobotschaften über einen Monat hin und her. Die Angelegenheit erreichte noch größere Dimensionen, als sich zwei Großautoritäten in den Streit einschalteten: der bereits genannte Abu-Muhammad al-Makdisi und der in London lebende Syrer Abu Baschir al-Tartusi. Sie erließen eine Fatwa, in der Umarow zum wahren Emir erklärt wird. Inzwischen, so heißt es, hätten die beiden Gruppierungen ihre Differenzen vor einem Scharia-Gericht geklärt und die Konkurrenten hätten einander wieder den Treueeid geschworen.

Gab es auch einen Richtungsstreit, nachdem Osama Bin Laden am 1. Mai von einem US-Kommando getötet wurde? Nein. In den einschlägigen Foren waren ganz ähnliche Reaktionen zu beobachten: Man veröffentlichte Nachrufe auf eine „große Gestalt in der Geschichte des Islam“. Man schwor den USA und der pakistanischen „Verräter-Regierung“ Rache. Und man ist sich einig: Der globale Dschihad ist nicht zu Ende.

AARON Y. ZELIN arbeitet als Politikwissenschaftler an der Brandeis University, Massachusetts und betreibt die Website Jihadology.net.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 130-133

Teilen