IP

01. Nov. 2013

Neue Macht, neue Verantwortung

Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik

Dieses Papier – das die IP in Auszügen druckt – ist Ergebnis einer Initiative des German Marshall Fund und der Stiftung Wissenschaft und Politik, ­gefördert durch den Planungsstab des Auswärtigen Amtes. Es spiegelt den Konsens, aber auch Dissens der Diskussionen wider, die zwischen November 2012 und September 2013 in vier Arbeitsgruppen stattfanden.

Deutschland war noch nie so wohlhabend, so sicher und so frei wie heute. Es hat – keineswegs nur durch eigenes Zutun – mehr Macht und Einfluss als jedes demokratische Deutschland vor ihm. Damit wächst ihm auch neue Verantwortung zu.

Vor 1990 wurde (west-)deutsche Außenpolitik aus einem Koordinatensystem mit zwei Fixpunkten hergeleitet: der überwundenen Vergangenheit und der erwünschten Zukunft. Aus der Vergangenheit erwuchs das unbedingte Bekenntnis zu Menschenwürde, Freiheit, rechtsstaatlicher Ordnung und Demokratie sowie zu einer auf universale Normen gestützte internationale Ordnung. Diese Selbstbindung gilt auch weiterhin. Aus den Staatszielen nationale Einheit, Schutz gegen die Bedrohung aus dem Osten und Aussöhnung mit dem Westen folgte das Eintreten für die europäische Integration und das atlantische Bündnis. Diese Fixpunkte sind durch den Fall der Mauer, die Auflösung des Warschauer Paktes und den immer weiter vertieften europäischen Integrationsprozess verschwunden. Für die deutsche Außenpolitik bleiben Vereinte Nationen, EU und NATO als verbindliche Rahmen – und doch sucht sie gleichzeitig nach neuer Orientierung.

Die Zäsur von 1990 hat indes bekanntlich die Geschichte nicht beendet – auch nicht die deutsche. Im Gegenteil, Deutschlands strategisches Umfeld hat sich seitdem gewaltig verändert. Die Globalisierung eröffnet neue Freiheits- und Entwicklungsräume, schafft aber auch neue Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten und schwächt die Steuerungsfähigkeit staatlicher Politik. Die erklärten Feinde von früher sind vielfältigen, diffusen Sicherheitsrisiken gewichen. Aufsteigende Mächte fordern mehr Teilhabe. Die internationale Nachkriegsordnung wankt, aber eine neue ist nicht in Sicht. Die Vereinten Nationen, die NATO und die Europäische Union befinden sich im Umbruch; insbesondere der europäische Einigungsprozess steckt in der Krise.

Auf diese Veränderungen muss Deutschland reagieren. Bekenntnisse zur existierenden internationalen Ordnung reichen nicht mehr aus. Die unübersichtliche neue Lage und die Lockerung tradierter Bindungen sind aber auch kein Freifahrtschein für deutsche Alleingänge in der Welt. Denn Deutschland hat – das ist das Paradoxon deutscher Außenpolitik nach der Wiedervereinigung – seine formale völkerrechtliche Bindungsfreiheit zurückerhalten zu einer Zeit, in der kaum eine Aufgabe der Außenpolitik mehr im nationalen Alleingang gelöst werden kann.

Mit diesem Problem umzugehen ist die zentrale Aufgabe deutscher Außenpolitik. Vor allem anderen muss sie sich an der Einsicht orientieren, dass Deutschland überdurchschnittlich globalisiert ist. Viele seiner Bürger sind europäisch integriert und weltweit vernetzt, seine Unternehmen operieren auf allen Kontinenten. Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung und der friedlichen, offenen und freien Weltordnung, die sie möglich macht. Gleichzeitig ist Deutschland aber auch besonders abhängig vom Funktionieren dieser Ordnung. Es ist damit auf besondere Weise verwundbar und anfällig für die Folgen von Störungen im System.

Das überragende strategische Ziel Deutschlands sind der Erhalt und die Fortentwicklung dieser freien, friedlichen und offenen Ordnung. Deutschland müsste künftig schon mehr tun als jetzt, um diesen für es vorteilhaften Status quo zu bewahren. Es wird erst recht mehr Anstrengungen unternehmen müssen, um regionale und globale Ordnungsstrukturen den veränderten Herausforderungen anzupassen. Das kann es jedoch nur gemeinsam mit anderen tun.

Gefragt sind mehr Gestaltungswillen, Ideen und Initiativen. Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen. Aber unter den Bedingungen von Vernetzung und gegenseitiger Abhängigkeit – und ganz besonders im Rahmen der multilateralen Bindungen, die es selbst gewählt hat (UN, EU, NATO) – kann das nur heißen: führen für gemeinsame Ziele, führen mit anderen und mit Rücksicht auf andere.

Das neue strategische Umfeld

Aus den Anfängen der Globalisierung ist, befördert durch gewaltige technische Entwicklungen, eine dichte politische, ökonomische und soziale Verflechtung entstanden, die inzwischen fast den gesamten Globus umspannt. Diese vielfältigen Netzwerke haben weltweit Freiheitsräume geschaffen und Chancen für Wachstum und Entwicklung eröffnet. Denn sie bewegen Menschen und Güter durch physische Räume ebenso wie Daten und Ideen durch den Cyberraum; sie haben Kommunikation und Handel revolutioniert und abgeschottete Gesellschaften ebenso an die Weltmärkte angeschlossen wie an globale Debatten. Diese Verflechtung ist aber zweischneidig: Sie bewirkt eine nie zuvor gekannte Abhängigkeit und Verwundbarkeit, mit profunden Konsequenzen für die Autonomie von Nationalstaaten.

Am Standort Deutschland, in der Mitte einer immer tiefer integrierten Europäischen Union, wird das besonders deutlich. Europa profitiert von der Globalisierung, und Deutschland profitiert von der Union. Erst die wirtschaftliche und politische Integration hat den Staaten Europas im Verbund das internationale Gewicht verliehen, das selbst die Großen des Kontinents alleine nicht mehr auf die Waagschale bringen. Umgekehrt bedrohen Gefahren und Risiken in Europa fast nie nur einen Staat allein; Gefahrenabwehr und Risikomanagement sind in einem rein nationalstaatlichen Rahmen nur noch im Ausnahmefall sinnvoll zu denken und zu organisieren.

Diese neue Abhängigkeit und ihre Folgen werden besonders deutlich in der Sicherheitspolitik. Staaten sind nach wie vor die Hauptakteure der Weltpolitik; Macht, Konkurrenz und Geografie bleiben bestimmende Faktoren der internationalen Beziehungen. Die traditionellen Bedrohungen und Gefahren – Krieg, die Prolifera­tion von Massenvernichtungswaffen – sind weiterhin aktuell.

Die Globalisierung hat jedoch die Privatisierung und Individualisierung der Gewalt – etwa in Form von Terrorismus und organisierter Kriminalität – beschleunigt. Sie hat zudem ein breites Spektrum grenzüberschreitender Risikofaktoren hinzugefügt, die oft gehäuft auftreten, sich gegenseitig verstärken und gegen die staatliche Hoheitsgewalt nur wenig auszurichten vermag: Klimawandel, demografische Entwicklung, unkontrollierte Migration, Ressourcen- und Nahrungsmittelknappheit, Pandemien, schwache und versagende Staaten. Damit ist neben der Gefahrenabwehr das Risikomanagement zum neuen Paradigma der Sicherheitspolitik geworden.

Die weltweite Finanzkrise hat zudem illustriert, dass Vernetzung und Verflechtung auch nationale Wirtschaftsordnungen auf ganz neue Weise verwundbar machen – und in der Folge auch Gesellschaften und Regierungen. In der Euro-Zone hat sich gezeigt, dass Ungleichgewichte oder fehlregulierte nationale Ökonomien die Stabilität des ganzen Währungsraums gefährden können; auch der tief integrierte transatlantische Finanzmarkt hat sich als hochgradig anfällig erwiesen. Die Auswirkungen der Krise sind auf beiden Seiten des Atlantiks zu erkennen in politischen und institutionellen Blockaden oder im Erfolg populistischer Bewegungen. Autoritäre Schwellenmächte sind allerdings gegen solche Erschütterungen keineswegs besser gewappnet als westliche Demokratien.

Die neuen Technologien – die entscheidenden Treiber für die jüngste Vertiefung der Globalisierung – haben durchaus zwiespältige Auswirkungen auf die Macht von Staaten. Einerseits stärken sie die staatlichen Exekutiven, weil sie ihnen gegenüber ihren Bürgern völlig neue Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten an die Hand geben. Dieselben Technologien haben aber auch die Ermächtigung privater Akteure bewirkt – von Freiheitskämpfern, engagierten Bürgern, Verbrauchern und Wirtschaftsunternehmen bis hin zu kriminellen Organisationen und Terroristen.

Die Machtdiffusion im Inneren der Staaten geht mit Machtverschiebungen in der internationalen Politik einher. Die Weltordnung der Nachkriegszeit hat insgesamt ein bemerkenswertes Beharrungsvermögen bewiesen. Dem Westen und seiner auf Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Demokratie beruhenden Legitimität ist kein Gegenpol mit ähnlich universaler Strahlkraft erwachsen. Und der jahrzehntelange Garant dieser Ordnung, die Vereinigten Staaten, bleibt zumindest auf absehbare Zeit die einzige Supermacht mit globalem Ordnungswillen und Reichweite.

Doch die USA signalisieren – im Bewusstsein geschrumpfter materieller Ressourcen – deutlich, dass Amerikas Engagement in der Welt künftig selektiver und sein Anspruch an Partner entsprechend höher sein wird. Vor allem für Europa und Deutschland bedeutet dies einen großen Zuwachs an Aufgaben und Verantwortung.

Die drei Institutionen, über die deutsche Außenpolitik in der globalen Nachkriegsordnung mehr als ein halbes Jahrhundert lang verankert wurde – Vereinte Nationen, NATO und Europäische Union – befinden sich selbst im Umbruch. Alle drei sind Schauplatz fundamentaler Auseinandersetzungen zwischen ihren Mitgliedern über die Ausrichtung, Aufgaben und Architektur dieser Institutionen.

Gleichzeitig fordern aufstrebende Mächte eine angemessenere Vertretung in internationalen Institutionen. Manche stellen auch deren normative Grundlagen oder gar ihre Legitimität insgesamt in Frage. Aber sie tun dies nur selten in Verbindung mit dem Angebot eines Gegenentwurfs; oft sind sie nur Störer, nicht Gegenpol. Die Staaten des Westens selbst umgehen angesichts von anhaltendem Dissens und von Blockaden immer öfter die bewährten multilateralen Institutionen und greifen stattdessen zu ­„Koalitionen der Willigen“ oder in­formellen Formaten, um Krisen zu bewältigen und Probleme zu lösen. Kurz: Die Umwälzungen in Deutschlands strategischem Umfeld – in der Europa- und der Sicherheitspolitik, im Umgang mit neuen Mächten und bei der Erneuerung der globalen Ordnung – verlangen eine neue Definition deutscher Staatsziele.

Ziele, Werte und Interessen

Deutschlands Bekenntnis zu Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und rechtsstaatlicher Ordnung sowie zu einer auf universale Normen gestützten internationalen Ordnung bleibt gültig, ebenso wie die Einbindung der deutschen Außenpolitik in Vereinte Nationen, Europäische Union und Atlantisches Bündnis. Vor dem Hintergrund seines veränderten strategischen Umfelds müssen zu dieser Definition deutscher Staatsziele jedoch neue Elemente hinzutreten.

Deutschland mit seiner freien und offenen Bürgergesellschaft lebt wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung. Seine gegenwärtige Stärke beruht wesentlich auf seiner Fähigkeit zu Reformen, die seine Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit erhalten haben – aber noch mehr auf seinem Erfolg als Handels- und Exportnation. Es ist existenziell abhängig vom Austausch (von Menschen, Gütern, Ressourcen, Ideen und Daten) mit anderen Gesellschaften. Deutschland braucht also die Nachfrage aus anderen Märkten sowie den Zugang zu internationalen Handelswegen und Rohstoffen. Mehr noch aber braucht es das stabile und vitale globale Umfeld, das diese Freiheiten erst möglich macht: ein starkes Europa und eine liberale, normengestützte Weltordnung mit freien, offenen Staaten und Gesellschaften. Deutschlands überragendes strategisches Ziel muss es daher sein, diese Weltordnung zu erhalten, zu schützen und weiter zu entwickeln.

Gleichzeitig unterhält Deutschland allerdings auch strategisch wichtige Beziehungen zu Staaten, die zwar hohe Wachstumsraten und Renditen versprechen, aber bisher wenig Neigung zeigen, sich das westliche Staats- und Gesellschaftsmodell zum Vorbild zu nehmen. Aus diesem Spannungsverhältnis folgt indes keineswegs, dass Deutschland im Zeichen einer neuen „Realpolitik“ zwischen seiner tradierten normativen und multilateralen Ausrichtung und einer geoökonomisch orientierten Außenpolitik zu wählen hat; oder dass es sich gar – noch deutlicher gesagt – zwischen seinen Werten und seinen Interessen entscheiden muss. Richtig ist, dass Zielkonflikte zwischen deutschen Werten und Interessen, gerade im Verkehr mit autoritären Staaten, kurzfristig oft unvermeidbar sind und im konkreten Einzelfall ausbalanciert werden müssen. In der langfristigen Perspektive aber ist Werteorientierung für eine westliche Demokratie ein existenzielles Interesse.

Denn Menschenwürde, bürgerliche Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit und Partizipation gefährden nicht etwa die Stabilität einzelner Länder und Regionen, sie sind deren Voraussetzung. Autoritäre Regime sind aber auch keineswegs schon deshalb stabil, weil sie autoritär sind. Gerade (Ost-)Deutschlands jüngere Geschichte hat gezeigt, wie fragil autokratische Macht sein kann. Diese Ziele auch in anderen Staaten zu unterstützen, entspricht daher Deutschlands Werten ebenso wie seinen strategischen Interessen. Wenn Deutschland als außenpolitischer Akteur nicht nur erfolgreich, sondern auch glaubwürdig sein will, muss es die Werte, die es zuhause pflegt, auch in seiner Außenpolitik verfolgen. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die Fliehkräfte der Globalisierung (verstärkt durch die globale Wirtschaftskrise) nicht nur die Staaten des Westens, sondern auch ihre Bürger treffen: Gesellschaften werden fragiler, Gesellschaftsverträge brüchiger. Umgekehrt gilt also: Deutschland muss die Werte, die es nach außen vertritt, auch intern glaubhaft verkörpern. Denn dass die Wertebindung deutscher Außenpolitik zuhause beginnt, versteht sich keineswegs von selbst. Die globale Wirtschaftskrise hat mit der Illusion aufgeräumt, dass moderne Demokratien gegen populistische Versuchungen oder ängstliche Abschottungsversuche nach außen gefeit sind; das gilt auch für Europa und für Deutschland. Doch die Legitimität und Strahlkraft des westlichen Modells beruhen nicht zuletzt darauf, dass es auch zuhause entschlossen gegen Anfechtungen verteidigt wird.

Partner deutscher Außenpolitik

Deutsche Außenpolitik wird nach wie vor mit alten, aber auch mit neuen Partnern zusammenarbeiten; mit bewährten gleichgesinnten Freunden und Verbündeten, mit Herausforderern und manchmal sogar mit Störern. Kooperation – von multilateralen Institutionen über Bündnisse bis hin zur supranationalen Integration – dient aber heute nicht mehr bloß der Delegation von Aufgaben, der Verstärkung von Ressourcen und Kräften oder der Begründung von Legitimität. Ein so tief in die Weltwirtschaft eingebundenes Land wie Deutschland wird immer öfter schlicht keine andere Wahl haben als das gemeinsame Handeln, und zwar weil engmaschige Zusammenarbeit über Staatsgrenzen hinweg das einzig sinnvolle oder gar mögliche Format ist, um Probleme zu lösen, Risiken zu managen oder Gefahren abzuwehren.

Die jüngste Vergangenheit hält viele Beispiele (Libyen, Mali, Syrien) dafür bereit, dass trotz dieser gegenseitigen Abhängigkeit Meinungsverschiedenheiten unter Verbündeten möglich und sogar legitim sind. Aber deshalb muss Deutschland erst recht künftig die eigene Verflechtung und Abhängigkeit in seine Kalkulation mit einbeziehen. Das gilt auch umgekehrt: Nicht nur Deutschland ist abhängig von seinen Partnern, sie sind auch abhängig von Deutschland. Souveränität in einer vernetzten Welt heißt deshalb auch Rücksichtnahme und Ergebnisverantwortung.
Der entscheidende Grund, warum Deutschland ein strategisches Interesse daran hat, ein guter Nachbar, Verbündeter und Partner zu sein, leitet sich aus dieser Vernetzung ab. Die größte aller außenpolitischen Auf­gaben – die Erneuerung, Anpassung und Neugestaltung der internationalen Ordnung – ist von keinem Staat dieser Erde allein zu leisten. Bisher hat Deutschland jedoch, zumindest im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft, seinem geopolitischen Gewicht und seinem internationalen Ansehen, eher selektiv und zögerlich Gestaltungsangebote gemacht oder Initiativen ergriffen. Noch ist Deutschland eine Gestaltungsmacht im Wartestand.

Deutschland wird künftig auch öfter führen müssen. Das heißt aber nicht, sich an die Spitze zu setzen und Gefolgschaft zu erwarten. Es heißt vielmehr, in langfristige Beziehungen und in Kompromisse zu investieren; das verlangt Geduld und Empathie.
Eine solche partnerschaftliche Führung hat Kosten. Sie sind es wert, weil nur eine ernsthaft am Konsens und Interessenausgleich orientierte Führung auf Erfolg zählen kann. Deutschland muss gestalten; aber entweder gestaltet es mit anderen, oder es hört auf zu gestalten.

Deutschland und die Internationale Ordnung

Eine deutsche Rolle bei der Fortentwicklung der internationalen Ordnung muss sich an den Grundwerten von Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und gutem Regieren, demokratischer Partizipation, globaler sozialer Marktwirtschaft, nachhaltiger Entwicklung, Frieden und menschlicher Sicherheit orientieren. Ausgangspunkt ihrer Reformbestrebungen muss die aktuelle freiheitliche und auf Kooperation angelegte Weltordnung bleiben – es geht um ihre Anpassung und Erweiterung, nicht um eine Umgestaltung oder gar Neuordnung. Schon gar nicht geht es darum, dass Deutschland im Alleingang Gesamtkonzepte vorlegt; wohl aber sollte es – im Verbund mit gleichgesinnten Partnern und im Austausch mit jenen Schwellenmächten, deren Wertvorstellungen und Interessen ähnlich gelagert sind – auf einer Vielzahl von Feldern Ideen und Impulse für Veränderungen geben.

Auf oberster politisch-institutioneller Ebene sollte Deutschland sich für die Reform der Vereinten Nationen und der internationalen Finanzinstitutionen einsetzen. Dazu werden aber Änderungen notwendig sein, die sicherstellen, dass die aufsteigenden Schwellenländer besser beteiligt sind und ihre Interessen ernst genommen werden. Im Sicherheitsrat sollten die führenden neuen Gestaltungsmächte vertreten sein, die bereit und willens sind, Verantwortung für die internationale Ordnung zu übernehmen. Dazu gehört auch Deutschland; allerdings ist langfristig ein europäischer Sitz im Sicherheitsrat erstrebenswert.

Die Staaten des Westens – auch Deutschland – werden auf einige ihrer Stimmrechtsanteile in den Entscheidungsgremien der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds verzichten müssen, damit die aufstrebenden Schwellenländer angemessen repräsentiert sind. Das alles schließt nicht aus, dass Deutschland gleichzeitig informelle oder schwach formalisierte Strukturen wie die G-20-Gruppe nutzt, um in einer Krise und bei Blockaden oder Ineffektivität der ­etablierten Institutionen die Fähigkeit zur Problemlösung wieder zu ­gewinnen. Auf Dauer sollten allerdings solche Formate verrechtlicht oder wenigstens auf möglichst breiter Basis formalisiert werden, um sie transparent, berechenbar und stabil zu machen.

Auch an funktionierenden Regionalordnungen hat Deutschland ein Interesse, allen voran an der Erneuerung der Europäischen Union selbst; aber als überdurchschnittlich globalisierte Ökonomie hat es sehr wohl auch ein Eigeninteresse an der Stabilität und Prosperität anderer Weltregionen. Selbst wenn die Neigung, nach europäischem Vorbild Kompetenzen an supranationale Instanzen abzugeben, anderswo gering ist, haben Europa und Deutschland hier einiges an Erfahrungen anzubieten, von der Aufarbeitung von Kriegsunrecht über Grenz- und Territorialschlichtungsverfahren bis zur Korruptionsbekämpfung. Sicherheitspolitische Dimensionen sollten dabei stärker als bisher mit bedacht werden: Gerade weil Deutschland am Handel mit China und seinen Nachbarn ein existenzielles Interesse hat, dürfen ihm die angespannten Beziehungen zwischen den Staaten in Südost- und Ostasien nicht gleichgültig sein.

Deutschland sollte sich überdies für die Anpassung, Verdichtung und, wo möglich, Verrechtlichung von sektoralen Ordnungen einsetzen. Eine der größten Leistungen der liberalen Nachkriegsordnung war es, einen Rahmen für die Schaffung einer Serie von epochalen multilateralen Regelwerken vorzugeben: darunter Konventionen zum Schutz der Menschenrechte und zur internationalen ­Strafgerichtsbarkeit, zu Handel und Finanzen, zu Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie zu See- und Weltraumrecht. Doch auch diese Regelwerke bedürfen inzwischen vielfach der Erneuerung; typischerweise weil durch neue Entwicklungen (etwa neue Techniken zur Rohstoff- und Energiegewinnung in der Tiefsee, das Schmelzen des Polareises oder die Privatisierung des Weltraums) Konfliktstoff und Regelungslücken entstanden sind.

Von zentraler Bedeutung ist der Schutz der Gemeinschaftsräume samt ihrer kritischen Infrastruktur, die die für die Globalisierung notwendige Mobilität von Menschen, Gütern und Daten ermöglichen. Dazu gehören Luft- und Weltraum (Satelliten) und die Weltmeere (Telekommunikationskabel). Insbesondere der Cyberraum, der inzwischen an fast allen Aspekten staatlichen und gesellschaftlichen Lebens Anteil hat, ist immer konfliktträchtiger geworden, von Cyberkrieg, -terrorismus und -spionage bis zur organisierten Kriminalität und dem Schattenfinanzwesen. Hier einen internationalen Regulierungsansatz zu finden, ist eine besonders komplexe Herausforderung – aber deshalb nicht weniger dringend erforderlich.

Die Unterstützung effektiver Staatlichkeit – durch Armutsbekämpfung, Entwicklungszusammenarbeit, Krisenprävention und -management, Unterstützung der Friedenskonsolidierung oder Transformationspartnerschaften – bleibt ein wichtiger Baustein für jede regelbasierte globale Ordnung. Zu effektiver Staatlichkeit gehören auch freie Gesellschaften und funktionierende Gesellschaftsverträge. Deutsche Diplomatie und Entwicklungshilfe darf nicht nur die Staatseliten ansprechen, sondern muss sich am Leitbild der menschlichen Sicherheit orientieren.

Einfluss in der vernetzten Welt

In einer polyzentrischen, globalisierten Welt sind die klassischen Insig­nien staatlicher Macht – Bruttosozialprodukt, Rohstoffe, Militär – keineswegs bedeutungslos geworden; aber sie reichen alleine nicht mehr aus, um einem Staat Gewicht in den internationalen Beziehungen zu verleihen. Gestaltenden Einfluss hat vielmehr der Staat, der beweist, dass er dazu beitragen kann, Probleme und Konflikte zu lösen, die Teile oder die Gesamtheit der internationalen Gemeinschaft betreffen; der Ideen artikuliert, Impulse setzt und Kompromissangebote macht statt einseitig Bedingungen diktieren zu wollen; der dazu Koalitionen und Netzwerke von Gleichgesinnten bildet, mit Verhandlungsplattformen, die sowohl offen als auch transparent sind; und der imstande ist, dabei nicht nur Staaten, sondern auch nichtstaatliche Akteure einzubinden. Einfluss hat vor allem der Staat, der zeigt, dass er sich bei seinen Gestaltungsbemühungen vom Prinzip der Legitimität leiten lässt.

Weil die friedliche Fortentwicklung der internationalen Ordnung nicht gegen, sondern nur mit den neuen Mächten möglich ist, wird Deutschland sich auf Wertvorstellungen und Interessen einlassen müssen, die deutlich von den eigenen oder denen anderer gleichgesinnter Partner abweichen – etwa bei der Bekämpfung des Klimawandels, bei der Umsteuerung zur Nutzung erneuerbarer Energien oder bei der Aushandlung nachhaltiger Produktions- und Kon­sumstandards. Deutschland wird sich daher zu Kompromissen und Konzessionen veranlasst sehen, weil das systemische Interesse an der Erhaltung der internationalen Regelwerke und Institutionen überragend ist: lieber Kompromisse als eine ­zerfallende internationale Ordnung. Allerdings wird es von den aufstrebenden Mächten auch mehr globale Verantwortung einfordern müssen, denn noch sind die neuen Mächte oft Konsumenten, aber nicht Produzenten globaler Gemeinschaftsgüter und Sicherheit.

Da aber, wo Störer die internationale Ordnung in Frage stellen, wo sie internationale Grundnormen (etwa das Völkermordverbot oder das Verbot der Anwendung von Massenvernichtungswaffen) verletzen, wo sie Herrschaftsansprüche über Gemeinschaftsräume oder die kritische Infrastruktur der Globalisierung geltend machen oder gar diese angreifen, wo mit anderen Worten Kompromissangebote oder Streitschlichtung vergeblich sind: Da muss Deutschland bereit und imstande sein, zum Schutz dieser Güter, Normen und Gemeinschaftsinteressen im Rahmen völkerrechtsgemäßer kollektiver Maßnahmen auch militärische Gewalt anzuwenden oder zumindest glaubwürdig damit drohen zu können.

•    Deutschland sollte sich auf Dauer als ein Impulsgeber für die Gestaltung des internationalen Wandels begreifen.
•    Deutschland sollte sich für die Reform der Institutionen der internationalen Ordnung einsetzen, insbesondere dafür, das UN-System effektiver und legitimer zu machen. Dazu gehört auch die Reform des Sicherheitsrats unter deutscher Beteiligung.
•    Deutschland sollte sich für die Anpassung, Verdichtung und Verrechtlichung von sektoralen Ordnungen sowie den Schutz der Gemeinschaftsräume einsetzen.

-------------------

Das Papier „Neue Macht, neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch“ unter der Projektleitung von Dr. Constanze Stelzenmüller (GMF) und Dr. habil. Markus Kaim (SWP) wurde am 16. Oktober 2013 in der Stiftung Wissenschaft und Politik vorgestellt. Teilnehmer und Teilnehmerinnen an diesem Projekt waren außen- und sicherheitspolitische Fachleute aus Bundestag, Bundesregierung, Wissenschaft, Wirtschaft, Stiftungen, Denkfabriken, Medien und Nichtregierungsorganisationen. Die vollständige Liste ist unter http://www.swp-berlin.org/de/projekte/neue-macht-neue-verantwortung/das… abrufbar. Weitere, jeweils mit Empfehlungen versehene Kapitel des Papiers sind neben der hier abgedruckten Einleitung und dem Kapitel „Deutschland und die Internationale Ordnung“ auch die Kapitel  „Deutschland und Europa“ (Abdruck in der Januar/Februar-Ausgabe 2014 der IP), „Deutschland und seine strategischen Beziehungen“ sowie „Deutschland und die internationale Sicherheit“. Eine englische Fassung liegt bereits vor, die französische Fassung ist in Vorbereitung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S. 80-89

Teilen