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Buchkritik
Nachdem zuletzt das Bangen um Irland und das Beäugen der finalen Winkelzüge des tschechischen Staatspräsidenten die Diskussion noch bändigen konnten, ist pünktlich zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags eine Flutwelle von Interpretationen erschienen, die Orientierung versprechen. Drei Sammelbände helfen beim Kartieren des unbekannten Terrains.
Die Ratifikation des Lissabonner Vertrags hat alle Schleusen der Europapublizistik geöffnet. Wohl dem Verlag, der rechtzeitig auf den Erfolg des Vertrags gesetzt hat und sich an dieser Offensive nun nicht mit Schnellschüssen beteiligen muss, sondern solide durchdachte und sorgfältig editierte Bände auf den Markt bringen kann.
Als Grundlage und Einstieg bietet sich die zweite Auflage des Bandes „Deutsche Europapolitik. Von Adenauer bis Merkel“ an, den die Würzburger Politikprofessorin Gisela Müller-Brandeck-Bocquet herausgegeben hat. In fünf Kapiteln wird das Wirken Deutschlands in Sachen Europa chronologisch dargelegt. Die Beiträge greifen so bruchlos ineinander, dass der Band fast monographisch anmutet. Neben der akkuraten Nachzeichnung der wesentlichen Wendepunkte, Akteure und Strategien werden auch die Strukturmerkmale der deutschen Europapolitik über den gesamten Zeitraum herausgearbeitet. Dies ist durchaus von politikwissenschaftlichem Nutzen, ändert aber nichts am eher historischen Charakter der Arbeit.
Für die aktuelle zweite Auflage dieses 2002 zum ersten Mal erschienenen Bandes ist der Abschnitt über die rot-grüne Regierungszeit deutlich überarbeitet und ein Kapitel zur Bilanz der Großen Koalition unter Angela Merkel hinzugefügt worden. Durchaus differenziert, aber mit schalem Nachgeschmack wird Gerhard Schröders Europapolitik beurteilt.
Zwar sei seine Regierung durchaus grundsätzlich europafreundlich gewesen; die oft brachiale und auf populistischen Symphatiegewinn daheim schielende Interessendurchsetzung des Kanzlers in Brüssel aber stößt bei den Autoren auf dezidierte Kritik. Deutschland habe hier Einfluss verspielt, indem es seine Interessen anders als zuvor nicht mehr vor allem langfristig definiert habe, sondern auch auf kurzfristige Vorteilserlangung aus war.
Mit der Großen Koalition geht die Autorin großzügiger um. Nicht nur bleibe hier die erfolgreiche deutsche Ratspräsidentschaft 2007 in Erinnerung, bei der Merkel es geschafft habe, ehrliche Maklerin und Verfassungsfürsprecherin in einem zu sein. Auch entsteht das Bild einer Kanzlerin als politischem Naturtalent, das trotz des von ihr gepflegten Stils des „Ungefähren“ enorm strategisch operiere und so beachtliche Ergebnisse erzielen könne.
Nachdem das Institutionen- und Regelgefüge der EU nun auf absehbare Zeit festgeklopft ist, wünscht man sich nach der Lektüre, dass eben diese strategischen Fähigkeiten fortan zur Bewältigung der übergroß erscheinenden Strukturprobleme der EU genutzt werden. Ob Angela Merkel als große Europäerin in die Geschichte eingehen wird, hängt vor allem davon ab.
Der Zukunft zugewandt
Deutlich analytischer, vorwärtsgerichteter, aber auch thematisch eklektischer nähert sich Peter-Christian Müller Graffs Sammelband „Deutschlands Rolle in der Europäischen Union“ dem europäischen Großthema. Der Band stellt eine Kuriosität dar, denn es handelt sich um die unveränderte zweite Auflage eines erstmals 2007 erschienenen Bandes, dessen Beiträge wiederum überwiegend auf Vorträgen zu einer Fachkonferenz im Jahre 2005 basieren. So sind einige der insgesamt 13 Aufsätze sowohl durch das Inkrafttreten des neuen Vertrags als auch durch das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die daraus folgende neue Begleitgesetzgebung deutlich veraltet.
Dass die Sammlung dennoch eine lohnende Lektüre darstellt, liegt unter anderem an dem herausragenden verfassungsrechtlichen Aufsatz Ulrich Fastenraths, der die Kompatibilität der deutschen Verfassungsordnung mit der europäischen Integration gedankenscharf und mit großer argumentativer und sprachlicher Klarheit untersucht. Fastenrath kommt dabei zu einer gänzlich anderen Bewertung als der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Udo di Fabio im Lissabon-Urteil.
Anders als das Gericht, das in der deutschen Verfassung klare Integrationsgrenzen gezogen sieht, hält Fastenrath auch ein Aufgehen Deutschlands in einem europäischen Bundesstaat für mit dem Grundgesetz vereinbar. Voraussetzung dafür sei, dass Deutschland seine Staatsqualität erhalte (was ja bei den Bundesländern innerhalb der deutschen staatlichen Ordnung trotz fehlender Souveränität auch der Fall sei) und dass eine weitgehende Demokratisierung der EU stattfinde. Letztere sei nur durch eine umfassende Politisierung Europas erreichbar.
In Fastenraths Argumentation scheint die Möglichkeit einer nicht rückwärts sondern zukunftsgewandten Europadebatte auf, wie sie nach dem seltsam archaisch anmutenden Lissabon-Urteil besonders angezeigt wäre. Ebenfalls von bleibendem Wert ist der Beitrag des Herausgebers, der die zeitlose Aktualität des Verfassungsgedankens und die enorme Kraft der Integrationslogik im Projekt Europa eindrucksvoll beschreibt, sowie der erhellende Beitrag Friedrich Heinemanns zum stets unterschätzten Thema EU-Haushaltspolitik.
Mit insgesamt 20 Beiträgen ist der Sammelband „Reform und Krise. Europäische Politik im 21. Jahrhundert“, herausgegeben durch Olaf Leiße, besonders breit angelegt. Der Band profitiert von einer klaren editorischen Linie, die alle Aufsätze im weitesten Sinne um das Phänomen der Reform kreisen lässt. Für Leiße, Privatdozent an der Uni Jena, ist der Erhalt der Reformfähigkeit der EU eine der Schlüsselaufgaben von Europapolitik. Er hält diese sogar für wichtiger als die Reformen der einzelnen EU-Politikfelder selbst. Auch wenn man ihm hier nicht folgen mag, weil man die Pflege des Instruments nicht für wichtiger als seine Nutzung halten mag, so ist doch ein positiver und zukunftsgewandter Grundton gesetzt, an den sich die Autoren fast durchgehend halten.
Besonders bemerkenswert ist der Beitrag von Torsten Oppelland, der fragt, ob der Lissabon-Vertrag tatsächlich, wie erhofft, mehr Transparenz, Effizienz und Demokratie in die EU bringt. Was dann folgt, ist eine bestechende Analyse des politischen Systems der EU, die dieses an den Maßstäben von Parlamentarismus und Präsidentialsystem misst und so zu zwingenden und jeder falschen Europalyrik abholden Aussagen und Bewertungen über die Leistungsfähigkeit des Systems und die berechtigten und unberechtigten Erwartungen daran kommt. Dies ist nicht nur gute Wissenschaft mit hohem Nutzwert, sondern auch erfrischend anregende Lektüre.
Eine ausgewogene Analyse der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik steuert Markus Kaim bei. Zwar ist verwunderlich, dass die zentrale Rolle des Zypern-Türkei-Problems für die Paralyse des NATO-EU-Verhältnisses bei ihm nicht erwähnt wird, aber seine unsentimentale Bewertung der bisherigen europäischen Leistungen in der ESVP ist deshalb nützlich, weil sie vor überzogenen Erwartungen schützt, ohne das mühsame Geschäft in diesem Bereich lächerlich zu machen. Zu optimistisch hingegen ist Siegmar Schmidt, der sich in seiner GASP-Gesamtanalyse im technischen Klein-Klein behaupteter Fortschritte verliert und dabei das ziemlich umfassende Versagen der EU als strategischer Akteur auf der Weltbühne nicht mehr erkennen kann.
Der Band hat mit seiner Themenbreite fast Kompendiencharakter, vereint Autoren aus der politischen Praxis mit Wissenschaftlern und hat vom gedankenreichen Essay bis zur harten Analyse alles im Programm. Im Allgemeinen wie im Speziellen hat der Leser hier eine steile Lernkurve, der Band sei ihm dringend ans Herz gelegt.
Ein kleines Manko allerdings weisen alle drei Bücher auf: Es fehlt ein Register. Nun mag dies bei Sammelbänden nicht üblich sein. Wenn aber so erkennbar auf handbuchartige Themenbreite und teils sehr grundlegende fachliche Durchdringung gesetzt wird wie hier, dann sollte ein solcher Dienst am Leser angeboten werden.
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet u.a. (Hrsg.): Deutsche Europapolitik. Von Adenauer bis Merkel. Wiesbaden: VS Verlag 2010, 349 Seiten, 24,90 Euro
Peter-Christian Müller Graff: Deutschlands Rolle in der Europäischen Union. Baden-Baden: Nomos 2009, 352 Seiten, 64,00 Euro
Olaf Leiße (Hg.): Reform und Krise. Europäische Politik im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag 2010, 397 Seiten, 39,95 Euro
JAN TECHAU leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der DGAP.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 135 - 137