Gegen den Strich

26. Febr. 2024

Gegen den Strich: Narendra Modis Indien

Viele in Europa sehen das Land als demokratischen Widerpart zu China, andere stellen es als Klimasünder an den Pranger und verweisen auf die schädlichen Einflüsse des Hindunationalismus: Unter Langzeitpremier Narendra Modi ist das Bild, das man sich im Westen von Indien macht, noch unschärfer und widersprüchlicher geworden als zuvor. Wo liegt die Wahrheit? Sechs Thesen auf dem Prüfstand.

Bild
Bild: Finanzministerin Nirmala Sitharaman
Viel zu sagen: Die Ex-Verteidigungs- und jetzige Finanzministerin Nirmala Sitharaman gehört zu den Frauen, die unter Narendra Modi wichtige politische Ämter bekleiden.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

„Als Gegengewicht zu China ist Indien für den Westen ein wichtiger Partner“

Ja, aber. Indien kann ein wichtiger Partner sein, allerdings sollte niemand in Berlin, Paris oder Brüssel erwarten, dass Neu-Delhi sich die politischen Ziele Europas und der USA zu eigen macht. 

Indien hat seit seiner Unabhängigkeit 1947 stets eine an den eigenen Inteessen orientierte Realpolitik betrieben und es sorgfältig vermieden, sich in ein Lager einzuordnen. Der erste Premierminister des Landes, Jawaharlal Nehru, gehörte zu den Architekten der Blockfreien-Bewegung, die darauf zielte, dem (heutigen) Globalen Süden eine eigene, von den Großmächten unabhängige Stimme zu geben. Die von Nehru initiierte Bandung-Konferenz in Indonesien brachte 1955 zum ersten Mal die zum Teil noch mit dem Kolonialismus ringenden Staaten Asiens und Afrikas zusammen, um gemeinsame Ziele zu formulieren.

„Was bedeutet es, sich einem Block anzuschließen?“, schrieb Nehru seinerzeit. „Es kann doch nur eines bedeuten: die eigene Meinung zu einer bestimmten Frage aufzugeben, die Meinung der anderen Partei in dieser Frage zu übernehmen, um ihr zu gefallen.“ Indiens Außenpolitik, so Nehru weiter, bestehe darin, „uns von den großen Blöcken fernzuhalten, freundlich zu allen Ländern zu sein, (aber) uns nicht in irgendwelche Bündnisse zu verstricken ..., die uns in einen möglichen Konflikt hineinziehen könnten. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir keine engen Beziehungen zu anderen Ländern unterhalten.“

Heute ist Indien das bevölkerungsreichste Land der Erde und die fünftgrößte Wirtschaftsmacht. Die Blockkonfrontation des Kalten Krieges ist Vergangenheit, doch Indien hat nach wie vor kein Interesse daran, in eine neue Konfrontation hineinzugeraten. Stattdessen will sich das Land entsprechend seiner Größe und neu gefundenen Kraft stärker als früher auf der globalen Bühne engagieren. „Strategische Autonomie“ heißt die Formel, die Außenminister Subrahmanyam Jaishankar so beschreibt: „Das Gefühl, dass wir unbeteiligt sein können, müssen wir hinter uns lassen.“ Indien solle „die Welt aktiver gestalten, andere Akteure selbstbewusster einbinden, klarer erkennen, was unsere eigenen Interessen sind, und versuchen, sie voranzubringen.“

Das lässt sich etwa am Verhältnis Indiens zu China und Russland ablesen. Der Westen hätte es gern gesehen, wenn Indien sich nach der russischen Invasion in der Ukraine den wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen angeschlossen hätte. Doch das Land profitiert vom billigen russischen Öl und hat die Einfuhrquote von 2 Prozent seiner gesamten Ölimporte im Jahr 2021 auf 20 Prozent im Jahr 2022 angehoben. Neu-Delhi heißt Putins Überfall auf ein unabhängiges Land nicht gut, doch ein konstruktives Verhältnis zu Moskau ist Premier Narendra Modi wichtiger als das Prinzip. 

„Ein schwacher Putin ist Indiens größter Albtraum“, schreibt Mohamed Zeeshan, Autor des Buches „Flying blind: India’s Quest for Global Leadership“. In der Tat will Neu-Delhi es vermeiden, Moskau noch weiter in die Arme Pekings zu treiben. China ist für Indien, anders als für die USA und die EU, nicht in erster Linie ein „systemischer Rivale“. Es ist ein schwieriger und übermächtiger Nachbar, gegen den man bereits 1962 einen Krieg verloren hat und der das Land immer wieder in militärische Scharmützel in den umstrittenen Grenzregionen im Norden verwickelt. Eine größere Konfrontation mit Peking ist nicht in Neu-Delhis Interesse, auch wenn es dessen aggressiver werdende Politik im Südchinesischen Meer mit Sorge sieht.

Kurz: Es gilt, die geopolitischen Realitäten Indiens anzuerkennen. Wenn Indien sich global für eine multipolare Weltordnung stark macht, dann deshalb, weil es der Auffassung ist, dass es seine eigenen Interessen am besten selbst vertreten kann, und nicht als Teil eines Blockes. Dabei geht Neu-Delhi pragmatisch und un­ideologisch vor. Eine Zweiteilung der Welt in Demokratien und Autokratien hält es für unsinnig.

Aus diesem Grund engagiert sich Neu-Delhi in so unterschiedlichen Dialogforen wie den BRICS, der QUAD und der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB). Die BRICS sind ein loses Bündnis der Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, dessen Mitglieder international mehr Einfluss gewinnen wollen. Kürzlich wurden auch Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate in die BRICS-Gruppe ­aufgenommen. 

Die QUAD-Gruppe (Quadrilateraler Sicherheitsdialog) ist ein militärpolitisch ausgerichteter Zusammenschluss der Länder USA, Australien, Indien und Japan. Indiens Engagement hier ist auch Ausdruck der Sorge um Chinas Militärpräsenz im Indo-Pazifik. Die staatliche chinesische Zeitung Global Times bezeichnet die QUAD als „informelle Anti-China-Sicherheitsgruppe“. Dennoch ist Indien auch in der von Peking initiierten AIIB engagiert und hält mit 8 Prozent nach China (27 Prozent) die zweitmeisten Anteile an der Entwicklungsbank. 

All diese Einrichtungen waren und sind eine Reaktion darauf, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Bretton-
Woods-Institutionen, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, sowie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen noch immer die Machtverhältnisse der damaligen Zeit widerspiegeln. Reformversuche, die darauf zielten, eine größere Zahl von Ländern in die globalen Entscheidungsprozesse einzubeziehen, waren wenig erfolgreich, weshalb diese sich andere Gre­mien der Zusammenarbeit geschaffen haben. Die Ständige Vertreterin Indiens bei den Vereinten Nationen, Ruchira Kamboj, hält die derzeitige Struktur des Sicherheitsrats für einen Anachronismus, der sich nicht an die seismischen Veränderungen in den internationalen Beziehungen der vergangenen Jahrzehnte anpassen konnte.

Die Zusammenarbeit mit Deutschland und der EU ist für Indien ein wichtiger Baustein in einer neuen globalen Weltordnung, in der Neu-Delhi sich selbst als eigenständiger Pol versteht.

 

„Unter der Regierungspartei BJP ist Indiens Demokratie in Gefahr“

Eher nicht, obwohl das immer wieder lautstark behauptet wird. Die größte Gefahr für die indische Demokratie geht derzeit wohl von der Tatsache aus, dass die wichtigste Oppositionspartei, der indische Nationalkongress, nicht in der Lage ist, überzeugende Gegenkandidaten zu Premierminister Modi aufzu­stellen, weil die Partei meint, nur ein Mitglied der Nehru/Gandhi-Dynastie könne das Land regieren. Doch der Urenkel des ersten Premierministers Jawaharlal Nehru, Rahul Gandhi, findet kein Mittel gegen die Popularität Modis.

Das liegt zum Großteil daran, dass Modi nach Meinung der Wähler im vergangenen Jahrzehnt vieles richtig gemacht hat. Zwar haben auch seine Vorgänger dazu beigetragen, dass in den zurückliegenden 20 Jahren mehr als 400 Millionen Menschen aus der Armut geholt wurden. Doch Modi versteht es auch auf andere Weise, die Menschen anzusprechen. Seine Kampagne zum Bau von Toiletten etwa war ein großer Erfolg in einem Land, in dem bis dahin rund 60 Prozent der Bevölkerung ihr „Geschäft“ im Freien verrichteten. Innerhalb weniger Jahre wurden mehr als 100 Millionen Toiletten im ländlichen Raum gebaut.

Mit der erfolgreichen Ausrichtung des G20-Gipfels in Neu-Delhi 2023 präsentierte sich Indien der Welt als moderne, globale Macht, die inklusives, grünes Wachstum ebenso vorantreiben will wie neue multilaterale Institutionen, die digitale Transformation und eine stärkere Teilhabe von Frauen. Der Gipfel war national wie international ein PR-Erfolg. Narendra Modi wird in Indien als starker Anführer wahrgenommen, der dem Land, das noch immer unter den Traumata der Kolonialzeit leidet, zu nationaler Größe und einem neuen Selbstbewusstsein verhilft.

Dabei fassen Modi und seine Bharatiya Janata Partei (BJP) Kritiker zuhause nicht mit Samthandschuhen an. Druck auf Journalistinnen und zivilgesellschaftliche Organisationen wird auf vielfältige Weise ausgeübt, von Trollen im Internet über intensive Steuerprüfungen bis zu Verhaftungen unter Terrorverdacht. Oppositionsführer Rahul Gandhi wurde gar sein Sitz im Parlament wegen angeblicher Diffamierung Modis aberkannt. 

Dennoch ist Indien von einer BJP-Diktatur weit entfernt. Die Partei regiert in 12 von 28 Bundesstaaten. Vor allem in Südindien kommt die als Dominanz des Hindi-sprechenden Nordens empfundene Ideologie der BJP oft nicht gut an. Dort regieren zumeist breite Koalitionen regionaler Parteien – in Kerala sogar nach wie vor unter Führung der Kommunistischen Partei CPI(M), die auch in Tamil Nadu und Bihar an der Regierung beteiligt ist. 

In Indiens föderalem System sind daher einem autokratischen „Durchregieren“ enge Grenzen gesetzt, auch wenn Narendra Modi in diesem Jahr wieder die Parlamentswahlen gewinnen dürfte. Die Opposition wird dem Erfolg der BJP auch weiterhin einen lauten und beherzten Wahlkampf entgegensetzen. 

 

„Armut ist in Indien noch immer ein Riesenproblem“

Das stimmt. Indien hat zahlenmäßig nach wie vor die meisten armen Menschen weltweit. Aber das Land hat einen weiten Weg zurückgelegt. Nach UN-Angaben ist die Zahl der Menschen in Armut in Indien in nur 15 Jahren zwischen 2005/06 und 2021 um 415 Millionen gesunken. Das geht aus dem weltweiten Armutsindex hervor, den das Entwicklungsprogramm der UN und die Oxford Initiative zu Armut und menschlicher Entwicklung herausgibt. 

Auch der Anteil der in extremer Armut lebenden Menschen an der Bevölkerung ist nach Angaben der Weltbank gesunken: von 18,7 Prozent im Jahr 2015 auf 12 Prozent im Jahr 2021. Das ist teils auf die großzügigen Sozialtransfers für die Ärmsten durch die Regierung zurückzuführen. Eines der größten Programme wurde während der Covid-19-Pandemie aufgelegt; es versorgte mehr als 813 Millionen Menschen, also mehr als die Hälfte der Bevölkerung, mit kostenlosem Getreide.

Indiens anhaltend hohes Wirtschaftswachstum spielt dabei eine wichtige Rolle. Das Land gehörte in den vergangenen zehn Jahren mit einem durchschnittlichen Wachstum von 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Nach Auffassung von Ökonomen müsste diese Quote allerdings schneller steigen, um die nach wie vor wachsende Bevölkerung in den Arbeitsmarkt zu integrieren und, wie von Modi geplant, bis 2047 den Status eines entwickelten Landes zu erreichen.

Denn die Früchte des Wachstums sind noch immer ungleich verteilt. Zwar haben im vergangenen Jahrzehnt Millionen Inderinnen und Inder den Aufstieg in die Mittelklasse geschafft. Nach Angaben der ­Denkfabrik People Research on India’s Consumer Economy gehört die Mittelschicht – bestehend aus Menschen mit einem jährlichen Familieneinkommen von 500 000 bis drei Millionen Rupien (5500 bis 33 000 Euro) – zu den am schnellsten wachsenden Einkommensgruppen seit Modis Amtsantritt 2014. Danach zählen heute rund 520 Millionen Menschen zur Mittelschicht, im Vergleich zu 300 Millionen im Jahr 2014. Doch auch das oberste Einkommenssegment der Reichen ist kräftig gewachsen, von 30 auf 90 Millionen Menschen.

Im Vergleich dazu ist die Arbeitslosenquote konstant geblieben, was zeigt, dass die Politik der Regierung nach wie vor einen relevanten Teil der indischen Bevölkerung nicht erreicht. Nach Zahlen des Centre for Monitoring Indian Economy lag die Arbeitslosenquote im Herbst 2023 zum ersten Mal seit der Pandemie über 10 Prozent. Unter den jungen Menschen zwischen 15 und 34 Jahren waren danach sogar 45,4 Prozent erwerbslos. Dabei sind die Arbeitslosenzahlen in Indien regelmäßig unzuverlässig, da nach Angaben der Hilfsorganisation Oxfam rund 86 Prozent der Arbeitskräfte im informellen Sektor beschäftigt sind.            

 

„Frauen haben in Indien nach wie vor nichts zu sagen“

Das ist Unsinn. Indien hatte bereits 1966 mit Indira Gandhi eine mächtige Premierministerin. Unter Premier Modi haben Frauen das Außenministerium (Sushma Swaraj), das Verteidigungsministerium (die jetzige Finanzministerin Nirmala Sitharaman) und zahlreiche andere Ressorts bekleidet. Als CEOs führen Frauen inzwischen viele Großunternehmen in Indien, darunter Sharmistha Dubey (Match-Gruppe), Revathi Advaithi (Flex), Jayshree Ullal (Arista Networks), Sonia Syngal (Gap Inc.), Anjali Sud (Vimeo), Priya Lakhani (Century Tech), Padmasree Warrior (Fable), Reshma Kewalramani (Vertex Pharmaceuticals), Roshni Nadar Malhotra (HCL) und Zarin Daruwala (Standard Chartered Bank). 

Doch wie überall im Patriarchat haben Frauen auch in Indien spezifische Probleme, die in Kultur und Geschichte begründet liegen. So hat Indien die niedrigste Frauenerwerbsquote in ganz Südasien. Diese Zahl ist in den vergangenen Jahren sogar noch einmal von 25 Prozent in 2015 auf 24 Prozent im Jahr 2022 gesunken. Nach Auffassung der Weltbank geht dem Land dadurch rund 1,5 Prozent an Wirtschaftswachstum verloren. Und im Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums von 2023 rangiert Indien auf Platz 127 von 146 Ländern.

Das traditionelle Frauenbild sitzt in Teilen der Gesellschaft tief, und in Zeiten von hoher Arbeitslosigkeit werden Jobs eher an Männer als an Frauen vergeben. Und dann ist da noch das Thema Sicherheit, das eine Rolle spielt, wenn Frauen es vorziehen, zuhause zu bleiben. Das beunruhigt auch die Regierung. Premier Modi hat mehrfach dazu aufgerufen, „alles abzuschaffen, was Frauen im Alltag erniedrigt“. Schon bei seinem Amtsantritt hatte er die hohe Zahl an Vergewaltigungen in Indien als „Schande“ bezeichnet. Und die Gewalt gegen Frauen ist in den vergangenen Jahren weiter gewachsen: Nach Angaben des National Crime Records Bureau stieg die Zahl der Fälle zwischen 2020 und 2021 um 15,3 Prozent.

 

„In Narendra Modis Indien sind Muslime Bürger zweiter Klasse“

Formal sind sie das nicht; die indische Verfassung garantiert nach wie vor Religionsfreiheit. Doch die Situation der Muslime ist aus verschiedenen Gründen prekär. Das liegt vor allem an drei Faktoren: strukturelle Armut, mangelnde politische Repräsentanz und ein veränderter politischer Diskurs.

Nach einer von der ­Hindustan Times 2023 veröffentlichten Datenanalyse des All India Debt and Investment Survey (AIDIS) und des Periodic Labour Force Survey (PLFS) verfügen Muslime über „das niedrigste Vermögens- und Konsumniveau unter den großen religiösen Gruppen“ in Indien. Sie seien „die ärmste religiöse Gruppe im Land [und] überbevölkern die Reihen der Armen“. Das Problem ist nicht neu. Bereits 2010 stellte ein Bericht des Nationalen Rates für Wirtschaftsforschung fest, dass 31 Prozent der Muslime unterhalb der Armutsgrenze lebten. 

Dieses Schicksal teilen sie mit anderen benachteiligten Klassen der Gesellschaft, wie der Index der mehrdimensionalen Armut des UN-Entwicklungsprogramms zeigt. Danach ist jeder dritte Muslim und jeder dritte Angehörige der niedrigsten Kasten arm. Die Beendigung dieser strukturellen Armut gehört zu den großen Aufgaben der indischen Politik in den nächsten Jahrzehnten.

Dabei dürfte es ein Hindernis sein, dass derzeit kein Muslim ein Ministeramt oder ein anderes hohes Staatsamt bekleidet, obwohl Muslime rund 15 Prozent der Bevölkerung Indiens ausmachen. Das war noch unter der BJP-geführten Regierung von Premierminister Atal Bihari Vajpayee anders. Von 2002 bis 2007 war der renommierte Physiker Abdul Kalam indischer Präsident. Doch seit die hindunationalistische BJP nicht mehr auf Koalitionspartner angewiesen ist, scheint sie sich weniger Mühe zu geben, Teile der Gesellschaft an Bord zu holen, von denen sie sich kaum Wählerstimmen verspricht.

Damit haben sich auch der politische Diskurs und das Selbstverständnis Indiens geändert. Ideologisch hat in den vergangenen Jahren der Gründervater der hindunationalistischen Bewegung Vinayak Damodar Savarkar eine Renaissance erlebt. In seinem Buch „Hindutva“ von 1923 vertritt er die Auffassung, dass Indien für Muslime und Christen keine Heimat sein könne, da deren heilige Stätten im Ausland liegen. Daraus leiten einige Organisationen innerhalb der Bewegung einen Freifahrtschein für Gewalt gegen Muslime ab, und die mehr als 1000-jährige Geschichte teils gewalttätiger islamischer Eroberungen auf dem Subkontinent dienen ihnen als Rechtfertigung. 

 

„Indien gehört zu den größten Klimasündern weltweit“

Kommt darauf an, wie man es berechnet. In der Tat ist das Land nach China und den USA der drittgrößte Kohlendioxid­emittent der Welt. Aufgrund seiner großen, vergleichsweise armen Bevölkerung sind die Pro-Kopf-Emissionen jedoch viel geringer als in anderen großen Volkswirtschaften. 2021 stieß Indien 2,8 Tonnen CO2 pro Kopf der Bevölkerung aus, verglichen mit 16,6 Tonnen für die USA und 9,6 Tonnen für China. Indiens kumulierte CO2-Schulden seit 1850 liegen ebenfalls weit unterhalb derer der USA, Europas und Chinas. Daraus leitet Indien das Recht ab, auch weiterhin seine heimische Kohle zu verfeuern.

Im Vorfeld der Klimakonferenz COP 28 in Dubai 2023 erklärte Außenminister Vinay Kwatra auf einer Pressekonferenz in Neu-Delhi, dass Indien aus wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Gründen noch nicht aus der Kohle aussteigen könne. „Die Entwicklungsländer sind für ihre Entwicklung auf Kohle angewiesen“, sagt Promit Mookherjee von der Observer Research Foundation (ORF). Die Kosten der Technologie für die Energiewende seien so hoch, dass der Ausstieg aus der Kohle zu Energiearmut führen würde. „Die Dekarbonisierung sollte gerecht sein“, so Mookherjee.

Daher hat Indien sich nicht den 118 Ländern angeschlossen, die auf der COP 28 die „Globale Zusage für erneuerbare Energien und Energieeffizienz“ unterzeichneten, die darauf abzielt, die weltweite Kapazität zur Erzeugung erneuerbarer Energien bis 2030 auf 11 000 GW zu verdreifachen. Indien hat auch gefordert, dass das Konzept der Klimagerechtigkeit in künftige Klimaschutzpläne aufgenommen wird. Dieses Konzept erkennt die ungleiche Belastung der verschiedenen Länder durch den Klimawandel an und stellt gleichzeitig sicher, dass jedes Land von den Ergebnissen der gemeinsamen Klimapolitik profitieren kann.

Bei der Eröffnung der COP 28 wurde der seit Langem diskutierte Fonds für Schäden und Verluste (Loss and Damage Fund, LDF) in Betrieb genommen. Der LDF wird durch Zusagen von mehr als einem Dutzend wohlhabender Länder wie den USA, Großbritannien und Deutschland finanziert, um ärmere Länder zu entschädigen, die durch die Auswirkungen von Katastrophen infolge des Klimawandels geschädigt wurden. Die ersten Zusagen für den LDF belaufen sich auf rund 672 Millionen Euro, was nach Ansicht vieler nicht ausreicht. Indien hat es bisher abgelehnt, einen finanziellen Beitrag zum Fonds zu leisten, da seine hohen Emissionen erst vor Kurzem entstanden seien, und beruft sich auf die „historische Verantwortung“ der Industrieländer, für Klimaschäden aufzukommen. 

Dennoch hat Indien sich verpflichtet, 50 Prozent seines Energiebedarfs bis 2030 aus erneuerbaren Energien zu produzieren. Bis 2070 will das Land gar kein CO2 mehr ausstoßen.

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2024, S. 112-117

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren

Britta Petersen ist Leiterin des Südasien-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi.

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.